Strafrecht

Erfolglose Klage eines Asylberechtigten gegen seine Ausweisung

Aktenzeichen  M 12 K 16.1829

Datum:
20.10.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG AufenthG § 11 Abs. 1, Abs. 2 S. 1, Abs. 3 S. 1, 2, Abs. 8, § 53 Abs. 1 – 3, § 54 Abs. 1 Nr. 1, Nr. 1a, § 55 Abs. 1 Nr. 1, § 58 Abs. 1 S. 1, Abs. 3 Nr. 1, Nr. 3, § 59 Abs. 1, § 60 Abs. 8
AsylG AsylG § 3
EMRK EMRK Art. 8 Abs. 1, Abs. 2
GG GG Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1, Art. 6 Abs. 1, 2, Art. 20 Abs. 3
ARB 1/80 ARB 1/80 Art. 13, Art. 14 Abs. 1
ENA Art. 3 Abs. 1, Abs. 3

 

Leitsatz

1. Eine Ausweisung kann ihren ordnungsrechtlichen Zweck sowohl unter spezialpräventiven als auch unter generalpräventiven Gesichtspunkten auch dann erreichen, wenn sie nur zu einer Verschlechterung der aufenthaltsrechtlichen Position eines Ausländers im Bundesgebiet führt. (redaktioneller Leitsatz)
2. Ein absolutes Recht auf Nichtausweisung kann aus Art. 8 Abs. 1 EMRK nicht abgeleitet werden. (redaktioneller Leitsatz)
3. Der Maßstab für den besonderen Ausweisungsschutz nach dem Europäischen Niederlassungsabkommen deckt sich mit den Vorgaben, die für eine Ausweisung assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehöriger gelten und stellt keine höheren Anforderungen. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Die Klage wird abgewiesen.
II.
Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die zulässige Klage ist unbegründet. Der Bescheid des Beklagten vom 21. März 2016 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).
I.
Die Ausweisung des Klägers aus der BRD durch den Beklagten ist nicht zu beanstanden.
Maßgeblicher Zeitpunkt zur rechtlichen Überprüfung der Ausweisung sowie der weiteren durch den Beklagten getroffenen Entscheidungen ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (vgl. nur BVerwG, U.v. 30.7.2013 – 1 C 9.12 – juris Rn. 8; U.v. 10.7.2012 – 1 C 19.11 – juris Rn. 12). Dabei beurteilt sich die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheids nach dem Aufenthaltsgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 25. Februar 2008 (BGBl. I S. 162), das durch die Art. 5, 8 Abs. 6, 6 des Integrationsgesetzes vom 31. Juli 2016 (BGBl. I S. 1939) geändert worden ist. Hiernach ist die Entscheidung über eine Ausweisung stets eine gerichtlich voll überprüfbare Rechtsentscheidung (vgl. BT-Drs. 18/4097, S. 49; BR-Drs. 612/14, S. 56; VG Ansbach, U.v. 28.1.2016 – AN 5 K 15.00416 – juris Rn. 42).
Die Ausweisungsentscheidung des Beklagten ist rechtmäßig.
Die Ausweisung des Klägers ist rechtmäßig, da das persönliche Verhalten des Klägers gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, so dass die Ausweisung für die Wahrung dieses Interesses unerlässlich ist (§ 53 Abs. 3 AufenthG) und die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Klägers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt (§ 53 Abs. 1 AufenthG).
1. Dem Kläger wurde mit Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 29. Januar 1996 die Rechtsstellung eines ausländischen Flüchtlings nach § 3 AsylG zuerkannt. Mit Bescheid vom 3. Mai 2016 widerrief das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge die Anerkennung des Klägers als Asylberechtigter. Dieser Bescheid ist allerdings wegen der beim Verwaltungsgericht Regensburg anhängigen Klage noch nicht rechtskräftig. Der Kläger kann daher gemäß § 53 Abs. 3 AufenthG nur aus spezialpräventiven Gründen ausgewiesen werden unabhängig davon, ob ihm dieser Status im Hinblick auf § 60 Abs. 8 AufenthG rechtmäßig zuerkannt wurde. Der Beklagte hat seine Ausweisung auf spezialpräventive Gründe gestützt.
Eine Ausweisung ist auch grundsätzlich zulässig, obwohl der Kläger aufgrund der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht abgeschoben werden darf (vgl. BVerwG, U.v. 30.7.2013 – 1 C 9/12 – juris Rn. 24; BVerwG, U.v. 31.8.2004 – 1 C 25/03 – juris Rn. 20). Eine Ausweisung kann ihren ordnungsrechtlichen Zweck sowohl unter spezialpräventiven als auch unter generalpräventiven Gesichtspunkten auch dann erreichen, wenn sie nicht zu einer Abschiebung des Ausländers in sein Heimatland, sondern nur zu einer Verschlechterung seiner aufenthaltsrechtlichen Position im Bundesgebiet führt.
Das persönliche Verhalten des Klägers stellt gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung dar, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt.
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts haben Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte bei spezialpräventiven Ausweisungsentscheidungen und deren gerichtlicher Überprüfung eine eigenständige Prognose zur Wiederholungsgefahr zu treffen. Dabei sind sie an die Feststellungen und Beurteilungen der Strafgerichte rechtlich nicht gebunden. Bei der Prognose, ob eine Wiederholung vergleichbarer Straftaten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit droht, sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt. Für die Feststellung der entscheidungserheblichen Wiederholungsgefahr gilt ein differenzierender Wahrscheinlichkeitsmaßstab, wonach an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts umso geringere Anforderungen zu stellen sind, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist (BVerwG, U.v. 4.10.2012 – 1 C 13.11 – juris Rn. 18). Der Rang des bedrohten Rechtsguts kann nicht außer Acht gelassen werden, denn dieser bestimmt die mögliche Schadenshöhe. Das bedeutet aber nicht, dass bei hochrangigen Rechtsgütern bereits jede auch nur entfernte Möglichkeit einer Wiederholungsgefahr genügt. An die nach dem Ausmaß des möglichen Schadens differenzierende hinreichende Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts dürfen keine zu geringen Anforderungen gestellt werden (BVerwG, U.v. 10.7.2012, a. a. O.).
Unter Berücksichtigung dieser Vorgaben ist die Kammer zu der Überzeugung (§ 108 Abs. 1 VwGO) gelangt, dass eine hinreichend konkrete Wahrscheinlichkeit für eine erneute Verletzung der Rechtsgüter Leben und körperliche Unversehrtheit und entsprechender schwerer Straftaten durch den Kläger vorliegt. Es besteht damit also gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt und damit die Ausweisung unerlässlich macht.
Es würde eine hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft darstellen, wenn der Kläger erneut eine Straftat begehen würde, die mit der der Ausweisung zugrunde liegenden vergleichbar ist (vgl. BayVGH, U.v. 3.2.2015 – 10 BV 13.421 – juris Rn. 57). Unter Berücksichtigung der vom Kläger bei seinen Taten gezeigten kriminellen Energie ist eine konkrete Wiederholungsgefahr beim Kläger gegeben. Der Kläger hatte aus nichtigem Anlass, weil er sich durch den Rauswurf aus der Diskothek beleidigt gefühlt hatte, versucht den Geschädigten, tödlich zu verletzen. Dabei zeigt sich seine Gefährlichkeit insbesondere darin, dass er, als sein erster Versuch, einen Türsteher zu provozieren und dann anzugreifen misslang, seinen Plan fortsetzte und sich einfach ein anderes Opfer suchte. Auch die Vorbereitung durch den Kauf der Flaschen und Abschlagen der Flaschenhälse zeigt, dass es sich nicht um eine impulsive Spontantat handelte, sondern der Kläger mit großer krimineller Energie vorging. Eine schwerere bis tödliche Verletzung konnte nur durch die Reaktionsschnelligkeit des Geschädigten vermieden werden. Seit 2002 ist der Kläger über Jahre hinweg straffällig gewesen. Die Liste seiner Vorstrafen umfasst verschiedenartige Delikte mit im Hinblick auf die Schwere steigender Tendenz. Viele der abgeurteilten Taten sind von einer großen Brutalität und Aggressivität gekennzeichnet. So schlug er bereits 2005 mit einem scharfkantigen Gegenstand in der Hand zu, 2007 mit einem Messer. 2009 warf er einer anderen Person ein Glas an den Kopf, 2009 versuchte er jemanden mit einem Aschenbecher zu schlagen. Zudem war der Kläger in der JVA … disziplinarisch auffällig und verbüßte 61 Tage Arrest. Im Urteil vom … Juni 2005 hat das Strafgericht festgehalten, dass der Kläger einen persönlichen Entwicklungs- und Erkenntnisprozess durchlebt hat, ihm klar geworden ist, dass er ohne professionelle Hilfe aufgrund seines vorhandenen Aggressionspotentials nicht zurechtkommt, er einer Therapie bedarf und diese durchführen will. Es ist allerdings nicht absehbar, ob der Kläger eine Therapie erfolgreich abschließen wird. Nach eigener Aussage in der mündlichen Verhandlung hat er weder eine Gewalt- noch eine Suchttherapie in der JVA begonnen. Schon deshalb kann nicht von einem Entfallen der Wiederholungsgefahr ausgegangen werden. Zudem kann gerade nicht vorausgesagt werden, ob der Kläger die Therapie erfolgreich beenden und aufgrund dessen beim Kläger tatsächlich keine Wiederholungsgefahr mehr bestehen wird. Daher kann derzeit weder von Drogenfreiheit noch von einer Aufarbeitung der Taten und damit von einem Entfallen der Wiederholungsgefahr die Rede sein. Der Beklagte ist nicht verpflichtet, den Verlauf einer begonnenen Therapie oder gar den Verlauf der Strafhaft abzuwarten, bevor er über eine Ausweisung entscheidet (vgl. BVerwG, B.V. 15.4.2013 – 1 B 22.12 – juris).
2. Die bei Vorliegen einer tatbestandsmäßigen Gefährdungslage i. S. d. § 53 Abs. 3 AufenthG zu treffende Abwägung ergibt, dass das Ausweisungsinteresse das Bleibeinteresse des Klägers überwiegt.
a) § 53 AufenthG gestaltet die Ausweisung als Ergebnis einer umfassenden, ergebnisoffenen Abwägung aller Umstände des Einzelfalls unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes aus. Sofern das öffentliche Interesse an der Ausreise das Interesse des Ausländers am Verbleib im Bundesgebiet nach dieser Gesamtabwägung überwiegt, ist die Ausweisung rechtmäßig. In die Abwägung nach § 53 Abs. 1 AufenthG sind die in §§ 54, 55 AufenthG vorgesehenen Ausweisungs- und Bleibeinteressen mit der im Gesetz vorgenommenen grundsätzlichen Gewichtung einzubeziehen. Neben den dort explizit aufgeführten Interessen sind aber noch weitere, nicht ausdrücklich benannte sonstige Bleibe- oder Ausweisungsinteressen denkbar. Die Katalogisierung in den §§ 54, 55 AufenthG schließt die Berücksichtigung weiterer Umstände nicht aus (BT-Drs. 18/4097, S. 49). Nach § 53 Abs. 2 AufenthG sind bei der Abwägung nach den Umständen des Einzelfalles insbesondere die Dauer des Aufenthalts, die persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen des Ausländers im Bundesgebiet und im Herkunftsstaat, die Folgen der Ausweisung für Familienangehörige und Lebenspartner sowie die Tatsache, ob sich der Ausländer rechtstreu verhalten hat, zu berücksichtigen. Die Aufzählung der in § 53 Abs. 2 AufenthG genannten Kriterien ist aber nicht abschließend (BT-Drs. 18/4097, S. 50). Es sind für die Überprüfung der Verhältnismäßigkeit der Ausweisung maßgeblich auch die Kriterien des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte heranzuziehen (vgl. nur EGMR, U.v. 18.10.2006 – Üner, Nr. 46410/99 – juris; EGMR, U.v. 2.8.2001 – Boultif, Nr. 54273/00 – InfAuslR 2001, 476-481). Hiernach sind vor allem die Art und die Schwere der vom Ausländer begangenen Straftaten, die Dauer des Aufenthaltes in dem Land, aus dem er ausgewiesen werden soll, die seit der Begehung der Straftat verstrichene Zeit und das seitherige Verhalten des Ausländers, die Staatsangehörigkeit der betroffenen Personen, die familiäre Situation des Ausländers, ob zu der Familie Kinder gehören und welches Alter diese haben, sowie die Ernsthaftigkeit der Schwierigkeiten, welche die Familienangehörigen voraussichtlich in dem Staat ausgesetzt wären, in den der Ausländer ausgewiesen werden soll, die Belange und das Wohl der Kinder und die Stabilität der sozialen, kulturellen und familiären Bindungen zum Gastland und zum Zielland zu berücksichtigen (VG Oldenburg, U.v. 11.1.2016 – 11 A 892/15 – juris Rn. 24).
b) Im Hinblick auf den Kläger besteht ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse i. S. d. § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG sowie ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse i. S. d. § 54 Abs. 1 Nr. 1 a AufenthG. Denn er wurde 2013 wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von elf Jahren verurteilt.
c) Dem besonders schwerwiegenden Ausweisungsinteresse steht ein besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse nach § 55 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG gegenüber. Denn der Kläger besitzt einen unbefristeten Aufenthaltstitel und hält sich seit nunmehr über 25 Jahren im Bundesgebiet auf.
d) Die nach § 53 Abs. 1, Abs. 2 AufenthG durchzuführende Gesamtabwägung ergibt unter Berücksichtigung der §§ 54, 55 AufenthG und unter besonderer Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, dass die Ausweisung des Klägers rechtmäßig ist, weil das Ausweisungsinteresse das Bleibeinteresse überwiegt.
Im Rahmen einer umfassenden Gesamtabwägung nach § 53 Abs. 1 AufenthG unter Berücksichtigung aller Einzelfallumstände kann festgestellt werden, ob das Interesse an der Ausweisung das Bleibeinteresse überwiegt (vgl. BT-Drs. 18/4097, S. 49). Vorliegend überwiegt das besonders schwere Ausweisungsinteresse i. S. d. § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG bzw. § 54 Abs. 1 Nr. 1 a AufenthG die Interessen des Klägers an einem Verbleib in der BRD, insbesondere sprechen Art. 6 GG und Art. 8 EMRK nicht gegen die Ausweisung des Klägers.
Ein besonders schweres Ausweisungsinteresse ist schon dann gegeben, wenn der Ausländer wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens zwei Jahren bzw. wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr, sofern die Straftat mit Gewalt verübt worden ist, verurteilt worden ist. Die gegen den Kläger verhängte Strafe beläuft sich auf das fünfeinhalbfache bzw. zehneinhalbfache des vom Gesetzgeber für ein besonders schweres Ausweisungsinteresse vorgesehenen Mindestmaßes.
Ergänzend ist bei der Gewichtung des Ausweisungsinteresses zu sehen, dass die Verurteilung, die der Beklagte zum Anlass für die Ausweisung genommen hat, die letzte in einer Kette von strafrechtlichen Verfehlungen ist, die dem Kläger zur Last zu legen sind. Erstmals wurde er im Jahr 2002 wegen Raubes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung in Tateinheit mit fünf tatmehrheitlichen Fällen des Diebstahls in Tateinheit mit Fahren ohne Fahrerlaubnis, sachlich zusammentreffend mit unerlaubtem Entfernen vom Unfallort, rechtlich zusammentreffend mit Fahren ohne Fahrerlaubnis zur Verantwortung gezogen. 2005 erfolgte eine zweite Verurteilung wegen vorsätzlicher Körperverletzung, gefährlicher Körperverletzung und vorsätzlicher Trunkenheit im Straßenverkehr in Tateinheit mit vorsätzlichem Fahren ohne Fahrerlaubnis. 2007 verhängte das Strafgericht eine Freiheitsstrafe von sechs Monaten wegen gefährlicher Körperverletzung sowie Diebstahls. 2009 wurde der Kläger wegen Widerstands gegen einen Vollstreckungsbeamten in Tateinheit mit Beleidigung zu einer Freiheitsstrafe von vier Monaten verurteilt. Ebenfalls 2009 wurde der Kläger zu acht Monaten Freiheitsstrafe wegen gefährlicher Körperverletzung verurteilt. 2010 folgte eine Verurteilung wegen fahrlässiger Körperverletzung in Tateinheit mit versuchter gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von acht Monaten. Die Delikte weisen eine große Bandbreite auf. Der Kläger ist in regelmäßigen Abständen straffällig geworden und zeigte sich unbeeindruckt von drohenden Konsequenzen. Weder die Bewährungszeit noch die Haftstrafen konnten den Kläger davon abhalten, straffällig zu werden. Die verschiedenartigen Delikte deuten darauf hin, dass der Kläger generell nicht gewillt ist, die Rechtsordnung zu achten. Es bestehen keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür, dass dem Kläger daran gelegen ist, sich zukünftig rechtstreu zu verhalten.
Die insgesamt im Verhalten des Klägers zum Ausdruck kommende Gleichgültigkeit gegenüber Rechten anderer und die dauerhafte Missachtung der deutschen Rechtsordnung sprechen – trotz des langen Aufenthalts des Klägers in Deutschland – gegen seine gelungene Integration.
(1) Nach Art. 8 Abs. 1 EMRK hat jede Person das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens. Die Behörde darf nach Art. 8 Abs. 2 EMRK in die Ausübung dieses Rechts nur eingreifen, soweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist für die nationale oder öffentliche Sicherheit, für das wirtschaftliche Wohl des Landes, zur Aufrechterhaltung der Ordnung, zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer. Da Art. 8 Abs. 2 EMRK eindeutig Ausnahmen von den in Art. 8 Abs. 1 EMRK zugesicherten Rechten vorsieht, kann aus Art. 8 Abs. 1 EMRK kein absolutes Recht auf Nichtausweisung abgeleitet werden (Bauer in Bergmann/Dienelt, AuslR, 11. Aufl. 2016, Vor §§ 53-56 AufenthG Rn. 96 ff.). Vielmehr bedarf es einer einzelfallbezogenen Verhältnismäßigkeitsprüfung, in die sämtliche Aspekte des Einzelfalls einzustellen sind.
Nach der wertentscheidenden Grundsatznorm des Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 GG hat der Staat die Pflicht, die Familie zu schützen und zu fördern. Jedoch ergibt sich auch hieraus kein unmittelbarer Anspruch auf Aufenthalt (vgl. nur BVerfG, B.v. 9.1.2009 – 2 BvR 1064/08 – juris Rn. 14). Vielmehr verpflichtet Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 GG die Ausländerbehörde wie auch die Gerichte, bei der Entscheidung über aufenthaltsbeendende Maßnahmen die familiären Bindungen des Klägers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen bei der Entscheidung zu berücksichtigen (BVerfG, B.v. 23.1.2006 – 2 BvR 1935/05 – juris – Rn. 16; BVerfG, B.v. 9.1.2009 – 2 BvR 1064/08 – juris Rn. 14). Insofern beanspruchen die oben zu Art. 8 EMRK genannten Kriterien auch Geltung für die Beantwortung der Frage, ob der vorliegende Eingriff verhältnismäßig im Sinne von Art. 6 GG, Art. 2 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 20 Abs. 3 GG ist.
(2) Dem Kläger ist der Status eines faktischen Inländers zuzuerkennen, wonach die Ausweisung von Ausländern, die aufgrund ihrer gesamten Entwicklung faktisch zu Inländern geworden sind und denen wegen der Besonderheiten des Falles ein Leben im Staat ihrer Staatsangehörigkeit, zu dem sie keinen Bezug haben, nicht zuzumuten ist, den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verletzen kann (BVerwG, U.v. 29.9.1998 – 1 C 8/96 – juris Rn. 30). Obwohl der Kläger seit seinem vierten Lebensjahr ununterbrochen in Deutschland gelebt hat, erscheint eine Verweisung auf ein Leben in seinem Heimatland nicht unzumutbar. Der Kläger ist in der Türkei geboren und hat dort bis zu seiner Einreise in das Bundesgebiet im Januar 1989 mit seiner Familie gelebt. Es kann daher davon ausgegangen werden, dass der Kläger seinem Heimatland nicht völlig fremd gegenübersteht, sondern über seine Eltern die Kultur seines Heimatlandes kennengelernt hat und mit ihr vertraut ist. Der Kläger hat türkische Sprachkenntnisse auf Schulniveau. Das Gericht geht deshalb davon aus, dass der Kläger die türkische Sprache in Wort und Schrift beherrscht und dem Aufbau einer Existenz in der Türkei daher auch keine unüberbrückbare sprachliche Barriere entgegensteht. Wenngleich der Kläger angibt, in der Türkei nur einen Bruder zu haben, dessen Verbleib unbekannt ist, so erscheint es ihm jedoch zumutbar, den Kontakt zu diesem wiederaufzunehmen, um zumindest einen ersten Anlaufpunkt bei einer Rückkehr in die Türkei zu haben. Darüber hinaus ist der Kläger als erwachsener Mann in der Lage, für sich selbst zu sorgen, und ist nicht mehr auf die Unterstützung seiner Eltern angewiesen. Daher wird sich der Kläger in seinem Heimatland eine neue Existenz aufbauen können.
(3) Weiter ist vor dem Hintergrund des Art. 8 EMRK und des Art. 6 GG zu berücksichtigen, dass große Teile der Familie des Klägers in Deutschland leben und er guten Kontakt zu diesen pflegt. Allerdings handelt es sich dabei nicht um die Kernfamilie des Klägers. Der Kläger ist volljährig und damit nicht mehr auf die Pflege und Unterstützung durch seine Mutter angewiesen. Es ist ihm zumutbar, telefonisch oder brieflich vom Ausland aus Kontakt zu halten. Damit steht die vorhandene Bindung der Ausweisung des Klägers nicht entgegen.
(4) Vor diesem Hintergrund, unter Berücksichtigung der Schwere der vom Kläger begangenen Taten und der immensen von ihm ausgehenden Wiederholungsgefahr fällt die nach § 53 Abs. 1, Abs. 2 AufenthG zu treffende Gesamtabwägung zulasten des Klägers aus. Das Ausweisungsinteresse überwiegt das Bleibeinteresse. Die Ausweisung steht auch mit Art. 8 EMRK im Einklang, da sie gesetzlich vorgesehen ist (§ 53 Abs. 1 AufenthG) und einen in dieser Bestimmung aufgeführten legitimen Zweck, nämlich die Verteidigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung und die Verhinderung von Straftaten, verfolgt. Die Ausweisung ist die geeignete, erforderliche und angemessene Maßnahme, um den beabsichtigten Zweck durchzusetzen. Durch ein anderes, milderes Mittel kann der mit ihr verfolgte Zweck vorliegend nicht erreicht werden. Im Ergebnis ist die Ausweisung des Klägers daher verhältnismäßig und rechtmäßig.
3. Es kann dahingestellt bleiben, ob der Kläger eine Aufenthaltsberechtigung nach dem ARB 1/80 erworben hat. Denn die Ausweisungsentscheidung des Beklagten stellt sich auch unter Berücksichtigung des durch Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 vermittelten besonderen Ausweisungsschutzes als rechtmäßig dar. Gemäß § 53 Abs. 3 AufenthG darf ein Ausländer, dem nach dem Assoziationsabkommen EWG/Türkei ein Aufenthaltsrecht zusteht nur ausgewiesen werden, wenn das persönliche Verhalten des Betroffenen gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt und die Ausweisung für die Wahrung dieses Interesses unerlässlich ist. In der Rechtsprechung ist auch geklärt, dass gegen die Anwendung der ab 1. Januar 2016 geltenden neuen Ausweisungsvorschriften auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige auch mit Blick auf Art. 13 ARB 1/80 (sog. Stillhalteklausel) keine Bedenken bestehen, weil sich die materiellen Anforderungen, unter denen diese Personen ausgewiesen werden dürfen, nicht zu ihren Lasten geändert haben und jedenfalls in der Gesamtschau eine Verschlechterung der Rechtspositionen eines durch Art. 13, 14 ARB 1/80 geschützten türkischen Staatsangehörigen nicht feststellbar ist (vgl. BayVGH, U.v. 8.3.2016 – 10 B 15.180 – juris Rn. 28; B.v. 13.5.2016 – 10 ZB 15.492 – juris Rn. 14; B. v. 11.7.2016 – 10 ZB 15.837 – Rn. 11 jeweils m. w. N.). Aus den aufgezeigten Gründen ist im vorliegenden Fall aber davon auszugehen, dass das persönliche Verhalten des Klägers eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt und die Ausweisung für die Wahrung dieses Interesses unerlässlich ist. (s.o.).
4. Die von dem Beklagten verfügte Ausweisungsentscheidung steht auch im Einklang mit Art. 3 Abs. 3 des Europäischen Niederlassungsabkommens vom 13. Dezember 1955 (ENA). Der Kläger kann sich zwar aufgrund seines über zehnjährigen ordnungsgemäßen Aufenthalts im Bundesgebiet auf den besonderen Ausweisungsschutz des Art. 3 Abs. 3 i. V. m. Abs. 1 ENA berufen, wonach eine Ausweisung nur aus besonders schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Ordnung erfolgen darf. Der Maßstab dieser Vorschrift deckt sich mit den Vorgaben, die für eine Ausweisung assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehöriger gelten und stellt keine höheren Anforderungen (vgl. BVerwG, U.v. 2. 9. 2009 – 1 C 2/09 – juris Rn. 15; BVerwG, U.v. 29. 9. 1998 – 1 C 8/96 – juris Rn. 43). Es besteht insbesondere kein qualitativer Unterschied zwischen den besonders schwerwiegenden Gründen i. S.v. § 53 Abs. 3 AufenthG und den besonders schwerwiegenden Gründen i. S.v. Art. 3 Abs. 3 ENA (BVerwG, U.v. 29. 9. 1998 – 1 C 8/96 – juris Rn. 43). Aus den aufgezeigten Gründen sind im vorliegenden Fall aber derart schwerwiegende Gründe anzunehmen (s.o.).
II.
Die Befristung der Wirkungen der Ausweisung in Nr. 3 des angegriffenen Bescheids auf sechs Jahre weist keine Rechtsfehler auf.
1. Die Ausweisung des Klägers hat gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG ein Wiedereinreise- und Aufenthaltsverbot zur Folge. Dieses ist von Amts wegen zu befristen, § 11 Abs. 2 Satz 1 AufenthG.
Nach § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG ist über die Länge der Frist nach Ermessen zu entscheiden. Sie darf gemäß § 11 Abs. 3 Satz 2 AufenthG fünf Jahre nur überschreiten, wenn der Ausländer aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist oder wenn von ihm eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht.
Da es sich um eine behördliche Ermessensentscheidung handelt, kann gerichtlich nach § 114 Satz 1 VwGO nur überprüft werden, ob überhaupt Ermessen ausgeübt wurde, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder ob von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht worden ist. Gemessen an diesem Maßstab hat der Beklagte sein Ermessen fehlerfrei ausgeübt.
2. Der Beklagte berücksichtigte bei der Bestimmung der Länge der Frist das Gewicht des Ausweisungsgrundes und den mit der Ausweisung verfolgten Zweck. Im Rahmen einer prognostischen Einschätzung des Einzelfalls und unter Berücksichtigung höherrangigen Rechts, also verfassungsrechtlicher Wertentscheidungen (Art. 2 Abs. 1, Art. 6 GG) und den Vorgaben aus Art. 8 EMRK kam er in nicht zu beanstandender Weise zu der in dem angegriffenen Bescheid verfügten Fristsetzung.
Der Beklagte durfte nach § 11 Abs. 3 Satz 2 AufenthG eine Frist von über fünf Jahren festsetzen, da der Kläger aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist und von ihm eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht. Der Beklagte berücksichtigte im Einzelnen, dass der Kläger schwere Straftaten begangen hat und von ihm eine massive Gefahr ausgeht. Unter Berücksichtigung all dieser Umstände ist es nicht zu beanstanden, dass der Beklagte im Rahmen seines Ermessens bei nachgewiesener Straffreiheit einen Zeitraum von sechs Jahren für erforderlich hielt, um dem hohen Gefahrenpotential des Klägers Rechnung tragen zu können.
Diese Fristen sind auch gemessen an den verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen und den Vorgaben des Art. 8 EMRK angesichts der Bedeutung der bedrohten Rechtsgüter und der erheblichen Wiederholungsgefahr nicht zu beanstanden. Gegebenenfalls bestehende besondere Härten können durch die Ausnahmegenehmigung nach § 11 Abs. 8 AufenthG gemildert werden.
III.
Die Abschiebung unmittelbar aus der Haft heraus im Falle des rechtskräftigen Widerrufs der Asylberechtigung ergibt sich aus § 58 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 Nr. 1 und Nr. 3 AufenthG. In diesem Fall bedarf es keiner Fristsetzung nach § 59 Abs. 1 AufenthG. Die Abschiebungsandrohung und die dem Kläger zur freiwilligen Ausreise gesetzte Frist für den Fall, dass er vor Durchführung der Abschiebung aus der Haft entlassen wird, ergeben sich aus §§ 58 Abs. 1 und 59 Abs. 1 AufenthG und sind ebenfalls nicht zu beanstanden.
IV.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2, Abs. 1 VwGO i. V. m. §§ 708 ff. Zivilprozessordnung (ZPO).


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