Strafrecht

Erfolgreiche Klage gegen die sofortige Vollziehbarkeit der Entziehung der Fahrerlaubnis

Aktenzeichen  11 CS 16.2561

Datum:
9.1.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
NZV – 2017, 198
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
StVG StVG § 3 Abs. 1 S. 1
FeV FeV § 11 Abs. 7, § 14 Abs. 2 Nr. 2, § 46 Abs. 3
Anlage 4 zur FeV Nr. 9.1, Nr. 9.5

 

Leitsatz

1 Bei einer Drogengefährdung ohne Anzeichen einer fortgeschrittenen Drogenproblematik kann die Fahreignung auch schon nach einem Drogenverzicht von sechs Monaten wiederhergestellt sein. (redaktioneller Leitsatz)
2 Dies ist denkbar, wenn ein Antragsteller Khat nur gelegentlich in seinem Heimatland konsumiert hat, wo es sich um eine legale Droge handelt, die bei gelegentlichem Konsum eine leicht aufputschende, euphorisierende Wirkung auf den Menschen ausübt, wenn zudem der Wirkstoffgehalt der Droge unklar ist und der Antragsteller im Inland bei straf- und verwaltungsbehördlichem Tätigwerden kooperativ war; bei in diesem Fall offenen Erfolgsaussichten ist es bei der Interessenabwägung des einstweiligen Rechtsschutzes zu  verantworten, ihn weiterhin am motorisierten Straßenverkehr teilnehmen zu lassen, bis die Fragen abschließend geklärt sind. (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

6 S 16.4216 2016-11-21 Bes VGMUENCHEN VG München

Tenor

I.
Der Beschluss des Verwaltungsgerichts München wird in den Ziffern II. und III. aufgehoben und die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid vom 8. September 2016 wiederhergestellt bzw. angeordnet.
II.
Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.
III.
Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf 7.500,- Euro festgesetzt.

Gründe

I. Der Antragsteller wendet sich gegen die sofortige Vollziehbarkeit der Entziehung seiner Fahrerlaubnis der Klasse B (einschließlich Unterklassen) und der Fahrerlaubnis zur Fahrgastbeförderung sowie der Verpflichtung zur Abgabe seines Führerscheins und Fahrgastbeförderungsscheins.
Bei der Einreise des Antragstellers in das Bundesgebiet aus Äthiopien kommend am 8. November 2015 fand die Bundespolizei 270 Gramm Khat in einem Koffer, den der Antragsteller mitführte. Er gab an, er habe keine Kenntnis davon gehabt, dass sich Khat in seinem Koffer befinde und das Khat gehöre seinem mit ihm reisenden Bruder. Die Staatsanwaltschaft Landshut sah mit Verfügung vom 22. Dezember 2015 nach § 31a Abs. 1 BtMG von der Verfolgung ab.
Das Landratsamt München (im Folgenden: Landratsamt) forderte den Antragsteller daraufhin mit Schreiben vom 18. März 2016 auf, ein ärztliches Gutachten einer Begutachtungsstelle für Fahreignung vorzulegen. Die ABV GmbH München stellte mit Gutachten vom 5. Juli 2016 fest, dass der Antragsteller derzeit keine Betäubungsmittel einnehme, aber im Zeitraum bis Oktober 2015 bei Aufenthalten in seinem Heimatland Äthiopien gelegentlich Khat eingenommen habe. Zwei kurzfristig anberaumte Urinkontrollen am 6. und 31. Mai 2016 zeigten keine Betäubungsmittelrückstände.
Daraufhin entzog ihm das Landratsamt mit für sofort vollziehbar erklärtem Bescheid vom 8. September 2016 die Fahrerlaubnis aller Klassen sowie die Fahrerlaubnis zur Fahrgastbeförderung und forderte ihn unter Androhung eines Zwangsgelds auf, seinen Führerschein und den Fahrgastbeförderungsschein binnen sieben Tagen nach Zustellung des Bescheids abzugeben. Der Antragsteller habe Betäubungsmittel konsumiert und sei daher nach Nr. 9.1 der Anlage 4 zur FeV ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen. Seit dem letzten Konsum im Oktober 2015 sei noch kein Jahr verstrichen, die Anordnung eines Drogenabstinenzprogramms sei daher nicht erforderlich. Ob der Antragsteller seinen Führerschein abgegeben hat, lässt sich den vorgelegten Behördenakten nicht entnehmen.
Über die gegen den Bescheid vom 8. September 2016 erhobene Klage hat das Verwaltungsgericht München noch nicht entschieden (M 6 K 16.4214). Den Antrag auf Wiederherstellung bzw. Anordnung der aufschiebenden Wirkung hat das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 21. November 2016 abgelehnt. Es stehe fest, dass der Antragsteller zuletzt im Oktober 2015 in seinem Heimatland Khat konsumiert habe. Daran müsse er sich festhalten lassen. Er sei daher nach Nr. 9.1 der Anlage 4 zur FeV fahrungeeignet. Die weiteren Urinuntersuchungen vom 10. Oktober 2016 und 8. November 2016 könnten nicht berücksichtigt werden, da sie zum einen nur eine Untersuchung nach Amphetaminen umfassten und auch nach Bescheiderlass erstellt worden seien.
Dagegen wendet sich der Antragsteller mit seiner Beschwerde, der der Antragsgegner entgegentritt. Der Antragsteller macht geltend, er habe bei der Begutachtung darüber belehrt werden müssen, dass er sich nicht selbst belasten müsse. Seine Angaben könnten nicht verwertet werden. Es liege ein Missverständnis vor und er habe im Oktober 2015 kein Khat konsumiert. Der Kläger habe seine Abstinenz durch weitere Urinuntersuchungen belegt. Nach dem letzten Konsum und dem Erlass des Bescheids hätten elf Monate gelegen.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten beider Instanzen und die vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.
II. Die zulässige Beschwerde ist begründet und die aufschiebende Wirkung der Klage ist wiederherzustellen bzw. anzuordnen, da die Erfolgsaussichten der Klage offen sind und die Interessenabwägung zugunsten des Antragstellers ausfällt.
Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 des Straßenverkehrsgesetzes vom 5. März 2003 (StVG, BGBl I S. 310), zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt des Bescheiderlasses zuletzt geändert durch Gesetz vom 24. Mai 2016 (BGBl I S. 1217), und § 46 Abs. 1 Satz 1 der Verordnung über die Zulassung von Personen zum Straßenverkehr vom 18. Dezember 2010 (Fahrerlaubnis-Verordnung – FeV, BGBl I S. 1980), zum Zeitpunkt des Bescheiderlasses zuletzt geändert durch Verordnung vom 2. Oktober 2015 (BGBl I S. 1674), hat die Fahrerlaubnisbehörde die Fahrerlaubnis zu entziehen, wenn sich deren Inhaber als ungeeignet oder nicht befähigt zum Führen von Kraftfahrzeugen erweist. Dies gilt insbesondere, wenn Erkrankungen oder Mängel nach den Anlagen 4, 5 oder 6 der FeV vorliegen oder erheblich oder wiederholt gegen verkehrsrechtliche Vorschriften oder Strafgesetze verstoßen wurde (§ 46 Abs. 1 Satz 2 FeV). Werden Tatsachen bekannt, die Bedenken begründen, dass der Inhaber einer Fahrerlaubnis zum Führen eines Kraftfahrzeugs ungeeignet oder bedingt geeignet ist, finden die §§ 11 bis 14 FeV entsprechend Anwendung (§ 46 Abs. 3 FeV).
Nach Nr. 9.1 der Anlage 4 zur FeV ist ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen, wer Betäubungsmittel im Sinne des Betäubungsmittelgesetzes (ausgenommen Cannabis) einnimmt. Steht die Einnahme von Betäubungsmitteln fest, muss die Fahrerlaubnis nach § 11 Abs. 7 FeV ohne weitere Aufklärungsmaßnahmen entzogen werden. Hier steht nach dem ärztlichen Gutachten vom 5. Juli 2016 fest, dass der Antragsteller zuletzt im Oktober 2015 in seinem Heimatland Khat konsumiert hat, das die unter das Betäubungsmittelgesetz fallenden Wirkstoffe Cathinon und Cathin enthält. An seinen Angaben gegenüber dem Gutachter muss sich der Antragsteller festhalten lassen, denn es ist nicht ersichtlich, dass er die Fragen bei der Begutachtung falsch verstanden haben könnte. Er hat auch bei seiner Vorsprache am 19. Juli 2016 und in dem Schreiben seines früheren Prozessbevollmächtigten vom 18. Juli 2016 den Konsum im Oktober 2015 nicht bestritten. Ein Recht zur Aussageverweigerung und eine dahingehende Belehrungspflicht existiert im Sicherheitsrecht nicht. Nach § 11 Abs. 8 Satz 1 FeV ist ein Fahrerlaubnisinhaber demgegenüber verpflichtet, an der Aufklärung von Fahreignungsbedenken mitzuwirken.
Im Entziehungsverfahren ist jedoch auch zu prüfen, ob der Fahrerlaubnisinhaber die Fahreignung wiedererlangt haben könnte. Nach Nr. 3.14.1 der Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung (Begutachtungsleitlinien – Berichte der Bundesanstalt für Straßenwesen, gültig ab 1.5.2014, zuletzt geändert durch Erlass des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur vom 3.3.2016 [VkBl 2016, 185]) können bei dem Konsum von Drogen die Voraussetzungen zum Führen von Kraftfahrzeugen nur dann wieder als gegeben angesehen werden, wenn der Nachweis geführt wird, dass kein Konsum mehr besteht. Dies ist bei einem Drogenkonsumenten nach Nr. 9.1 der Anlage 4 zur FeV entsprechend Nr. 9.5 der Anlage 4 zur FeV regelmäßig dann der Fall, wenn eine Abstinenz von einem Jahr und ein motivational gefestigter Verhaltens- und Einstellungswandel nachgewiesen werden. Wird eine einjährige Abstinenz nachgewiesen, hat die Behörde der Frage nachzugehen, ob die Kraftfahreignung wieder hergestellt ist (st. Rspr., vgl. BayVGH, B.v. 1.7.2015 – 11 CS 15.1151 – juris Rn.13 m. w. N.). Zutreffend haben das Landratsamt und das Verwaltungsgericht festgestellt, dass der Antragsteller bei Erlass des Entziehungsbescheids am 8. September 2016 eine einjährige Abstinenz weder nachgewiesen noch glaubhaft behauptet hat, da er selbst angegeben hat, im Oktober 2015 zuletzt Khat konsumiert zu haben.
Bei einer Drogengefährdung ohne Anzeichen einer fortgeschrittenen Drogenproblematik, die zu einem ausreichend nachvollziehbaren Einsichtsprozess und zu einem dauerhaften Drogenverzicht geführt hat, kann aber nach dem Kriterium D 3.4 N Nr. 1 der für die Begutachtungsstellen entwickelten Beurteilungskriterien (Urteilsbildung in der Fahreignungsbegutachtung, Hrsg.: Deutsche Gesellschaft für Verkehrspsychologie [DGVP]/Deutsche Gesellschaft für Verkehrsmedizin [DGVM], 3. Aufl. 2013, mit Schreiben des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur vom 27.1.2014 [VkBl 2014, 132] als aktueller Stand der Wissenschaft eingeführt, S. 190) die Fahreignung auch schon nach einem Drogenverzicht von sechs Monaten wiederhergestellt sein (vgl. SächsOVG, B.v. 28.10.2015 – 3 B 289/15 – juris Rn. 6; Uhle in Hettenbach/Kalus/Möller/Pießkalla/Uhle, Drogen und Straßenverkehr, 3. Auflage 2016, § 4 Rn. 233f.).
Gemessen daran sind die Erfolgsaussichten der Klage als offen anzusehen. Angesichts der besonderen Umstände des vorliegenden Einzelfalls kommt es hier in Betracht, dass die Behörde auch schon vor Ablauf des einjährigen Abstinenzzeitraums weitere Aufklärungsmaßnahmen hätte ergreifen und eine medizinisch-psychologische Untersuchung nach § 14 Abs. 2 Nr. 2 FeV hätte anordnen müssen. Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen, dass der Antragsteller glaubhaft angegeben hat, Khat nur gelegentlich in seinem Heimatland konsumiert zu haben, da dies dort legal sei und den sozialen Gepflogenheiten entspreche.
Bei der Interessenabwägung bei offenen Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs im Rahmen des § 80 Abs. 5 VwGO ist zugunsten des Antragstellers zu berücksichtigen, dass den Akten nicht entnommen werden kann, ob die bei der Einreise in seinem Koffer gefundenen 270 Gramm Khat seinem Bruder gehört haben, so wie der Antragsteller vor der Polizei angegeben hatte. In dem gegen den Antragsteller eingeleiteten Verfahren hat die Staatsanwaltschaft Landshut mit Verfügung vom 22. Dezember 2015 wohl ohne weitere Anhörung gemäß § 31a Abs. 1 BtMG von der Verfolgung abgesehen. Nach dem Polizeibericht wurde auch gegen den Bruder des Antragstellers ein Strafverfahren eingeleitet. Es ist aber nicht ersichtlich, ob der Bruder des Antragstellers zugegeben hat, dass die aufgefundenen Khatpflanzen ihm gehört haben. Des Weiteren ist aus den vorgelegten Akten auch nicht nachvollziehbar, welchen Cathinongehalt die mitgeführten Khatblätter hatten, da Khat durch längere Lagerung seine halluzinogene Wirkung verliert. Beim Welken, Trocknen, Lagern oder unsachgemäßen Verarbeiten wandelt sich das chemisch instabile Cathinon innerhalb weniger Tage fast vollständig zu dem schwächeren Cathin bzw. Ephedrin um (vgl. Patzak in Körner/Patzak/Volkmer, Betäubungsmittelgesetz, 8. Auflage 2016, Stoffe Rn. 347).
Es erscheint auch glaubhaft, dass der Antragsteller Khat nur gelegentlich in seinem Heimatland konsumiert hat, wo es sich um eine legale Droge handelt, die bei gelegentlichem Konsum eine leicht aufputschende, euphorisierende Wirkung auf den Menschen ausübt (vgl. Patzak a. a. O. Rn. 343). Darüber hinaus ist zugunsten des Antragstellers zu berücksichtigen, dass er sich sowohl bei der Zollkontrolle als auch im Verwaltungsverfahren kooperativ gezeigt und das vom Landratsamt geforderte ärztliche Gutachten vorgelegt hat. Die dort gemachten Angaben erscheinen glaubhaft und nachvollziehbar. Im Straßenverkehr ist der Antragsteller noch nie unter Betäubungsmitteleinfluss aufgefallen.
Angesichts der Tatsache, dass der Antragsteller als Fahrer eines Kleinbusses mit seiner Fahrerlaubnis und seinem Fahrgastbeförderungsschein den Lebensunterhalt für seine Familie erwirtschaftet, erscheint es auch glaubhaft, dass der Vorfall zu einem Einstellungswandel geführt hat und er in Zukunft kein Khat mehr konsumieren wird. Seine Abstinenz hat er durch Vorlage von zwei weiteren negativen Urinuntersuchungen im Oktober und November 2016 auch unter Beweis gestellt. Dass diese Untersuchungen nur auf Amphetamine beschränkt waren, mindert deren Beweiswert nicht, denn Cathinon sowie Cathin gehören zu den Amphetaminen (vgl. Patzak a. a. O. Rn. 338 ff.) und es besteht kein Verdacht auf den Konsum anderer Drogen.
Unter Berücksichtigung der für und gegen den Antragsteller sprechenden Umstände erscheint es daher zu verantworten, ihn weiterhin am motorisierten Straßenverkehr teilnehmen zu lassen, bis abschließend geklärt ist, ob im Verwaltungsverfahren in Anlehnung an das Kriterium D 3.4 N Nr. 1 der Beurteilungskriterien ausnahmsweise schon vor Ablauf des wie ohnehin nur knapp unterschrittenen einjährigen Abstinenzzeitraums entsprechend Nr. 9.5 der Anlage 4 zur FeV weitere Ermittlungen erforderlich gewesen wären.
Der Beschwerde war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben. Der Antragsteller wird darauf hingewiesen, dass das Gericht der Hauptsache die Entscheidung wegen veränderter Umstände jederzeit ändern oder aufheben kann (§ 80 Abs. 7 VwGO).
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 3, § 52 Abs. 1 GKG i. V. m. den Empfehlungen in Nrn. 1.5 Satz 1, 46.3 und 46.10 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013 (abgedruckt in Kopp/Schenke, VwGO, 22. Aufl. 2016, Anh. § 164 Rn. 14).
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).


Ähnliche Artikel


Nach oben