Strafrecht

Erlass einer einstweiligen Anordnung: DNA-Analyse gem § 81g StPO an 14-Jährigem – Fehlende einzelfallbezogene Ausführungen des Fachgerichts im Rahmen der Prognoseentscheidung – irreparable Nachteile infolge Vollziehung der angegriffenen Entscheidungen

Aktenzeichen  2 BvR 2392/12

Datum:
23.1.2013
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
Dokumenttyp:
Einstweilige Anordnung
ECLI:
ECLI:DE:BVerfG:2013:rk20130123.2bvr239212
Normen:
Art 1 Abs 1 GG
Art 2 Abs 1 GG
Art 2 Abs 2 S 1 GG
§ 32 Abs 1 BVerfGG
§ 14 JGG
§ 176 Abs 1 StGB
§ 81g Abs 1 S 1 StPO
Spruchkörper:
2. Senat 3. Kammer

Verfahrensgang

vorgehend LG Erfurt, 14. September 2012, Az: 6 Qs 218/12, Beschlussvorgehend AG Erfurt, 3. Juli 2012, Az: 45 Gs 237/12, Beschlussvorgehend AG Erfurt, 9. März 2012, Az: 45 Gs 237/12, Beschlussnachgehend BVerfG, 2. Juli 2013, Az: 2 BvR 2392/12, Stattgebender Kammerbeschluss

Tenor

1. Die Vollziehung der Beschlüsse des Amtsgerichts Erfurt vom 9. März 2012 und vom 3. Juli 2012 – 45 Gs 237/12 – und des Landgerichts Erfurt vom 14. September 2012 – 6 Qs 218/12 – wird bis zu einer Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde – längstens für die Dauer von sechs Monaten – ausgesetzt.
2. …

Gründe

I.
1
1. Der Beschwerdeführer wurde durch Urteil des Amtsgerichts Arnstadt vom 1. November 2011 wegen sexuellen Missbrauchs von
Kindern verwarnt, und ihm wurden 60 Stunden gemeinnütziger Arbeit auferlegt. Nach den getroffenen Feststellungen hatte der
zum Tatzeitpunkt 14-jährige Beschwerdeführer eine – wie er wusste – zum Tatzeitpunkt 13-jährige Klassenkameradin am Hals geküsst,
so dass ein sogenannter “Knutschfleck” deutlich sichtbaren Ausmaßes entstand, und ihr darüber hinaus mehrfach mit seinen Händen
an das bedeckte Geschlechtsteil gegriffen.

2
2. Mit Beschluss vom 9. März 2012 ordnete das Amtsgericht Erfurt aufgrund dieser Verurteilung gemäß § 81g StPO die Entnahme
und molekulargenetische Untersuchung von Körperzellen des Beschwerdeführers zur Feststellung des DNA-Identifizierungsmusters
mit dem Ziel an, die Eigenschaften in die DNA-Analysedatei einzustellen. Der hiergegen eingelegten Beschwerde des Beschwerdeführers
half das Amtsgericht Erfurt mit Beschluss vom 3. Juli 2012 nicht ab und legte die Sache dem Landgericht Erfurt zur Entscheidung
vor. Dieses verwarf die Beschwerde mit Beschluss vom 14. September 2012 als unbegründet.

3
3. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung seines Rechts auf informationelle Selbstbestimmung
(Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) und beantragt, die Vollziehung der im Tenor genannten Beschlüsse im Wege der einstweiligen
Anordnung auszusetzen.

II.
4
1. Nach § 32 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig
regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund
zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsaktes
vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die Verfassungsbeschwerde wäre von vornherein unzulässig
oder offensichtlich unbegründet (vgl. BVerfGE 103, 41 ; stRspr). Bei offenem Ausgang muss das Bundesverfassungsgericht
die Folgen, die einträten, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber Erfolg hätte, gegenüber
den Nachteilen abwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde
aber der Erfolg zu versagen wäre (vgl. BVerfGE 99, 57 ; stRspr).

5
2. Die Verfassungsbeschwerde ist weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet.

6
Der Beschwerdeführer trägt vor, die nach § 81g StPO zu treffende Prognoseentscheidung sei nicht ausreichend einzelfallbezogen
begründet worden. Insbesondere sei nicht berücksichtigt worden, dass er zur Tatzeit selbst erst 14 Jahre alt gewesen sei und
die Handlungen aus seiner Sicht auf gegenseitiger Zuneigung beruht hätten. Es habe es sich daher um eine jugendtypische Tat
und keinesfalls um eine solche von erheblicher Bedeutung gehandelt.

7
Da die im Tenor bezeichneten Entscheidungen des Amtsgerichts Erfurt und des Landgerichts Erfurt zu diesen besonderen, im Rahmen
einer Entscheidung nach § 81g StPO möglicherweise relevanten Umständen keinerlei Ausführungen enthalten, können der Verfassungsbeschwerde
jedenfalls nicht von vornherein die Erfolgsaussichten abgesprochen werden.

8
3. Im Rahmen der somit erforderlichen Abwägung überwiegen die Gründe für den Erlass einer einstweiligen Anordnung.

9
Erginge die einstweilige Anordnung nicht, erwiese sich die Verfassungsbeschwerde später aber als begründet, so könnte die
Anordnung der Entnahme und molekulargenetischen Untersuchung von Körperzellen des Beschwerdeführers in der Zwischenzeit vollzogen
werden. Der mit einer solchen Vollziehung verbundene Eingriff in die Grundrechte des Beschwerdeführers aus Art. 2 Abs. 1 in
Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG wiegt bei einem Jugendlichen besonders schwer und kann in der
Regel auch durch eine spätere Löschung der erhobenen Daten nicht vollständig rückgängig gemacht werden (vgl. BVerfG, Beschluss
der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 10. März 2009 – 2 BvR 400/09 -, juris Rn. 10).

10
Gegenüber diesem zumindest teilweise irreparablen Rechtsverlust, der dem Beschwerdeführer droht, wiegen die Nachteile, die
entstünden, wenn eine einstweilige Anordnung erlassen würde, die Verfassungsbeschwerde aber später keinen Erfolg hätte, weniger
schwer. Zwar könnte in diesem Fall die gegen den Beschwerdeführer ergangene Anordnung der Entnahme und Untersuchung von Körperzellen
vorübergehend nicht vollzogen werden. Es ist aber nicht ersichtlich, dass wegen dieser Verzögerung ein erheblicher Nachteil
für das Wohl der Allgemeinheit zu besorgen wäre.

11
4. Die Anordnung der Auslagenerstattung folgt aus § 34a Abs. 3 BVerfGG.

12
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.


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