Strafrecht

Nachträgliche Berufungsbeschränkung auf den Rechtsfolgenausspruch durch Verteidigerschriftsatz – Erforderlichkeit einer ausdrücklichen Ermächtigung durch den Angeklagten auch bei Beschränkung innerhalb der Berufungsbegründungsfrist

Aktenzeichen  206 StRR 69/21

Datum:
4.10.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 31627
Gerichtsart:
BayObLG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:
StPO § 302 Abs. 2

 

Leitsatz

1. Für die Beschränkung einer bereits ohne weitere Ausführungen eingelegten Berufung auf den Rechtsfolgenausspruch bedarf der Verteidiger auch dann einer ausdrücklichen Ermächtigung durch den Angeklagten gemäß § 302 Abs. 2 StPO, wenn die Beschränkung noch innerhalb der Frist für die Anbringung einer Berufungsbegründung gemäß § 317 StPO erfolgt. Das Fehlen der Ermächtigung macht die Beschränkung unwirksam.   (Rn. 9 – 25)
2. Wird in der Berufungshauptverhandlung vom Gericht lediglich festgestellt, dass eine Beschränkung durch eingereichten Schriftsatz des Verteidigers erfolgt sei, kann das bloße Schweigen des Verteidigers und des Angeklagten hierauf weder als stillschweigende Erklärung, die Ermächtigung habe vorgelegen, noch als Erklärung einer Beschränkung ausgelegt werden. (Rn. 14)

Verfahrensgang

3 Ns 460 Js 18376/20 2020-10-19 Urt LGTRAUNSTEIN LG Traunstein

Tenor

I. Auf die Revision der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Traunstein vom 19. Oktober 2020 mit den dazugehörigen Feststellungen aufgehoben.
II. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an eine andere Strafkammer des Landgerichts Traunstein zurückverwiesen.

Gründe

I.
Das Amtsgericht Rosenheim hat mit Urteil vom 27. August 2020 die Angeklagte wegen Diebstahls zu einer Freiheitsstrafe von 4 Monaten verurteilt.
Gegen das Urteil hat der vom Gericht nach § 141 StPO bestellte Verteidiger mit am 27. August 2020 eingegangenem Schreiben ohne weitere Ausführungen Berufung eingelegt. Nach Zustellung des Urteils an den Verteidiger am 7. September 2020 und an die Angeklagte am 8. September 2020 wurde durch Verteidigerschriftsatz, eingegangen am 14. September 2020, die Beschränkung der Berufung auf den Rechtsfolgenausspruch erklärt.
Mit Urteil des Landgerichts Traunstein vom 19. Oktober 2020, welches von einer wirksamen Beschränkung der Berufung ausging, wurde das Rechtsmittel als unbegründet verworfen.
Hiergegen wendet sich die Angeklagte mit der Revision, eingegangen am 21. Oktober 2020, die mit Anwaltsschriftsatz vom 9. Dezember 2020 mit der allgemeinen Sachrüge begründet wurde. In einem weiteren Schreiben vom 2. März 2021 wird zur Betäubungsmittelabhängigkeit der Angeklagten vorgetragen.
Auf Anfrage der Generalstaatsanwaltschaft München teilte der bestellte Verteidiger der Angeklagten mit, zum Zeitpunkt der Berufungsbeschränkung habe keine besondere Ermächtigung nach § 302 Abs. 2 StPO vorgelegen.
Die Generalstaatsanwaltschaft München beantragt mit Stellungnahme vom 10. Februar 2021, die Revision der Angeklagten kostenpflichtig als unbegründet zu verwerfen. Sie vertritt die Auffassung, in der Beschränkung der Berufung liege nicht deren teilweise Rücknahme, sondern lediglich eine Konkretisierung des Rechtsmittels, weil die Begründungfrist des § 317 StPO zu diesem Zeitpunkt noch nicht abgelaufen gewesen sei. § 302 Abs. 2 StPO finde darauf keine Anwendung.
II.
Die Revision der Angeklagten hat mit der Sachrüge Erfolg. Das Landgericht ist zu Unrecht von einer wirksamen Beschränkung der Berufung auf den Rechtsfolgenausspruch ausgegangen. Die darin liegende teilweise Rücknahme des Rechtsmittels im Sinne des § 302 Abs. 1 Satz 1 StPO liegt entgegen einer in der Rechtsprechung vertretenen gegenteiligen Auffassung auch dann vor, wenn sie noch innerhalb der Frist für die Anbringung einer Berufungsbegründung gemäß § 317 StPO erfolgt. Die deshalb erforderliche besondere Ermächtigung nach § 302 Abs. 2 StPO war dem Verteidiger von der Angeklagten nicht erteilt.
1. Auf die mit der Revision erhobene Sachrüge ist von Amts wegen zu überprüfen, ob das Berufungsgericht die Wirksamkeit einer gemäß § 318 StPO erklärten Beschränkung der Berufung rechtlich zutreffend beurteilt hat. Bei wirksamer Beschränkung des Rechtsmittels auf den Rechtsfolgenausspruch ist der Schuldspruch bereits in Rechtskraft erwachsen; einer neuen Entscheidung des Berufungsgerichts steht dann insoweit bereits ein Verfahrenshindernis entgegen (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl. 2021, § 327 Rn. 9 m.w.N.). Hält hingegen wie vorliegend das Gericht die Beschränkung für wirksam, dann hat es, wenn sich dies als unzutreffend erweist, nicht über alle Bestandteile des ersten Urteils entschieden, die von der Berufung erfasst worden sind. Auch dies unterliegt einer Überprüfung durch das Revisionsgericht von Amts wegen (allg. Meinung; s. nur Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 327 Rn. 9).
2. Die Annahme des Landgerichts, es liege eine wirksame Berufungsbeschränkung vor, mit der Folge, dass es nur noch über die zu verhängende Rechtsfolge erkannt hat, ist rechtlich zu beanstanden. Das Gericht hat damit gegen seine umfassende Kognitionspflicht verstoßen.
a) Der Verteidiger der Angeklagten hat das Urteil des Amtsgerichts mit Schreiben vom 27. August 2020 zunächst unbeschränkt angefochten und erst mit weiterem Schreiben vom 14. September 2020 erklärt, dass das Rechtsmittel auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkt werden könne.
aa) Zur Zurücknahme eines Rechtsmittels bedarf der Verteidiger nach § 302 Abs. 2 StPO einer ausdrücklichen Ermächtigung. In der nachträglichen Beschränkung eines zunächst unbeschränkt eingelegten Rechtsmittels liegt dessen – teilweise – Zurücknahme (BGH, Urteil v. 5. November 1984, AnwSt (R)11/84, NJW 1985, 1089), auf welche § 302 StPO Anwendung findet.
bb) Im Ergebnis zutreffend hat die Kammer die Äußerung des Verteidigers als Erklärung der Beschränkung ausgelegt. Die Rücknahme eines Rechtsmittels ist die Erklärung, dass dieses nicht weitergeführt bzw. beendet werden soll, was inhaltlich deutlich zum Ausdruck kommen muss (BGH, Beschluss v. 19. September 1996, 1 StR 487/96, juris Rn. 10). Die Formulierung „… teile ich mit, dass eine Beschränkung auf den Rechtsfolgenausspruch erfolgen kann“ (Hervorhebung durch den Senat), bringt zwar sprachlich nicht eindeutig zum Ausdruck, dass die Rücknahme bereits in dem betreffenden Schreiben selbst liege, zumal auch nicht gleichzeitig, entgegen einer in der Praxis in solchen Fällen verbreiteten Übung, das Vorliegen einer Ermächtigung durch die Angeklagte anwaltlich versichert wurde. Dass eine Beschränkung gewollt war, ergibt sich jedoch aus dem maßgebenden Gesamtsinn der Erklärung. Sie erfolgte nämlich als Reaktion auf die ausdrückliche Anfrage der Vorsitzenden vom 14. September 2020, ob auch der Schuldspruch angegriffen werde oder eine Beschränkung auf den Rechtsfolgenausspruch erfolgen könne. Vor diesem Hintergrund ergibt sich zweifelsfrei, dass eine Überprüfung des Schuldspruchs nach dem Willen des Erklärenden nicht mehr erfolgen sollte.
cc) Die Angeklagte hatte keine Ermächtigung für die Teilrücknahme gemäß § 302 Abs. 2 StPO, die bereits bei Abgabe der Zurücknahmeerklärung vorliegen muss, erteilt. Ihr Fehlen macht die Erklärung unwirksam.
Der Verteidiger war der Angeklagten gemäß § 141 StPO vom Gericht bestellt worden, was eine besondere Ermächtigung zur Zurücknahme von Rechtsmitteln nicht begründet. Wie er auf Anfrage der Generalstaatsanwaltschaft erklärt hat, lag eine solche auch nicht vor. Aus der Niederschrift über die Berufungshauptverhandlung vom 19. Oktober 2020, die der Senat im Wege des Freibeweises herangezogen hat, ergeben sich ebenfalls keine Hinweise auf eine wirksame Teilrücknahme. Ausweislich des Protokolls hat die Vorsitzende lediglich „festgestellt“, eine Berufungsbeschränkung sei erfolgt (Protokoll S. 2). Erklärungen des Verteidigers oder der Angeklagten hierzu sind nicht protokolliert, so dass davon auszugehen ist, dass solche nicht abgegeben wurden, § 274 StPO. Aus diesem Ablauf ergibt sich weder ausdrücklich noch konkludent eine erneute Beschränkungserklärung des Verteidigers, noch gar eine solche der Angeklagten selbst. Zwar kann im Schweigen eines Angeklagten auf eine Rechtsmittelbeschränkung, die durch den Verteidiger in der Hauptverhandlung erfolgt, eine eigene Zustimmung zur Rechtsmittelrücknahme liegen (vgl. BayObLG, Beschluss v. 30. Oktober 1984, RReg. 2 St 244/84, NJW 1985, 754); in einem Nicken kann eine Ermächtigung nach § 302 Abs. 2 StPO zu sehen sein (BGH, Beschluss v. 20. März 2002, 5 StR 1/02, NStZ 2002, 496). Gibt, wie vorliegend, der Verteidiger in Anwesenheit des Angeklagten in der Hauptverhandlung jedoch gar keine Erklärung mehr ab, sondern wird lediglich eine vorangegangene Erklärung festgestellt, so genügt das Schweigen auch nicht als Nachweis dafür, dass dem Verteidiger hierfür eine Ermächtigung erteilt worden sei (s. auch OLG München, Beschluss v. 14. Juli 2016, 5 OLG 13 Ss 230/16, juris Rn. 5).
b) Die Teilrücknahme der Berufung ist auch nicht deshalb ohne besondere Ermächtigung wirksam, weil sie noch innerhalb der Begründungsfrist des § 317 StPO erklärt wurde. Einer gegenteiligen in der Rechtsprechung – jeweils nicht entscheidungserheblich – geäußerten Auffassung vermag der Senat nicht zu folgen.
aa) Die Beschränkungserklärung ist innerhalb der Frist des § 317 2. Alt. StPO binnen einer Woche nach Zustellung des Urteils bei Gericht eingegangen. Das Urteil des Amtsgerichts war dem Verteidiger am 7. September 2020 zugestellt worden. Unter Verstoß gegen § 145a Abs. 3 Satz 1 StPO, aber gleichwohl wirksam, erfolgte eine weitere Zustellung an die Angeklagte, die am 8. September 2020 bewirkt wurde. Da für die Fristberechnung die zuletzt erfolgte Zustellung maßgeblich ist, § 37 Abs. 2 StPO, wurde die am 15. September 2020 eingegangene Beschränkung gemäß § 43 Abs. 1, 317 StPO noch binnen offener Frist erklärt.
bb) In einzelnen obergerichtlichen Entscheidungen und vereinzelt in der strafprozessualen Kommentarliteratur wird die Auffassung vertreten, bei einer Beschränkungserklärung innerhalb laufender Berufungsbegründungsfrist handle es sich nicht um eine Teilrücknahme, sondern um die Konkretisierung des Umfangs des Rechtsmittels; somit bedürfe es keiner Ermächtigung nach § 302 Abs. 2 StPO (OLG Celle, Beschluss v. 23. November 2020, 3 Ss 48/20, BeckRS 2020, 34055, Rn. 30; Beschluss vom 8. September 2004, 21 Ss 68/04, juris Rn. 4; OLG Koblenz, Beschluss v. 8. Februar 2000, 1 Ss 5/00, NStZ-RR 2001, 247; OLG Hamm, Beschluss v. 7. Juni 2016, 1 Rvs 16/16, NStZ-RR 2017, 186; Beschluss v. 12. Februar 2008, 3 Ss 514/07, BeckRS 2008, 4288, Rn. 7; Beschluss v. 17. Mai 2005, 1 Ss 62/05, juris Rn. 12, jeweils nicht entscheidungserheblich; Paul in: Karlsruher Kommentar zur StPO, 8. Aufl. 2019, § 302 Rn. 20a). Die Generalstaatsanwaltschaft München hat sich in ihrer Stellungnahme vom 10. Februar 2021 diese Auffassung zu eigen gemacht. Die zitierten Entscheidungen stützen sich auf Entscheidungen des Bundesgerichtshofs (Einzelheiten nachfolgend), in denen Entsprechendes für das Rechtsmittel der Revision ausgeführt ist, und auf die – jeweils ohne weitere Begründung – verwiesen wird.
cc) Der Senat teilt die genannte Rechtsauffassung nicht (ebenso: OLG Stuttgart, Beschluss v. 26. Oktober 2010, 2 Ss 618/10, juris Rn. 10 ff., nicht entscheidungserheblich; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 302 Rn. 29; die Entscheidung offenlassend, aber der Auffassung des OLG Stuttgart zuneigend: OLG München, Beschluss v. 14. Juli 2016, 5 OLG 13 Ss 230/16, juris Rn. 5). Die jeweils in Bezug genommenen Judikate des Bundesgerichtshofs betreffen allein das Rechtsmittel der Revision; demnach soll § 302 Abs. 2 StPO auf eine Beschränkung, die erst in der Revisionsbegründung erklärt wird, nicht anwendbar sein. Die Übertragung dieser Rechtsprechung auf die Berufung lässt die unterschiedliche rechtliche Ausgestaltung von Revisionsbegründung gemäß § 344 Abs. 1 StPO einerseits und Berufungsbegründung gemäß § 317 StPO andererseits außer Acht. Aspekte, die trotz der Unterschiede für eine Gleichbehandlung in der gegenständlichen Frage sprechen, werden von der unter bb) dargelegten Auffassung nicht aufgezeigt. Der Senat hält die Anwendung des § 302 Abs. 2 StPO ohne zeitliche Grenze auf jede Berufungsbeschränkung durch den Verteidiger, die einer zunächst ohne Einschränkung erklärten Berufungseinlegung zeitlich nachfolgt, aufgrund der von der Revision abweichenden Struktur des Berufungsverfahrens für rechtlich geboten.
(1) Der Bundesgerichtshof hat für das Rechtsmittel der Revision, in Abkehr von seiner früheren Rechtsprechung, bereits mit Beschluss vom 13. Juni 1991 (4 StR 105/91, BGHSt 38, 4, 5 f. = NJW 1991, 3162) entschieden, dass, wenn nach einer ohne weitere Ausführungen zum Ziel des Rechtsmittels eingelegten Revision erst in der Revisionsbegründung erklärt wird, das Urteil werde nur in bestimmtem Umfang angefochten, darin weder eine Teilrücknahme der Revision noch ein Teilverzicht zu sehen sei, für die der Verteidiger nach § 302 Abs. 2 StPO eine ausdrückliche Ermächtigung durch den Angeklagten braucht. Es werde dadurch vielmehr lediglich der Umfang der Anfechtung konkretisiert. Erst durch diese Erklärung werde der Umfang der Revision rechtlich bindend festgelegt (s. auch BGH, Beschluss v. 23. Oktober 1991, 3 StR 321/91, NStZ 1992, 126; Beschluss v. 27. Oktober 1992, 5 StR 517/92, NStZ 1993, 96, 97; Beschluss vom 22. Januar 2020, 2 StR 562/19, NStZ-RR 2020, 222; zustimmend Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 302 Rn. 29; Cirener in BeckOK StPO, 40. Ed., Stand 01.07.2021, § 302 Rn. 1.2; Paul in KK-StPO, § 302 Rn. 20a). Zur Begründung wird angeführt, dass zwar durch eine ohne Einschränkung erklärte Revision die Rechtskraft des Urteils nach § 343 Abs. 1 StPO zunächst in vollem Umfang gehemmt werde, sich aber erst aus der Erklärung nach § 344 Abs. 1 StPO ergebe, inwieweit das Urteil angefochten werde. Das habe auch einen guten Grund: erst durch die Zustellung des Urteils werde dem Revisionsführer eine sinnvolle Prüfung und abschließende Entscheidung ermöglicht, inwieweit eine Anfechtung des Urteils Erfolg verspreche (BGH NJW 1991, 3162, 3163).
(2) Diese Überlegungen lassen sich auf die Berufungsbegründung wegen grundlegender struktureller Unterschiede in deren Ausgestaltung in § 317 StPO einerseits und §§ 344 Abs. 1, 345 Abs. 1 StPO andererseits nicht übertragen.
(i) Die Zulässigkeit der Berufung hängt nicht von der Einreichung einer Rechtsmittelbegründung ab. Eine Begründung ist trotz des Wortlauts des § 317 StPO weder an eine Frist gebunden noch überhaupt gesetzlich vorgeschrieben (vgl. nur Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 317 Rn. 1; Paul in KK-StPO, § 317 Rn. 1). Die von § 317 StPO formulierte Frist für die Anbringung einer Berufungsbegründung ist auch keine Ausschlussfrist für das Vorbringen des Rechtsmittelführers. Sie dient nur dem Ziel, dass die weiteren Prozessbeteiligten vorläufig über Ziel und Umfang des Rechtsmittels unterrichtet werden sollten (Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O.; Paul in KK StPO, § 317 Rn. 2). Bereits mit frist- und formgerechter Einlegung der Berufung nach § 314 StPO ist also das Rechtsmittel zulässig erhoben und, wenn dabei keine Beschränkung angebracht wurde, dem Angeklagten infolgedessen ein Anspruch auf eine umfassende erneute gerichtliche Befassung in zweiter Tatsacheninstanz erwachsen. Er hat eine Rechtsposition erlangt, die nur durch eine Rücknahme bzw. Teilrücknahme des Rechtsmittels wieder preisgegeben werden kann (vgl. dazu auch OLG Stuttgart, Beschluss v. 26. Oktober 2010, 2 Ss 618/10, juris Rn. 15).
(ii) Das Rechtsmittel der Revision ist hingegen zweiaktig ausgestaltet. Es eröffnet dem Angeklagten erst dann einen gesicherten Weg zur umfassenden Prüfung der Sache durch das Revisionsgericht und damit zu einer der nach Einlegung der Berufung entstandenen vergleichbaren Rechtsposition, wenn zur rechtzeitigen Einlegung des Rechtsmittels gemäß § 343 Abs. 1 StPO, die die Rechtskraft des Urteils gemäß ausdrücklicher gesetzlicher Anordnung zwar zunächst umfänglich hemmt, eine den Anforderungen der §§ 344, 345 StPO genügende Begründung hinzukommt. Diese hat, soweit noch nicht geschehen, inhaltlich auch den Umfang des Rechtsmittelangriffs darzulegen, § 344 Abs. 1 StPO. Erst diese ist konstitutiv für den Umfang des dem Revisionsgericht unterbreiteten Prüfungsgegenstands. Gemäß § 352 Abs. 1 StPO hat das Gericht seine Prüfung nur darauf zu erstrecken. Anders als eine Beschränkung der Berufung, die nach deren unbeschränkter Einlegung erklärt wird, schmälert mithin eine in der Revisionsbegründung angegebene Beschränkung des Rechtsmittels nicht eine bereits entstandene Rechtsposition des Angeklagten, sondern konstituiert als gesetzlich vorgeschriebener zweiter Akt der Revision eine solche erst, auch im Hinblick auf den Umfang der Anfechtung.
(iii) Die Erklärung des Verteidigers, eine zuvor uneingeschränkt eingelegte Berufung auf bestimmte Beschwerdepunkte zu beschränken, wird nach dem Vorstehenden vom Anwendungsbereich und Schutzzweck des § 302 Abs. 2 StPO erfasst. Die Norm gilt für die Zurücknahme eines bereits erhobenen Rechtsmittels sowie, über den Wortlaut hinaus, erst recht für den Rechtsmittelverzicht (Jesse in: Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Aufl. 2014, § 302 Rn. 87; BGH, Beschluss v. 15. November 2006, 2 StR 429/06, NStZ-RR 2007, 151). Keiner besonderen Ermächtigung bedarf es hingegen dafür, von der Einlegung eines Rechtsmittels ganz abzusehen oder es von vorneherein im Umfang zu beschränken (BGH, Beschluss v. 27. Oktober 1992, 5 StR 517/92, NJW 1993, 476; Brunner in KMR StPO, 63. EL Stand Mai 2012, § 318 Rn. 8; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 302 Rn. 31). Vom Schutzbereich der Norm sind damit erkennbar lediglich solche Willensäußerungen des Verteidigers erfasst, die ein bereits vorhandenes bzw. bereits geschaffenes Recht des Angeklagten, seine Verurteilung in der Rechtsmittelinstanz überprüfen zu lassen, durch eine Prozesserklärung aktiv beseitigen oder schmälern. Nach vorstehenden Ausführungen trifft dies für die (teilweise) Rücknahme einer unbeschränkt eingelegten Berufung, die anders als eine Revisionsbegründung eine bereits errungene Rechtsposition des Angeklagten beeinträchtigt, unabhängig vom Zeitpunkt der Erklärung zu (so auch OLG Stuttgart, Beschluss v. 26. Oktober 2010, 2 Ss 618/10, juris Rn. 15). Die gegenteilige Ansicht kann nicht überzeugen.
(3) Etwas anderes lässt sich auch nicht daraus herleiten, dass die Frist zur Berufungsbegründung des § 317 StPO ebenso wie diejenige für die Begründung der Revision, § 345 Abs. 1 Satz 2 StPO, von der Zustellung des Urteils abhängig ist. Der Senat hat zwar mit Blick auf die im Zusammenhang mit der unter (1) dargestellten Auffassung durch den Bundesgerichtshof gemachten Ausführungen dazu, dass erst bei Vorliegen der schriftlichen Urteilsgründe eine sinnvolle Prüfung möglich sei, in welchem Umfang das eingelegte Rechtsmittel mit Erfolgsaussicht durchgeführt werden könne (BGH NJW 1991, 3162, 3163), erwogen, ob dies auch für die Berufungsbegründung entsprechend zutrifft und deshalb auch in diesem Fall in einer nachträglichen Beschränkung lediglich eine (erst jetzt mögliche und zumutbare) Konkretisierung des Rechtsmittels zu sehen wäre. Dies ist indessen nicht der Fall. Gegenstand der Revision ist die Überprüfung – nur – des angegriffenen Urteils selbst auf Rechtsfehler, § 337 StPO. Grundlage dieser Prüfung ist, soweit die Verletzung sachlichen Rechts gemäß § 344 Abs. 2 Satz 1 2. Alt StPO gerügt ist, allein die Urteilsurkunde, ggf. nebst Abbildungen gemäß § 267 Abs. 1 Satz 3 StPO. Ob und in welchem Umfang die Revision Erfolgsaussicht hat, kann infolgedessen allein auf der Grundlage des schriftlichen Urteils bestimmt werden. Die Berufung führt hingegen nicht zur Prüfung des angefochtenen Urteils, sondern es wird vielmehr die Sache völlig neu verhandelt. Das Berufungsgericht entscheidet auf der Grundlage des Eröffnungsbeschlusses über alle Tat- und Rechtsfragen nach dem Ergebnis der Berufungshauptverhandlung. Die schriftlichen Urteilsgründe sind deshalb für die Frage, in welchem Umfang die Sache dem Berufungsgericht unterbreitet werden soll, nicht von maßgeblicher Bedeutung. Dem Angeklagten und seinem Verteidiger ist es ohne weiteres möglich, bereits auf der Grundlage des ihnen regelmäßig bekannten Akteninhalts, der in der Hauptverhandlung abgegebenen Einlassungen und erhobenen Beweise sowie der mündlich mitgeteilten Urteilsgründe zu erwägen, ob und in welchem Umfang die Aussicht besteht, dass die Durchführung einer weiteren Tatsachenverhandlung zu einem für den Angeklagten günstigeren Ergebnis führt. Ein Grund für die Nichtanwendung des § 302 Abs. 2 StPO lässt sich aus der Maßgeblichkeit der Urteilszustellung für den Lauf der Frist für die Berufungsbegründung nicht herleiten.
(4) Sonstige Gründe, die gegen eine Geltung des § 302 Abs. 2 StPO für die nachträgliche Berufungsbeschränkung sprechen könnten, ergeben sich auch nicht aus der Ausgestaltung weiterer Rechtsbehelfe im Strafwie auch im Bußgeldverfahren, für die, wie bei der Berufung, keine gesetzliche Begründungspflicht besteht. Vielmehr entspricht die Anwendung des § 302 Abs. 2 StPO auf eine nachträgliche Beschränkung zunächst unbeschränkt eingelegter Rechtsbehelfe unabhängig vom Zeitpunkt dieser Erklärung auch in diesen Konstellationen einhelliger Meinung und wird, soweit ersichtlich, nicht in Frage gestellt; namentlich im Verfahren nach Einspruch gegen einen Strafbefehl nach §§ 410 Abs. 1, 2, 411 Abs. 3 Satz 1 StPO (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss v. 15. Juni 2010, III- 1 RVs 71/10, NStZ 2010, 655); im Beschwerdeverfahren (vgl. OLG Saarbrücken, Beschluss vom 21. Juli 2016, 1 Ws 51/16, BeckRS 2016, 14142), sowie bezüglich der Rücknahme eines Einspruchs gegen einen Bußgeldbescheid nach § 67 Abs. 2 OWiG (OLG Bamberg, Beschluss v. 8. Februar 2019, 2 Ss OWi 123/19, juris; KG Berlin, Beschluss v. 19. Februar 1999, 2 Ss 419/98, juris).
3. Obgleich die Rechtsauffassung des Senats für die gegenständliche Sache entscheidungserheblich ist und sie von der Rechtsprechung der unter 2.b.bb. bezeichneten Oberlandesgerichte abweicht, ist eine Divergenzvorlage nach § 121 Abs. 2 GVG nicht veranlasst, da die divergierende Auffassung in keiner der dort genannten Fälle entscheidungserheblich war.
4. Nach alledem ist die Berufung der Angeklagten nicht wirksam beschränkt worden. Das Landgericht war deshalb gehalten, auch über die Schuldfrage neu zu entscheiden. Da es dies unterlassen hat, kann das Urteil keinen Bestand haben. Auf die Revision der Angeklagten hin ist es mit den zugrunde liegenden Feststellungen, §§ 349 Abs. 4, 353 Abs. 1 StPO, aufzuheben und zu neuer Verhandlung und Entscheidung – auch über die Kosten des Revisionsverfahrens – an eine andere Strafkammer des Landgerichts Traunstein zurückzuverweisen, § 354 Abs. 2 Satz 1 StPO.
III.
Für das weitere Verfahren weist der Senat noch auf folgendes hin:
Für den Fall, dass das neue Tatgericht zu einem Schuldspruch kommt und gegen die Angeklagte eine Freiheitsstrafe verhängt, wird es bereits bei der Bestimmung deren Höhe zu erörtern haben, ob der Angeklagten ein Bewährungswiderruf mit der Folge droht, dass die gesamte Länge der zu verbüßenden Haft diejenige der neu verhängten Strafe beträchtlich übersteigt. Dabei handelt es sich um einen bestimmenden Strafzumessungsgrund (BGH, Urteil v. 17. Februar 2021, 2 StR 294/20, BeckRS 2021, 17755 Rn. 26), deren Einbeziehung in die Strafzumessungserwägungen des angegriffenen Urteils die Berufungskammer versäumt hat.


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