Strafrecht

Nichtvorlage eines medizinisch-psychologischen Gutachtens, Charakterliche Mängel

Aktenzeichen  M 26b K 19.2791

Datum:
14.7.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 51415
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
FeV § 11 Abs. 3 S. 1 Nr. 6

 

Leitsatz

Tenor

Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe wird abgelehnt.

Gründe

I.
Der Kläger begehrt Prozesskostenhilfe für eine Anfechtungsklage gegen die Entziehung seiner Fahrerlaubnis.
Mit Strafbefehl des Amtsgerichts München vom … November 2015, rechtskräftig seit 24. März 2016, wurde gegen den Kläger wegen vorsätzlicher Körperverletzung eine Geldstrafe von 40 Tagessätzen und ein zweimonatiges Fahrverbot verhängt.
Dem lag zugrunde, dass der Kläger am … Mai 2015 einen Fahrradfahrer, der an ihm vorbeifuhr und ihn angeblich beleidigt hatte, aus dem geöffneten Wagenfenster heraus mit der flachen Hand gegen die Wange schlug.
Mit Gutachtensanordnung vom … Februar 2018 wurde der Kläger aufgefordert, innerhalb von zwei Monaten ein medizinischpsychologisches Gutachten einer amtlich anerkannten Begutachtungsstelle für Fahreignung über seine Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen vorzulegen.
Das geforderte Fahreignungsgutachten legte der Kläger nicht vor. Mit Bescheid vom 10. Juli 2018, zugestellt am 14. Juli 2018, entzog die Beklagte dem Kläger die Fahrerlaubnis und forderte ihn unter Androhung eines Zwangsgelds auf, seinen Führerschein innerhalb einer Woche ab Bestandskraft abzugeben.
Der hiergegen erhobene Widerspruch wurde von der Regierung von Oberbayern mit Widerspruchsbescheid vom 8. Mai 2019 zurückgewiesen.
Hiergegen ließ der Kläger am 11. Juni 2019 Anfechtungsklage erheben. Zudem beantragt er,
ihm unter Beiordnung seines bevollmächtigten Rechtsanwalts Prozesskostenhilfe zu bewilligen.
Auf die Klagebegründung wird Bezug genommen.
Mit Beschluss vom heutigen Tage wurde der Rechtsstreit zur Entscheidung auf den Einzelrichter übertragen. Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichts- und Behördenakten Bezug genommen.
II.
Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe ist zulässig, aber unbegründet.
Gemäß § 166 VwGO i.V.m. §§ 114 ff ZPO ist einer Partei Prozesskostenhilfe zu gewähren, wenn sie nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann und die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Dabei dürfen bei der Entscheidung, ob hinreichende Erfolgsaussichten für die beabsichtigte Rechtsverfolgung vorliegen, die Anforderungen nicht überspannt werden (vgl. BVerfG, stattgebender Kammerbeschluss v. 10.8.2001 – 2 BvR 569/01 – DVBl 2001, 1748). Eine gewisse Erfolgsaussicht genügt (vgl. BayVGH, B.v. 17.12.1999 – 12 C 99.1542 – juris). Hinreichend sind die Erfolgsaussichten insofern schon dann, wenn die Entscheidung von einer schwierigen, ungeklärten Rechtsfrage abhängt oder wenn der vom Beteiligten vertretene Rechtsstandpunkt zumindest vertretbar erscheint und in tatsächlicher Hinsicht die Möglichkeit einer Beweisführung besteht (vgl. Schmidt in Eyermann, VwGO, 14. Aufl. 2014, § 166 VwGO, Rn. 26).
Die vorliegende Klage bietet jedoch keine hinreichende Aussicht auf Erfolg in diesem Sinne.
Die Entziehung der Fahrerlaubnis sowie die weiteren Regelungen im angefochtenen Bescheid vom 10. Juli 2018 erweisen sich, gemessen an den oben dargestellten Vorgaben, als rechtmäßig und verletzen den Kläger daher nicht in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Die Beklagte hat dem Kläger die Fahrerlaubnis zu Recht nach § 3 Abs. 1 StVG, §§ 46 Abs. 1 und Abs. 3, 11 Abs. 8 FeV entzogen, weil er das zu Recht geforderte medizinisch-psychologische Gutachten nicht innerhalb der gesetzten Frist vorgelegt hat.
Der streitgegenständliche Bescheid geht zu Recht unter Zugrundelegung der Wertung des § 46 Abs. 3 i.V.m. § 11 Abs. 8 Satz 1 Fahrerlaubnisverordnung – FeV – davon aus, dass eine Fahreignung des Klägers nicht gegeben ist. Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 StVG und § 46 Abs. 1 Satz 1 FeV hat die Fahrerlaubnisbehörde die Fahrerlaubnis zu entziehen, wenn sich der Inhaber einer Fahrerlaubnis als ungeeignet oder nicht befähigt zum Führen von Kraftfahrzeugen erweist. Als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erweist sich der Inhaber einer Fahrerlaubnis nach § 46 Abs. 1 Satz 2 FeV insbesondere, wenn Erkrankungen oder Mängel nach den Anlagen 4, 5 oder 6 der FeV vorliegen oder erheblich oder wiederholt gegen verkehrsrechtliche Vorschriften oder Strafgesetze verstoßen wurde und dadurch die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen ausgeschlossen ist. Werden Tatsachen bekannt, die Bedenken begründen, dass der Inhaber einer Fahrerlaubnis zum Führen eines Kraftfahrzeugs ungeeignet oder (lediglich) bedingt geeignet ist, finden nach § 46 Abs. 3 FeV die §§ 11 bis 13 FeV entsprechende Anwendung.
Die Beklagte durfte aufgrund der Nichtvorlage des nach § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 6 FeV geforderten medizinisch-psychologischen Gutachtens innerhalb der gesetzten Frist gemäß § 11 Abs. 8 FeV auf die Nichteignung des Klägers schließen. Auf diese Rechtsfolge war der Kläger in der Anordnung zur Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens vom … Februar 2018 auch hingewiesen worden (§ 11 Abs. 8 Satz 2 FeV).
Bei nichtfristgerechter Beibringung des geforderten Gutachtens darf die Fahrerlaubnisbehörde gemäß §§ 46 Abs. 3, 11 Abs. 8 Satz 1 FeV auf die Ungeeignetheit des Klägers zum Führen von Kraftfahrzeugen i.S.d. § 3 Abs. 1 Satz 1 StVG, § 46 Abs. 1 Satz 1 FeV schließen. Sie ist dabei angesichts der gesetzlichen Formulierung („darf“) zwar nicht ausnahmslos gezwungen, in diesen Fällen auf die Ungeeignetheit zum Führen von Kraftfahrzeugen zu schließen (BayVGH, Beschluss vom 11.05.2007 – 11 C 06.2890 -, juris Rn. 18), doch eröffnet diese Formulierung auch kein Ermessen. Sie beinhaltet vielmehr eine Beweiswürdigung des Inhalts, dass auf die Ungeeignetheit zu schließen ist, wenn die Weigerung oder Nichtvorlage ohne ausreichenden Grund erfolgt und deshalb anzunehmen ist, dass Eignungsmängel verborgen werden sollen. Der Schluss auf die Nichteignung ist dann geboten und muss zur Entziehung der Fahrerlaubnis führen (OVG Schleswig, Beschluss vom 26.03.2018 – 4 LA 126/17 -, juris Rn. 4; Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 45. Aufl., § 11 FeV Rn. 51, beide m.w.N). Ausreichende Gründe im vorgenannten Sinne sind weder vorgetragen noch ersichtlich.
Der Schluss aus der Nichtvorlage eines angeforderten Fahreignungsgutachtens auf die fehlende Fahreignung ist allerdings nur dann gerechtfertigt, wenn die Anordnung formell und materiell rechtmäßig, insbesondere anlassbezogen und verhältnismäßig war (stRspr, vgl. BVerwG, U.v. 17.11.2016 – 3 C 20.15 – BVerwGE 156, 293 Rn. 19 m.w.N.). Dies ist vorliegend der Fall.
Es lagen Tatsachen vor, die geeignet waren, im maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt Bedenken gegen die Fahreignung des Klägers zu begründen. Die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 46 Abs. 3 FeV, § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 6 FeV für die Anordnung zur Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens lagen vor. Danach kann die Fahrerlaubnisbehörde die Beibringung eines Gutachtens einer amtlich anerkannten Begutachtungsstelle anordnen bei einer erheblichen Straftat, die im Zusammenhang mit der Kraftfahreignung steht, insbesondere wenn Anhaltspunkte für ein hohes Aggressionspotenzial bestehen oder die erhebliche Straftat unter Nutzung eines Fahrzeugs begangen wurde.
Zwar setzt diese Vorschrift lediglich das Vorliegen einer nichtverkehrsrechtlichen Straftat voraus, aber dabei muss es sich um eine erhebliche Straftat handeln. Der Begriff „erheblich“ ist nach der Begründung der Änderungsverordnung zur Fahrerlaubnis-Verordnung vom 18. Juli 2008 (BGBl I S. 1338, BR-Drs. 302/08 S. 61) nicht ohne weiteres mit „schwerwiegend“ gleichzusetzen, sondern bezieht sich auf die Kraftfahreignung (vgl. Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 45. Auflage 2019, § 11 FeV Rn. 30 m. w. N.). Der Bezug zur Kraftfahreignung setzt nicht voraus, dass für die Bejahung des Begriffs „erheblich“ ein Pkw als Mittel zur Straftat benutzt worden ist (vgl. nur: BayVGH, Beschluss vom 25. März 2014 – 11 C 13.1837 -, juris Rn. 7; OVG NW, Beschluss vom 10. September 2014 – 16 B 912/14 -, juris Rn. 10). Vielmehr muss anhand konkreter Umstände, die sich aus der Tat unter Berücksichtigung der Täterpersönlichkeit ergeben, festgestellt werden, ob die Anlasstat tatsächlich Rückschlüsse auf die Kraftfahreignung zulässt (vgl. BayVGH, Beschluss vom 5. Juli 2012 – 11 C 12.874 -, juris Rn. 27; Beschluss vom 6. November 2017 – 11 CS 17.1726 -, juris Rn. 27).
Als aggressive Straftaten in diesem Sinne, die eine Neigung zu planvoller, bedenkenloser Durchsetzung eigener Anliegen ohne Rücksicht auf berechtigte Interessen anderer oder eine Bereitschaft zu ausgeprägt impulsivem Verhalten offenbaren und dabei Verhaltensmuster deutlich machen können, die sich so negativ auf das Führen von Kraftfahrzeugen auswirken können, dass die Verkehrssicherheit gefährdet wird, gelten nach Nr. 3.16 der Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung insbesondere Körperverletzung, Sachbeschädigung, Tierquälerei, Brandstiftung, Freiheitsberaubung, Hausfriedensbruch und räuberische Erpressung.
Die rechtskräftig geahndete Körperverletzung des Klägers zulasten eines anderen Verkehrsteilnehmers stellt nach diesen Maßstäben unter Berücksichtigung der konkreten Tatumstände eine erhebliche Straftat, die im Zusammenhang mit der Kraftfahreignung steht, dar. Dabei kann offenbleiben, ob der Kläger zuvor von dem Fahrradfahrer verbal beleidigt worden ist. Denn mit oder ohne diese „Vorgeschichte“ zeigt das Verhalten des Klägers deutlich ein erhebliches Aggressionspotenzial auf. Dabei ist es nicht notwendig, aus einem Verhalten des Klägers außerhalb des Straßenverkehrs auf ein Aggressionspotenzial im Straßenverkehr zu schließen, sondern das Aggressionspotenzial hat sich gerade im Straßenverkehr verwirklicht. Der Kläger hat eine Konfliktsituation mit einem anderen Verkehrsteilnehmer – diese einmal zu seinen Gunsten unterstellt-, nicht anders zu bewältigen gewusst, als den Verkehrsteilnehmer aus dem heruntergelassenen Fahrerfenster eine Ohrfeige zu versetzen. Zusätzlich fällt ins Gewicht, dass nach Aktenlage der Kläger bei dieser Tathandlung mit seinem Pkw noch nicht einmal gestanden hat, sondern er dem Fahrradfahrer die Ohrfeige versetzt hat, während er noch (langsam) fuhr. Die Gefährlichkeit einer solchen Handlungsweise für die Verkehrssicherheit liegt auf der Hand. Sie ist angesichts dieser Gefährlichkeit nicht anders als impulsiv zu beschreiben. Aus ihr kann geschlossen werden, dass der Kläger möglicherweise nicht fahrgeeignet ist.
Die Beklagte hat das ihr zustehende Ermessen erkannt und fehlerfrei ausgeübt. Nach § 11 Abs. 6 Satz 2 FeV teilt die Behörde dem Betroffenen unter Darlegung der Gründe für die Zweifel an seiner Eignung mit, dass er sich einer Untersuchung zu unterziehen und das Gutachten beizubringen hat. Dabei sind die Ermessenserwägungen der Fahrerlaubnisbehörde offenzulegen, damit Sinn und Zweck der angeordneten Mitteilungspflichten Genüge getan ist (vgl. BVerwG, U.v. 17.11.2016 a.a.O. Rn. 38; BayVGH, B.v. 30.5.2017 – 11 CS 17.274 – NJW 2017, 2695). Die Beklagte hat im vorliegenden Fall erkannt, dass Ermessen auszuüben ist und die zugrundeliegenden Erwägungen hinreichend offen gelegt. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wurde hierbei beachtet. Auch ist nachvollziehbar, dass die Fahrerlaubnisbehörde das Regelungsregime des Fahreignung-Bewertungssystems nach § 4 StVG im vorliegenden Fall verlassen hat, zumal die Tat im Fahreignungsregister nach den einschlägigen Vorschriften nicht bepunktet ist.
Die Fragestellung der Gutachtensanordnung genügt den sich aus § 11 Abs. 6 Satz 1 FeV ergebenden Anforderungen. Insbesondere ist die Fragestellung vom Sachverhalt gedeckt (vgl. zu möglichen Fragestellungen: Urteilsbildung in der Fahreignungsbegutachtung – Beurteilungskriterien, Hrsg.: Deutsche Gesellschaft für Verkehrspsychologie/Deutsche Gesellschaft für Verkehrsmedizin, 3. Aufl. 2013, mit Schreiben des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur vom 27.1.2014 [VkBl 2014, 132] als aktueller Stand der Wissenschaft eingeführt, S. 61). Die Hinweise nach § 11 Abs. 6 Satz 2 FeV und § 11 Abs. 8 Satz 2 FeV sind erfolgt. Der Einwand des Klägers, die Fragestellung sei formularmäßig und berücksichtige nicht den Einzelfall, geht fehl, denn aus dem Sachverhalt ergibt sich für die Begutachtungsstelle eindeutig, von welchem Sachverhalt sie bei ihrer Begutachtung auszugehen hat. Die Frist für die Beibringung des Gutachtens war mit 2 Monaten ab Zustellung der Gutachtensanordnung auch ausreichend bemessen.
Die am … Mai 2015 begangene Tat war im insoweit maßgeblichen Zeitpunkt der Gutachtensanordnung am … Februar 2018 verwertbar und zwingend heranzuziehen, weil die Entscheidung einer 5-jährigen Tilgungsfrist, beginnend ab Rechtskraft (hier der 24. März 2016) unterliegt (§ 29 Abs. 4 Nr. 1, Abs. 1 Satz 2 Nr. 2a StVG). Zum Zeitablauf zwischen Tat und entsprechender Gutachtensanordnung musste deshalb im Rahmen der Ermessensausübung nicht Stellung genommen werden.
Im Übrigen hindert das gegen den Kläger verhängte Fahrverbot nach § 44 StGB die Verwaltungsbehörde nicht, die Fahrerlaubnis wegen fehlender Eignung zu entziehen. Fahrverbot und Entziehung der Fahrerlaubnis haben verschiedene Wirkungen und Voraussetzungen. Das Strafgericht hat sich mit der Fahreignung des Klägers nicht befasst, so dass die Fahrerlaubnisbehörde an der präventiven Maßnahme der Entziehung wegen Eignungsmängeln nicht gehindert ist (NK-GVR/Kerkmann/Blum, § 44 StGB Rn 4).
Damit ergibt sich, dass die nicht befolgte Gutachtensanordnung rechtmäßig war. Die Fahrerlaubnis wurde nach alldem zu Recht entzogen.
Die Entscheidung über den Prozesskostenhilfeantrag ergeht kostenfrei, Auslagen werden nicht erstattet.


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