Strafrecht

Pflichtverteidigung: Fall der notwendigen Verteidigung bei absehbaren gesamtstrafenfähigen Taten im Ermittlungsverfahren

Aktenzeichen  3 Qs 1/22

Datum:
18.1.2022
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
LG Halle (Saale) 3. Strafkammer
Dokumenttyp:
Beschluss
Spruchkörper:
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Verfahrensgang

vorgehend AG Halle (Saale), 14. Dezember 2021, 397 Gs 285 Js 36984/21 (801/21)

Tenor

Auf die sofortige Beschwerde des Beschuldigten wird der Beschluss des Amtsgerichts Halle (Saale) vom 14.12.2021, Az.: 397 Gs 285 Js 36984/21 (801/21), aufgehoben.
Dem Beschuldigten wird Rechtsanwalt …, …, …, als notwendiger Verteidiger beigeordnet.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die notwendigen Auslagen des Beschuldigten fallen der Landeskasse zur Last.

Gründe

I.
Die Staatsanwaltschaft Halle (Saale) führt gegen den Beschuldigten ein Ermittlungsverfahren (Az.: 285 Js 36984/21) wegen des Verdachtes des Diebstahls in einem besonders schweren Fall. Der Beschuldigte wird dabei verdächtigt, im März 2021 c.a. 350m bis 400m Starkstromkabel in den Sorten 5×10 mm2 sowie 5×16 mm2 von der Baustelle der im Umbau befindlichen Sekundarschule “…” in … entwendet zu haben. Hierbei soll er ein bereits verlegtes Kabel mittels eines Werkzeuges abgeschnitten und aus der eingebrachten Fußbodendämmung herausgerissen haben.
Nach der am 10.09.2021 erfolgten Beschuldigtenvernehmung, in der der Beschuldigte i.S.d. § 141 Absatz 1 Satz 1 StPO belehrt worden war, teilte dieser mit anwaltlichem Schriftsatz vom 09.11.2021 mit, dass seine Verteidigung durch Rechtsanwalt … aus … übernommen werde. Hierbei beantragte er gleichzeitig die Beiordnung von Rechtsanwalt … als seinen Pflichtverteidiger.
Mit Verfügung vom 10.12.2021 leitete die Staatsanwaltschaft Halle (Saale) das Beiordnungsersuchen an das Amtsgericht Halle (Saale) zur diesbezüglichen Entscheidung weiter. Mit Beschluss vom 14.12.2021, Az.: 397 Gs 285 Js 36984/21 (801/21), wies das Amtsgericht Halle (Saale) den Antrag des Beschuldigten auf Bestellung eines notwendigen Verteidigers zurück. Begründend führte es aus, dass die Voraussetzungen des § 140 Absatz 2. StPO nicht vorliegen würden, da weder die Schwere der Tat noch die Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge noch die Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage die Mitwirkung eines Verteidigers als geboten erscheinen lassen. Zudem sei nicht ersichtlich, dass sich der Beschuldigte nicht selbst verteidigen könne. Auch die Voraussetzungen des § 140 Absatz 1 StPO seien vorliegend nicht gegeben. Dieser Beschluss wurde dem Verteidiger des Beschuldigten am 16.12.2021 zugestellt.
Mit anwaltlichem Schriftsatz vom 16.12.2021, beim Amtsgericht Halle (Saale) am 20.12.2.021 eingegangen, legte der Beschuldigte gegen den Beschluss des Amtsgerichts Halle (Saale) sofortige Beschwerde ein. Begründend führte der Beschuldigte aus, dass ein Fall der notwendigen Verteidigung nach § 140 Absatz 2 StPO gegeben sei, da gegen ihn ein weiteres Verfahren bei der Staatsanwaltschaft Halle (Saale) unter dem Az.: 540 Js 17049/21 anhängig sei, in welchem ihm sein Verteidiger als Pflichtverteidiger bereits beigeordnet worden sei. Zudem sei zu bedenken, dass in Fällen, in denen eine nachträgliche Gesamtstrafenbildung von über einem Jahr Freiheitsstrafe drohe, die Annahme eines Falles der notwendigen Verteidigung anerkannt sei. Dies gelte auch, wenn sich eine potenzielle Gesamtstrafenfähigkeit mit weiteren Vorwürfen schon im Ermittlungsverfahren ergebe.
Mit Verfügung vom 27.12.2021 legte die Staatsanwaltschaft Halle (Saale) die sofortige Beschwerde des Beschuldigten mit dem Antrag, diese als unbegründet zu verwerfen, dem Landgericht Halle (Saale), hier eingegangen am 03.01.2022, zur Entscheidung vor. Begründend führte die Staatsanwaltschaft Halle (Saale) aus, dass nicht anzunehmen sei, dass das hiesige Verfahren mit dem bereits am Landgericht Halle (Saale) anhängigen Verfahren verbunden werde und es sich zudem auch noch im Ermittlungsstadium befinde.
II.
Die sofortige Beschwerde des Beschädigten ist gemäß §§ 142 Absatz 7 Satz 1 i.V.m. 304 Absatz 1 StPO zulässig, insbesondere fristgerecht innerhalb der Wochenfrist des § 311 Absatz 2 StPO erhoben worden. Auch in der Sache selbst ist sie begründet.
1.
Die vorliegend anzunehmende Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge nach § 140 Absatz 2 StPO gebietet die Beiordnung eines Pflichtverteidigers gemäß § 141 Absatz 1 StPO.
Von der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge i.S.d. § 140 Absatz 2 StPO ist auszugehen, soweit eine Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr in Betracht kommt (vgl. Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt: StPO, 63. Auflage 2020, § 140 StPO, Rn. 23a). Drohen einem Beschuldigten dabei in mehreren Parallelverfahren Strafen, die gesamtstrafenfähig sind und von denen anzunehmen ist, dass deren Summe voraussichtlich eine Höhe erreichen werde, die das Merkmal der “Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge” i.S.d, § 140 Absatz 2 StPO, mithin mindestens eine (Gesamt-)Freiheitsstrafe von einem Jahr erfüllt, ist die Verteidigung in jedem Verfahren notwendig. Darauf, ob die in Frage stehenden Verfahren zur gemeinsamen Verhandlung verbunden werden oder nicht, kommt es bei der Beurteilung nicht an. Auch die Möglichkeit einer nachträglichen Gesamtstrafenbildung ist bei der Bestimmung der zu erwartenden Schwere der Rechtsfolge zu berücksichtigen (vgl. Oberlandesgericht des Landes Sachsen-Anhalt, Urteil vom 22.05.2013, Az.: 2 Ss 65/13, Rn. 6, juris; Thomas/Kämpfer, in: MüKoStPO, 1. Auflage 2014, § 140 StPO, Rn. 31). Dabei bedarf es jedoch regelmäßig der Prüfung im konkreten Einzelfall, ob andere Verfahren und die Erwartung einer späteren Gesamtstrafenbildung das Gewicht des abzuurteilenden Falles tatsächlich so erhöhen, dass die Mitwirkung eines Verteidigers geboten ist. Eine schematische Betrachtung verbietet sich daher (vgl. OLG Stuttgart, Beschluss vom 02.03.2012, Az.: 2 Ws 37/12=NStZ-RR 2012, 214, beck-online).
Gegen den Beschuldigten liegt bereits bei der 16. Großen Strafkammer des Landgerichts Halle (Saale) eine weitere Anklage der Staatsanwaltschaft Halle (Saale) vom 07.12.2021, Az.: 16 KLs 540 Js 17049/21 (16/21), vor. Gegenstand dieser Anklage sind dem Beschuldigten zur Last gelegte Taten im Zeitraum vom 17.05.2021 bis zum 20.05.2021 im Zusammenhang mit Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz. Die Kammer geht davon aus, dass aufgrund der Gesamtstrafenfähigkeit der hier infrage stehenden Tat mit denen aus der Anklage vom 07.12.2021 der Beschuldigte für den Fall einer Verurteilung eine Freiheitsstrafe von über einem Jahr zu erwarten hat. Dabei geht die Kammer zudem nicht davon aus, dass der hiesige Tatvorwurf für den Fall einer Verurteilung aufgrund der bereits einschlägigen Vorstrafen des Beschuldigten einen nur unwesentlichen Einfluss auf die spätere Gesamtstrafenbildung haben wird, sodass die Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge i.S.d. § 140 Absatz 2 StPO vorliegend zu bejahen ist.
Der Umstand, dass sich das Verfahren noch im Ermittlungsstadium befindet, rechtfertigt keine abweichende Beurteilung. Nach der Intention des Gesetzgebers sollten mit der Neuregelung des § 141 StPO die Verfahrensrechte eines Beschuldigten auf Bestellung eines Pflichtverteidigers bereits im Stadium des Ermittlungsverfahrens erheblich gestärkt werden. Dieses Ziel sollte unter anderem dadurch erreicht werden, dass das Verfahren bis zur Bestellung eines Pflichtverteidigers maßgeblich beschleunigt wird. Entsprechend sieht § 141 Absatz 1 Satz 1 StPO vor, dass einem Beschuldigten beim Vorliegen der Voraussetzungen unverzüglich ein Pflichtverteidiger zu bestellen ist, wenn dieser nach Belehrung ausdrücklich die Beiordnung eines Pflichtverteidigers beantragt. Vor diesem Hintergrund ist bei der Bestimmung der zu erwartenden Schwere der Rechtsfolge daher nicht allein auf das jeweilige Stadium der in Frage stehenden Verfahren abzustellen. Mithin sind daher auch noch im Ermittlungsverfahren befindliche, grundsätzlich jedoch gesamtstrafenfähige Taten in die Gesamtbetrachtung i.S.d. § 140 Absatz 2 StPO einzubeziehen, soweit diese voraussichtlich einen nicht nur unwesentlichen Einfluss auf die Gesamtstrafenbildung haben werden. Eine hiervon abweichende Beurteilung lässt sich nicht mit der Intention des Gesetzgebers in Einklang bringen und widerspräche auch der durch die Neufassung des § 141 StPO gestärkten Rechtsposition eines Beschuldigten, dessen Verteidigungsinteresse unabhängig davon besteht, in welchem Stadium sich das gegen ihn gerichtete Verfahren befindet.
2.
Die Entscheidung zu den Kosten folgt aus der analogen Anwendung des § 467 Absatz 1 StPO.


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