Strafrecht

Vorläufiges Berufs- oder Vertretungsverbot bei Ausschluss aus der Rechtsanwaltschaft

Aktenzeichen  BayAGH II – 3 – 9/21

Datum:
21.7.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BRAK-Mitt – 2021, 388
Gerichtsart:
Anwaltsgerichtshof
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:
BRAO § 150 Abs. 1 S. 1

 

Leitsatz

Ein vorläufiges Berufs- oder Vertretungsverbot gem. § 150 BRAO ist nur dann gerechtfertigt, wenn es aus präventiven Gründen erforderlich ist, um bereits vor rechtskräftigem Abschluss des Hauptverfahrens konkrete, durch Tatsachen begründete Gefahren für wichtige Gemeinschaftsgüter abzuwehren, die aus einer Berufsausübung des Betroffenen resultieren (vgl. BVerfG BeckRS 2020, 17573 Rn. 19 zu § 132a StPO). (Rn. 12) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

1. Auf die sofortige Beschwerde der Betroffenen wird der Beschluss der 3. Kammer des Anwaltsgerichts für den Bezirk der Rechtsanwaltskammer München vom 8.6.2021, Az. …, aufgehoben.
Der Antrag der Generalstaatsanwaltschaft auf Verhängung eines vorläufigen Berufs- oder Vertretungsverbots wird zurückgewiesen.
2. Die Kosten des Verfahrens einschließlich der Auslagen der Betroffenen trägt die Rechtsanwaltskammer München.

Gründe

I.
Die … Betroffene ist seit dem 17.4.1982 bei der Rechtsanwaltskammer München als Rechtsanwältin zugelassen. Sie war zunächst als freie Mitarbeiterin in einer Kanzlei tätig. Seit 1986 betreibt sie in Landshut selbständig eine Anwaltskanzlei. Die Betroffene ist Fachanwältin für Familienrecht, dort liegt auch der Schwerpunkt ihrer Tätigkeit (60 – 80% der Mandate). Derzeit arbeitet die Betroffene im Rahmen einer Sozietät mit einer weiteren Anwältin zusammen, die sie auch im berufsrechtlichen Verfahren verteidigt. Die Betroffene erhält aus dem Versorgungsausgleich nach der Scheidung von ihrem Ehemann eine monatliche Rente von 770 €. Im Übrigen finanziert sie ihren Lebensunterhalt aus den Einnahmen ihrer anwaltlichen Tätigkeit. Einzahlungen in das Versorgungswerk für Rechtsanwälte hat die Betroffene nicht geleistet. Ihr gehört eine Wohnung in Landshut, die vermietet ist. Mit den Mieteinnahmen tilgt sie das laufende Darlehen, mit der sie den Kauf finanziert hat. Außerdem ist sie Eigentümerin einer noch nicht vollständig fertiggestellten Doppelhaushälfte, deren Erwerb sie teils durch Eigenmittel, teils durch einen Kredit finanziert hat, den sie mit monatlichen Raten von 250,00 € tilgt.
Die Betroffene wurde durch das Anwaltsgericht für die Rechtsanwaltskammer München mit Urteil vom 8.6.2021 schuldig gesprochen, die ihr obliegende Pflicht, ihren Beruf gewissenhaft auszuüben und sich der Achtung und des Vertrauens würdig zu erweisen, welche die Stellung des Rechtsanwalts erfordert, schuldhaft verletzt zu haben, indem sie Untreue beging, Fremdgeld nicht unverzüglich weiterleitete, nach Beendigung des Mandats keine Abrechnung erstellte, die Mandantin nicht unverzüglich über alle für den Fortgang der Sache wesentlichen Vorgänge und Maßnahmen unterrichtete und insbesondere der Mandantin nicht von allen wesentlichen erhaltenen und versandten Schriftstücken Kenntnis gab, die Briefbögen mit einer falschen Kanzleibezeichnung versah, die Straftaten Parteiverrat in Tatmehrheit mit übler Nachrede beging, sich unsachlich verhielt und ihre anwaltliche Verschwiegenheitspflicht verletzte (§§ 113 Abs. 1, 43, 43a Abs. 2, 3, 5 BRAO, §§ 2, 10 Abs. 2 S. 3, 11 Abs. 1, Abs. 2, 23 BORA, §§ 356 Abs. 1, 186, 194, 53, 56 Abs. 1, 266 StGB, 146 StPO). Das Anwaltsgericht hat die Betroffene deshalb aus der Rechtsanwaltschaft ausgeschlossen. Mit Beschluss vom 8.6.2021 hat das Anwaltsgericht außerdem ein vorläufiges Vertretungsverbot auf dem Gebiet des Familienrechts verhängt.
Grundlage des Urteils des Anwaltsgerichts vom 8.6.2021, das der Betroffenen bislang noch nicht zugestellt worden ist, dem Senat allerdings in vollständiger Fassung kurz vor der mündlichen Verhandlung vom 21.7.2021 zugeleitet wurde, sind die Anschuldigungsschrift vom 14.9.2016, die Nachtragsanschuldigungsschrift vom 10.5.2019 und eine weitere Nachtragsanschuldigungsschrift vom 19.3.2021.
In der Anschuldigungsschrift vom 14.9.2016 wird der Betroffenen die Vereinnahmung eines gepfändeten Betrages von 2.134,65 € zur Last gelegt, den sie zur Deckung offener Unterhaltsansprüche der minderjährigen Kinder einer Mandantin beigetrieben hat. Ihr wird vorgeworfen, diesen Betrag im Dezember 2011 pflichtwidrig mit anderen Kontobewegungen verrechnet zu haben, anstelle diesen zeitnah an die Mandantschaft weiterzuleiten. Auch auf Nachfrage der Mandantin Mitte Januar 2012, die von ihrem Ehemann von der Pfändung erfahren habe, habe die Betroffene das Geld nicht ausbezahlt. Letztlich habe sie unberechtigt eine Verrechnung mit Honoraransprüchen vorgenommen und 2015 nur einen Restbetrag von 735,87 € ausgekehrt. Wegen dieses Vorwurfs wurde die Betroffene durch Urteil des Landgerichts Landshut vom 21.12.2015, Az… (AG Landshut: …) zu einer Geldstrafe von 60 Tagessätzen à 20,00 € verurteilt. Das Urteil ist seit 29.4.2016 rechtskräftig. Zum anderen ist Gegenstand der Anschuldigungsschrift vom 14.9.2016 die unbefugte Verwendung der Kurzbezeichnung „Anwaltskanzlei Braunstein & Kollegen“ auf dem Briefbogen der Kanzlei und auf der Homepage, die suggeriere, es seien nicht nur zwei, sondern mindestens drei zugelassene Rechtsanwälte bzw. -innen dort tätig.
In der Nachtragsanschuldigungsschrift vom 10.5.2019 wird der Betroffenen Parteiverrat und üble Nachrede vorgeworfen. Der zugrundeliegende Sachverhalt ist Gegenstand eines rechtskräftigen Urteils des Landgerichts Landshut, das gegen die Betroffene eine Bewährungsstrafe von 6 Monaten verhängt hat (Az. …). Die Revision der Betroffen hat das Oberlandesgericht München mit Beschluss vom 26.9.2018 verworfen. Der Vorwurf des Parteiverrats betrifft die Mandatsübernahme für zwei beschuldigte Frauen (Mutter und Tochter) im April 2016, die von ihrem Nachbarn wegen des Diebstahls eines Herrenschuhs angezeigt worden waren. Das Ermittlungsverfahren gegen beide Beschuldigte wurde im Sommer 2016 eingestellt. Hintergrund des Vorwurfs der üblen Nachrede sind schriftsätzliche Äußerungen der Betroffenen in Rahmen einer Gehörsrüge gegen eines Streitwertfestsetzung im Jahr 2016. Die Betroffene hatte die erstinstanzlich tätige Richterin beschuldigt, wissentlich falsche Angaben gemacht und falsch protokolliert zu haben. Zielgerichtet habe die Richterin den falschen Gegenstandswert festgesetzt, um ihre Dienstvergehen zu verschleiern.
Mit der weiteren Nachtragsanschuldigungsschrift wird der Betroffenen die Verletzung der Verschwiegenheitspflicht sowie Unsachlichkeit zur Last gelegt. Ihr wird vorgeworfen, im Jahr 2019 auf die negativen Kommentare zweier Mandanten in einem Bewertungsportal im Internet allgemein einsehbare Stellungnahmen abgegeben zu haben, in denen sie unbefugt höchstpersönliche Informationen aus den familienrechtlichen Mandatsverhältnissen offengelegt habe.
Die Betroffene ist berufsrechtlich vorgeahndet durch ein Urteil des Bayerischen Anwaltsgerichtshofs vom 10.11.2008, Az. … wegen nicht unverzüglicher Rücksendung eines Empfangsbekenntnisses; es wurde ein Verweis ausgesprochen und eine Geldbuße in Höhe von 300 € verhängt. Ein weiteres Verfahren wegen des Verstoßes gegen § 43 BRAO i.V.m. § 12 BORA wurde im Jahr 2012 nach §§ 116 BRAO, 153 StPO eingestellt.
Die Betroffene hat fristgerecht Berufung gegen das Urteil des Anwaltsgerichts und sofortige Beschwerde gegen die Anordnung des vorläufigen Vertretungsverbots eingelegt. Die Generalstaatsanwaltschaft hat ebenfalls sofortige Beschwerde gegen das vorläufige Vertretungsverbot eingelegt, sie begehrt ein vorläufiges umfassendes Berufsverbot.
Der Vorsitzende hat im Wege einer Eilentscheidung auf Antrag der Betroffenen mit Beschluss vom 8.7.2021 die Vollziehung des vorläufigen Vertretungsverbots bis zur mündlichen Verhandlung über die einstweilige Maßnahme am 21.7.2021 ausgesetzt.
II.
Auf die zulässige, insbesondere fristgerecht (§ 157 BRAO i.V.m. § 311 Abs. 2 S. 2 StPO) eingelegte sofortige Beschwerde der Betroffenen ist das vom Anwaltsgericht ausgesprochene vorläufige Vertretungsverbot vom 8.6.2021 aufzuheben. Der Antrag der Generalstaatsanwaltschaft auf Verhängung eines vorläufigen Berufs – oder Vertretungsverbots gemäß § 150 Abs. 1 BRAO ist zurückzuweisen, da die materiellen Voraussetzungen nicht vorliegen. Es fehlt an dem verfassungsrechtlich erforderlichen zusätzlichen Sicherungsgrund für die beantragte Präventivmaßnahme. Dementsprechend bleibt die zulässige sofortige Beschwerde der Generalstaatsanwaltschaft erfolglos.
1. Die Verhängung eines vorläufigen Berufs- oder Vertretungsverbots nach § 150 Abs. 1 BRAO erfordert nicht nur dringende Gründe, die die Annahme rechtfertigen, dass gegen einen Rechtsanwalt auf Ausschließung aus der Rechtsanwaltschaft erkannt werden wird. Der Ausschluss aus der Anwaltschaft ist die schärfste aller in Betracht kommenden berufsrechtlichen Maßnahmen; er muss erforderlich sein, um einer Gefährdung der Rechtspflege und einer Minderung des Ansehens der Anwaltschaft entgegenzuwirken. Zur Vermeidung unverhältnismäßiger Eingriffe in die Berufsfreiheit ist eine Gesamtwürdigung von Tat, Persönlichkeit und Gesamtverhalten vorzunehmen; nur wenn nach dem Erkenntnisstand zum Zeitpunkt der Entscheidung die Prognose gerechtfertigt ist, dass der Betroffene als Rechtsanwalt untragbar ist, weil von ihm eine Gefährdung der Rechtspflege ausgeht, darf auf die Ausschließung erkannt werden (BGH StV 1992, 28; BGHSt 39, 281 (285) = NJW 1994, 206).
Gleichwohl gibt es keinen Automatismus, dass mit einem solchen Urteil wenigstens ein vorläufiges Vertretungsverbot zu verhängen sei, vielmehr sieht das Gesetz vor, dass erst mit Rechtskraft des Urteils die Ausschließung wirksam wird, § 203 BRAO. Die Anordnung eines vorläufigen Berufs- oder Vertretungsverbots, das in erheblicher Intensität in grundrechtlich geschützte Rechtspositionen von hoher Bedeutung eingreift und zudem in gewissem Umfang die Hauptsache vorwegnimmt, ist nur dann gerechtfertigt, wenn aus präventiven Gründen eine solche Maßnahme erforderlich ist, um bereits vor rechtskräftigem Abschluss des Hauptverfahrens konkrete, durch Tatsachen begründete Gefahren für wichtige Gemeinschaftsgüter abzuwehren, die aus einer Berufsausübung des Betroffenen resultieren (vgl. BVerfG vom 2.7.2020, 1 BvR 1627/19 – zu einer Anordnung nach § 132a StPO). Besondere Feststellungen über eine solche Gefährdung sind nur dann entbehrlich, wenn bereits Art und Schwere der Pflichtwidrigkeit als solche diese Gefährdung indizieren, wobei allerdings auch zu berücksichtigen ist, wie lange die Verfehlungen zurückliegen. Die Gefahrenlage und die Notwendigkeit, der Gefährdungssituation durch die Verhängung eines vorläufigen Berufsverbots entgegenzuwirken, muss positiv festgestellt werden, es muss mit anderen Worten – unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes – ein sofortiges Einschreiten zur Abwehr dieser Gefahren geboten sein (AHG Schleswig vom 6.7.2010, 1 AGH 3/10; AGH Hamm vom 10.1.2020, 2 AGH 23/19 und vom 2.10.2020, 2 AGH 22/19). Lässt sich nicht anhand konkreter Tatsachen feststellen, dass das Risiko eines Schadens für wichtige Gemeinschaftsgüter höher ist als die Wahrscheinlichkeit, dass es bis zur Rechtskraft der Entscheidung nicht zu weiteren Schäden im Rahmen der Berufsausübung des Betroffenen kommt, ist für ein vorläufiges Berufs- oder Vertretungsverbot kein Raum.
2. Ausgehend von diesen Grundlagen liegen jedenfalls zum jetzigen Zeitpunkt die Voraussetzungen für die Anordnung einer vorläufigen Maßnahme nicht vor.
a) Das vom Anwaltsgerichts angeordnete vorläufige Vertretungsverbot in Familiensachen greift angesichts des Zuschnitts der Kanzlei, bei der ca. 60 – 80% der Mandate dem Familienrecht zuzuordnen sind, intensiv in die Berufsfreiheit der Betroffenen ein. Es ist damit zu rechnen, dass damit die Kanzlei nicht mehr kostendeckend betrieben werden kann. Die einzige weitere in der Kanzlei tätige Rechtsanwältin, die Verteidigerin der Betroffenen, ist wegen der durch die Betreuung pflegebedürftiger Familienangehöriger resultierenden Belastung nicht in der Lage, in nennenswerter Zahl laufende familienrechtliche Mandate zu übernehmen, wie die Betroffene dargelegt hat. Selbst wenn die Rechtsanwaltskammer bis zur Entscheidung in der Hauptsache einen Vertreter bestellt – was von der Generalstaatsanwaltschaft beantragt wurde – ist ein massiver Vertrauensverlust der Mandanten und ein endgültiger Verlust zahlreicher Mandatsbeziehungen zu erwarten. Dies gilt erst recht für das von der Generalstaatsanwaltschaft angestrebte vorläufige Berufsverbot.
b) Zwar liegen der Betroffenen erhebliche und schwerwiegende Pflichtverletzungen zur Last. Angesichts der beiden rechtskräftigen Verurteilungen und der aktenkundigen, von der Betroffenen auch nicht in Abrede gestellten Stellungnahmen zu den negativen Kommentaren zweier Mandanten im Internet erscheint es im Rahmen einer summarischen Prüfung durchaus wahrscheinlich, dass Pflichtverletzungen festzustellen sind, die einer empfindlichen Ahndung bedürfen, wobei auch ein Ausschluss der Betroffenen aus der Anwaltschaft in Betracht zu ziehen sein wird. Dennoch muss es der Verhandlung in der Hauptsache vorbehalten bleiben, wie die von der Betroffenen vorgebrachten Aspekte, die sie zur Rechtfertigung bzw. Entschuldigung ihres Vorgehens vorbringt, in der Gesamtschau zu würdigen sind. Selbst wenn man unterstellt, dass die Betroffene wegen der Art, Schwere und Zahl der Pflichtverletzungen aus der Anwaltschaft auszuschließen ist, erscheint die Anordnung einer vorläufigen Maßnahme aus nachfolgenden Gründen nicht angezeigt.
c) Sowohl ein vorläufiges Vertretungsverbot als auch ein vorläufiges Berufsverbot würde für die Betroffene, die seit 39 Jahren als Rechtsanwältin tätig ist, wahrscheinlich das Ende ihrer beruflichen Tätigkeit vor der rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache bedeuten. Entsprechend gewichtige Gründe müssten vorliegen, um diesen Eingriff zu rechtfertigen, was nicht der Fall ist.
Allein aus Art und Gewicht der Verstöße, die Gegenstand der Verurteilung durch das Anwaltsgericht sind, vermag der Senat nicht den Schluss zu ziehen, dass eine vorläufige Maßnahme notwendig ist, um präventiv konkrete drohende Gefahren im Zusammenhang mit der Berufsausübung der Betroffenen bis zur endgültigen Entscheidung zu verhüten. Die der Betroffenen zur Last gelegte Untreuehandlung (sowie die damit einhergehenden berufsrechtlichen Pflichtverletzungen) fällt in das Jahr 2011/2012, liegt mithin ganz erhebliche Zeit zurück. Weitere Untreuehandlungen sind seitdem nicht bekannt geworden. Auch kann nicht festgestellt werden, dass die finanzielle Lage der Betroffenen so angespannt ist, dass ein kurzfristiger unbefugter Zugriff auf Mandantengelder zu befürchten wäre. Tatzeit des Parteiverrats und der üblen Nachrede ist das Jahr 2016, auch insoweit sind mehrere Jahre verstrichen. Soweit der Betroffenen in einem weiteren Verfahren wegen Äußerungen über eine Richterin strafrechtliche Vorwürfe gemacht werden, wurde die zwischenzeitliche Verurteilung aufgehoben; der Ausgang des Strafverfahrens bleibt abzuwarten. Die Stellungnahmen der Betroffenen zu negativen Kommentaren zweier Mandanten im Internet stammen zwar aus dem Jahr 2019. Es liegen jedoch keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür vor, dass in der nächsten Zeit erneut Mandanten derartige Kommentare schreiben und dies die Betroffene wiederum zu Stellungnahmen veranlasst, bei denen sie die Grenzen der Wahrnehmung berechtigter Interessen überschreitet.
Soweit das Anwaltsgericht und die Generalstaatsanwaltschaft darauf abstellen, dass die Betroffene gänzlich uneinsichtig sei und deshalb jederzeit weitere vergleichbare Pflichtverletzungen zu befürchten seien, hat die Betroffene beim Senat einen etwas anderen Eindruck hinterlassen. Es ist nicht zu verkennen, dass die Betroffene ihre Rechtspositionen mit großem Nachdruck und verbaler Vehemenz vertritt. Sie fühlt sich zu Unrecht von staatlicher Seite verfolgt und ungerecht behandelt, und sie sieht sich ihrerseits als „Kämpferin des Rechts“. Die Betroffene ist aus verschiedensten Gründen der Meinung, dass ihr keine Pflichtverletzung vorzuwerfen sei und dass die gehörten Zeugen über sie Unwahrheiten verbreiten, was sie nicht hinnehmen will. Dass die Betroffene an Rechtsstandpunkten festhält, die aus ihrer Sicht ihr Verhalten rechtfertigen oder zumindest nachvollziehbar erscheinen lassen, kann ihr nicht zum Vorwurf gemacht werden, sondern ist Teil ihres Rechts auf Verteidigung gegen die Anschuldigungen. Inwieweit den Argumenten gefolgt werden kann bzw. ob damit etwaige Verfehlungen in einem milderen Licht erscheinen, bleibt der Entscheidung in der Hauptsache vorbehalten. Auch die Frage, ob die Betroffene im Juni 2021 durch ihre Stellungnahme zu einem Antrag auf Prozesskostenhilfe gegen das vorläufige Vertretungsverbot verstoßen hat, oder ob sie sich – wie sie meint – noch im Rahmen der zulässigen Tätigkeit bewegt hat, wird zu gegebener Zeit zu prüfen sein. Ein erneuter Verstoß würde voraussetzen, dass es bei einem vorläufigen Verbot verbleibt; dass ohne die Anordnung eines vorläufigen Berufs- oder Vertretungsverbots konkrete Gefahren für wesentliche Gemeinschaftsgüter drohen, lässt sich damit nicht begründen. Es mag zwar immer wieder Beschwerden gegen die Betroffene gegeben haben, diese haben allerdings bislang nicht zu weiteren berufsrechtlichen Maßnahmen geführt. Die berufsrechtlichen Vorahndungen liegen weit in der Vergangenheit und waren von geringem Gewicht. Weiterhin waren die kurzfristigen und erheblichen Nachteile für zahlreiche Mandanten zu berücksichtigen, die ein vorläufiges Berufs- oder Vertretungsverbot nach sich ziehen würde.
Von zentraler Bedeutung war jedoch, dass die Betroffene ersichtlich den Ernst ihrer Lage erkannt und sich in der mündlichen Verhandlung sehr wohl beeindruckt gezeigt hat. Sie will ihren Beruf keinesfalls verlieren und sie ist sich bewusst, dass sie „unter Beobachtung“ steht, es somit gilt, auch nur den Verdacht einer möglichen weiteren Pflichtverletzung zu vermeiden. Die Betroffene hat deutlich gemacht, dass sie ihre anwaltlichen Pflichten kennt und zu respektieren gewillt ist; insbesondere die Vertraulichkeit des Mandatsverhältnisses hat die Betroffene als wichtige anwaltliche Pflicht anerkannt. Zu der kurzzeitigen Erhebung von Klagen gegen die beiden vormaligen Mandanten ist festzustellen, dass diese zeitnah wieder zurückgenommen worden sind, auch hat die Betroffene noch während der Verhandlung vor dem Anwaltsgericht die im Internet veröffentlichten Texte erheblich abgeändert bzw. abgeschwächt. Hintergrund der Klagen war im Übrigen die Diskussion vor dem Anwaltsgericht, welche Möglichkeiten die Betroffene habe, sich ohne Verletzung ihrer beruflichen Pflichten gegen unwahre Behauptungen von Mandanten wehren zu können. Die Betroffene hat zunächst ihren Vortrag in den Klageschriften zur Substantiierung und Darlegung des Sachverhalts für erforderlich gehalten, nunmehr hat sie jedoch glaubhaft bekundet, sie würde sich zunächst um eine gütliche Einigung mit den Mandanten bemühen. Falls es doch noch zu einer gerichtlichen Auseinandersetzung komme, wolle sie sich an den Hinweisen des Anwaltsgerichts orientieren und sich auf eine möglichst knappe Schilderung des Sachverhalts beschränken.
Darüber hinaus beabsichtigt der Senat, über die Berufung der Betroffenen noch im Herbst nach Ende der Urlaubszeit zu verhandeln, so dass der Zeitraum bis zur Entscheidung in der Hauptsache überschaubar ist. Bei dieser Sachlage erscheint es weder erforderlich noch verhältnismäßig, die berufliche Tätigkeit der Betroffenen durch eine vorläufige Maßnahme ganz oder teilweise bis zur Hauptsacheentscheidung zu unterbinden.
3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 116 BRAO i.V.m. § 467 Abs. 1 StPO.


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