Strafrecht

wiederholt gegen verkehrsrechtliche Vorschriften verstoßen, Anforderung an Ermessenserwägungen bei der Anordnung der Vorlage eines medizinisch-psychologischen Gutachtens

Aktenzeichen  B 1 E 21.705

Datum:
22.6.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 41371
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Bayreuth
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 123
FeV § 11 Abs. 3 S. 1 Nr. 4

 

Leitsatz

Tenor

1. Der Antrag wird abgelehnt.
2. Der Antragsteller hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
3. Der Streitwert wird auf 3.750,00 EUR festgesetzt.

Gründe

I.
Der Antragsteller begehrt die Neuerteilung der Fahrerlaubnis für die Klassen A2, A1, AM, B und L durch das Landratsamt … (Landratsamt).
Am 22. Januar 2021 erging ein Strafbefehl des Amtsgerichts … gegenüber dem Antragsteller. Hiernach legte die Staatsanwaltschaft dem Antragsteller zur Last, am 15. September 2020 gegen 19.45 Uhr mit dem Kraftrad unter grober Außerachtlassung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt an der Einmündung eines Parkplatzstreifens zu schnell gefahren zu sein. Im unübersichtlichen Kurven- und Einfahrtsbereich sei die rechte Fahrbahn nicht eingehalten worden. Dies habe vorwerfbar und vermeidbar die Folge gehabt, dass es beinahe zum Zusammenstoß mit einem Pkw gekommen sei. Am 13. Juli 2020 und am 26. Juli 2020 sei der Antragsteller auf einer kurvenreichen Straße mit dem Kraftrad mit nicht angepasster Geschwindigkeit gefahren. Dabei sei auch die Mittellinie überfahren worden und der Antragsteller habe sich in Schräglage befunden, um eine möglichst hohe Geschwindigkeit zu erreichen. Die Taten seien strafbar als fahrlässige Gefährdung des Straßenverkehrs in Tateinheit mit verbotenem Kraftfahrzeugrennen und verbotenes Kraftfahrzeugrennen in zwei Fällen gemäß §§ 315c Abs. 1 Nr. 2d, e, Abs. 3 Nr. 1, 315 d Abs. 1 Nr. 3, 69, 69a, 52, 53 StGB, §§ 1, 105 JGG. Es werde eine Gesamtgeldstrafe von 110 Tagessätzen zu 10 EUR verhängt, die Fahrerlaubnis werde entzogen, der Führerschein eingezogen. Die Verwaltungsbehörde dürfe für die Dauer von 10 Monaten keine neue Fahrerlaubnis erteilen (§§ 69, 69a StGB).
Nach Beschränkung auf den Rechtsfolgenausspruch wurde mit Urteil des Amtsgerichts … vom 15. März 2021 (rechtskräftig seit dem 24. März 2021) eine (Gesamt-) Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu je 10 EUR festgesetzt, die Fahrerlaubnis entzogen, der Führerschein eingezogen und die Verwaltungsbehörde angewiesen, vor Ablauf von 3 Monaten keine neue Fahrerlaubnis zu erteilen.
Der Antragsteller beantragte am 19. April 2021 die Erteilung der Fahrerlaubnis beim Landratsamt.
Dieses forderte den Antragsteller mit Schreiben vom 27. Mai 2021 (zugestellt am 1. Juni 2021) gemäß § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 FeV zur Vorlage eines medizinisch-psychologischen Gutachtens bis zum 1. September 2021 auf. Das Amtsgericht … habe festgestellt, dass sich der Antragsteller durch die oben genannten Taten als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erwiesen habe. Auf Grund der verkehrsrechtlichen Verstöße bestünden Zweifel an der Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen. Auf Grund der mehrfach begangenen Vergehen im Straßenverkehr und dem damit gezeigten Verhaltensmuster hätten sich die Fahreignungszweifel so erheblich verstärkt, dass nach Abwägung der Gesamtumstände das nach § 11 Abs. 3 FeV eingeräumte Ermessen derart reduziert werde, dass ein Gutachten angefordert werde. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sei gewahrt. Durch das Gutachten könne geklärt werden, ob in Zukunft wiederholt gegen verkehrsrechtliche Vorschriften verstoßen werde. Die Anordnung sei das mildeste Mittel. Aufgrund des hohen Gefährdungspotentials, das von Kraftfahrern ausgehe, die wiederholt gegen verkehrsrechtliche Bestimmungen verstoßen würden, müssten die persönlichen Interessen hinter der Verpflichtung zur Erhaltung der Sicherheit im Straßenverkehr zurückstehen. Das Gutachten solle folgende Fragen beantworten:
„Ist trotz der aktenkundigen wiederholten Verstöße gegen verkehrsrechtliche Vorschriften zu erwarten, dass Herr K. nicht wiederholt gegen verkehrsrechtliche Bestimmungen verstoßen wird?“
Werde das Gutachten nicht vorgelegt, so müsse nach § 11 Abs. 8 FeV auf die Nichteignung geschlossen werden. Der Antrag auf Erteilung der Fahrerlaubnis müsse dann versagt werden.
Mit Schreiben seiner Bevollmächtigten vom 14. Juni 2021, eingegangen beim Verwaltungsgericht Bayreuth am selben Tage, ließ der Antragsteller im Wege des § 123 VwGO beantragen,
die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger die Fahrerlaubnis der Klassen A2, A1, AM, B und L zu erteilen.
Zur Begründung ist ausgeführt, dass mit Strafbefehl vom 22. Januar 2021 eine Gesamtgeldstrafe von 110 Tagessätzen und eine Sperre von 10 Monaten verhängt worden sei. Gegen diesen Strafbefehl sei mit der Begründung Einspruch eingelegt worden, dass es sich um ein jugendtypisches „Posing“ gehandelt habe und zum 1. Juli 2021 eine Tätigkeit bei der Bundeswehr angetreten werde, bei welcher die Fahrerlaubnis zwingende Voraussetzung sei. Daraufhin sei der Schuldspruch auf 90 Tagessätze nebst Sperre von 3 Monaten abgeändert worden. Die Abänderung sei unter dem Hinblick erfolgt, dass dem Antragsteller die angestrebte berufliche Laufbahn nicht verwehrt werden solle, da nach diesem Zeitpunkt nicht mehr von Ungeeignetheit ausgegangen werden müsse.
Es sei damit festzustellen, dass der zuständige Strafrichter die Auffassung vertreten habe, nach dem 15. Juni 2021 sei nicht mehr von Ungeeignetheit zur Teilnahme am Straßenverkehr auszugehen. Das medizinisch-psychologische Gutachten könne nicht bis Ende Juni 2021 vorgelegt werden, sodass damit zu rechnen sei, dass die Fahrerlaubnis nicht bis zum 30. Juni 2021 erteilt werde. Der Antragsteller müsse in diesem Fall davon ausgehen, dass sein Arbeitsvertrag bei der Bundeswehr fristlos gekündigt werde. Es sei davon auszugehen, dass das medizinisch-psychologische Gutachten zur Geeignetheit vorgelegt werden könne, aber nicht bis zu der zum Stelleneintritt verbleibenden Zeit. Der Schaden sei somit gering, zumal bei fehlender Geeignetheit die Fahrerlaubnis auch jederzeit entzogen werden könne.
Die Bevollmächtigte des Antragstellers überreichte mit Schreiben vom 18. Juni 2021 eine eidesstattliche Versicherung des Antragstellers und ein Anschreiben der Bundeswehr vom 18. Februar 2021 (Einstellung mit dem Dienstgrad als Jäger FA, Dienstantritt 1. Juli 2021, Aushändigung einer Ernennungsurkunde nach Dienstantritt zum Soldaten auf Zeit) sowie eine Zustimmung zur MPU, für welche aber noch kein Termin zugeteilt worden sei. In der eidesstattlichen Versicherung führt der Antragsteller aus, dass er befürchte, dass er die Stelle nicht antreten dürfe bzw. ihm die Stelle gekündigt werde, wenn eine Fahrerlaubnis nicht vorhanden sei.
Das Landratsamt legte am 22. Juni 2021 die Akten vor.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vortrags der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte und die beigezogene Behördenakte Bezug genommen (§ 117 Abs. 3 Satz 2 VwGO analog).
II.
Der zulässige Antrag ist unbegründet.
1. Nach § 123 Abs. 1 VwGO kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte, oder auch wenn es zur Regelung nötig erscheint, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, um wesentliche Nachteile für den Antragsteller abzuwenden. Nach § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO sind dabei sowohl ein Anordnungsanspruch, d.h. der materielle Anspruch, für den der Antragsteller vorläufigen Rechtsschutz sucht, als auch ein Anordnungsgrund, der insbesondere durch die Eilbedürftigkeit einer vorläufigen Regelung begründet wird, gemäß § 920 Abs. 2 i.V.m. § 294 Abs. 1 ZPO glaubhaft zu machen. Nach dem Wesen und Zweck des vorläufigen Rechtsschutzes darf das Gericht nur vorläufige Regelungen treffen und dem Antragsteller dabei nicht schon das gewähren, was er im Falle des Obsiegens in der Hauptsache erreichen würde (Schenke in Kopp/Schenke, VwGO, 24. Aufl. 2018, § 123 Rn. 13 f.). Allenfalls unter engen Voraussetzungen können im Hinblick auf Art. 19 Abs. 4 GG die Wirkungen einer Entscheidung in der Hauptsache vorweggenommen werden; so wenn der Antragsteller beim Abwarten der Entscheidung in der Hauptsache sein Rechtschutzziel nicht mehr erreichen kann, ihm dadurch unzumutbare, irreparable Nachteile entstünden und eine hohe Wahrscheinlichkeit eines Obsiegens in der Hauptsache besteht (Schenke, a.a.O. § 123 Rn. 26). In Anbetracht der erheblichen Gefahren für hochrangige Rechtsgüter Dritter, mit der die Zuerkennung einer Fahrberechtigung an einen nicht geeigneten oder befähigten Kraftfahrer einhergeht, setzt der Erlass einer einstweiligen Anordnung eine deutlich überwiegende Wahrscheinlichkeit für das Bestehen der Fahrberechtigung voraus. Sie hat dessen ungeachtet mit Rücksicht auf den gebotenen Schutz von Leben und Gesundheit Dritter zu unterbleiben, wenn überwiegende, besonders gewichtige Gründe einer solchen Interimsregelung entgegenstehen (vgl. BayVGH, B.v. 28.11.2014 – 11 CE 14.1962 – juris Rn. 11).
2. Gemessen hieran hat der Antragsteller schon keinen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Ob im Hinblick auf seine am 1. Juli 2021 zu beginnende Tätigkeit bei der Bundeswehr ein Anordnungsgrund vorliegt, muss daher nicht entschieden werden.
Nach § 20 Abs. 1 der Verordnung über die Zulassung von Personen zum Straßenverkehr (Fahrerlaubnis-Verordnung – FeV) gelten für die Neuerteilung einer Fahrerlaubnis die Vorschriften über die Ersterteilung. Gemäß § 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 Straßenverkehrsgesetz (StVG) besteht ein Anspruch auf Erteilung einer Fahrerlaubnis nur, wenn der Bewerber zum Führen von Kraftfahrzeugen geeignet ist. Das Bestehen der Fahreignung wird vom Gesetz mithin positiv als Voraussetzung für die Erteilung einer Fahrerlaubnis gefordert. Solange also Zweifel an der Fahreignung bestehen und sie nicht ausgeräumt sind, wirkt sich dies zu Lasten des Bewerbers aus. Hieraus folgt ferner, dass eine gerichtliche Verpflichtung des zuständigen Trägers öffentlicher Gewalt zur Erteilung einer Fahrerlaubnis nicht nur dann ausscheidet, wenn die Nichteignung einer Person erwiesen ist; ein dahingehender Anspruch besteht auch dann nicht, solange lediglich Eignungszweifel noch nicht ausgeräumt sind (vgl. BayVGH, B.v. 23.2.2010 – 11 CE 09.2812 – juris).
Für die Eignung müssen die notwendigen körperlichen und geistigen Anforderungen erfüllt werden. Davon kann nach § 11 Abs. 1 Satz 2 FeV insbesondere dann nicht ausgegangen werden, wenn eine Erkrankung oder ein Mangel nach Anlage 4 oder 5 der Fahrerlaubnis-Verordnung vorliegt. Außerdem dürfen die Bewerber nicht erheblich oder nicht wiederholt gegen verkehrsrechtliche Vorschriften oder Strafgesetze verstoßen haben, so dass dadurch die Eignung ausgeschlossen wird (§ 2 Abs. 4 Satz 1 StVG, § 11 Abs. 1 Satz 3 FeV). Gibt es hinreichende Anhaltspunkte, die die körperliche, geistige oder charakterliche Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen in Frage stellen, ist die Fahrerlaubnisbehörde nach Maßgabe der §§ 11 bis 14 FeV berechtigt bzw. in näher bestimmten Fällen verpflichtet, Maßnahmen zur Aufklärung bestehender Fahreignungszweifel zu ergreifen. Bei einer erheblichen Straftat, die im Zusammenhang mit dem Straßenverkehr steht, oder bei (mehreren) Straftaten, die im Zusammenhang mit dem Straßenverkehr stehen, kann die Fahrerlaubnisbehörde zur Klärung von Eignungszweifeln die Beibringung eines Gutachtens einer amtlich anerkannten Begutachtungsstelle für Fahreignung (medizinisch-psychologisches Gutachten) anordnen, § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 FeV. Selbiges gilt nach § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 FeV bei einem erheblichen Verstoß oder wiederholten Verstößen gegen verkehrsrechtliche Vorschriften.
Hiernach hat der Antragsteller erst dann einen Anspruch auf Erteilung der beantragten Fahrerlaubnis, wenn keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür bestehen, dass er nicht die körperliche, geistige oder charakterliche Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen besitzt, so dass der Antragsgegner als Fahrerlaubnisbehörde nicht berechtigt ist, nach Maßgabe der §§ 11 bis 14 FeV Maßnahmen zur Aufklärung von Fahreignungszweifel zu ergreifen. Dass solche Anhaltspunkte hier nicht vorliegen und der Antragsgegner nicht berechtigt ist, weitere Aufklärungsmaßnahmen anzuordnen, hat der Antragsteller nicht glaubhaft gemacht.
a) Der Antragsteller hat Fahreignungszweifel nicht schon durch die Feststellungen des Amtsgerichts zur Sperrzeitverkürzung ausgeräumt.
Die strafgerichtliche Entziehung der Fahrerlaubnis aufgrund von § 69 StGB ist eine Maßregel der Besserung und Sicherung, deren Verhängung ausschließlich von der Frage der Ungeeignetheit zum Führen von Kraftfahrzeugen abhängt (vgl. Dauer in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 43. Aufl. 2015, § 69 StGB Rn. 1 und 12 m.w.N.). Der strafgerichtlichen Feststellung der Ungeeignetheit kommt dabei keinesfalls eine geringere Bedeutung zu als der verwaltungsbehördlichen. Vielmehr hat der Gesetzgeber in § 3 Abs. 3 und 4 StVG der strafgerichtlichen Entziehung den Vorrang eingeräumt. Allein der Ablauf der vom Strafgericht festgelegten Sperrfrist gemäß § 69a StGB führt nicht dazu, dass wieder von der Fahreignung auszugehen ist. Die zeitliche Befristung der Sperre bedeutet nicht, dass die vom Strafrichter nach Maßgabe des § 69 Abs. 1 und 2 StGB verneinte Eignung mit dem Ablauf der Sperre automatisch wieder zu bejahen wäre. Die Sperrfrist gibt nur den Mindestzeitraum an, währenddessen der Verurteilte infolge seiner aus der begangenen Straftat abgeleiteten Gefährlichkeit für den Straßenverkehr in jedem Falle als ungeeignet anzusehen ist. Ob die eignungsausschließende Gefährlichkeit fortbesteht, ist im Anschluss daran von der Straßenverkehrsbehörde auch bei Ersttätern eigenständig zu beurteilen (VG Bayreuth, B.v. 25.9.2018 – B 1 E 18.945 – juris und VG Augsburg, B.v. 7.4.2016 – Au 7 K 15.1781 – juris Rn. 27). Aus diesem Grund mag die Sperre zwar vom Amtsgericht Forchheim auf Grund der anstehenden Tätigkeit bei der Bundeswehr verkürzt worden sein. Dies führt aber nicht dazu, dass das Strafgericht auch für die Zeit danach eine Kraftfahreignung festgestellt hat, da dies Aufgabe der Fahrerlaubnisbehörde ist. Deshalb finden sich hierzu auch keine weiteren Ausführungen im Urteil.
b) Eine Gutachtenanforderung kann vorliegend auf § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 FeV gestützt werden, weil der Antragsteller wiederholt Verstöße gegen verkehrsrechtliche Vorschriften begangen hat. § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 FeV eröffnet der Fahrerlaubnisbehörde eine Ermessensentscheidung. Bei der Beantwortung der Frage, ob die bestehenden Eignungszweifel ein hinreichendes, die Einholung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens rechtfertigendes Gewicht aufweisen, muss die Behörde im Rahmen ihrer Ermessensausübung Wertungswidersprüche zu anderen die Fahreignung bzw. die Möglichkeiten einer Begutachtung betreffenden Vorschriften vermeiden und ein Vorgehen außerhalb des Punktsystems ausreichend und zutreffend begründen (vgl. BayVGH, B.v. 7.8.2014 – 11 CS 14.352 – NJW 2014, 3802 = juris Rn. 20; B.v. 7.11.2013 – 11 CS 13.1779 – juris Rn. 13). Daher genügt es nicht aufzuzeigen, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen der Ermächtigung erfüllt sind (vgl. BVerwG, U.v. 17.11.2016 – 3 C 20.15 – BVerwGE 156, 293 = juris Rn. 38), sondern es ist darüber hinaus darzulegen, aus welchen besonderen Gründen die Verkehrssicherheit und die Sicherheit der anderen Verkehrsteilnehmer die Ermittlungsmaßnahme ausnahmsweise gebieten (BayVGH, B.v.10.2 2021 – 11 ZB 20.2642 – juris Rn. 19).
Dieses Ermessen wurde vom Antragsgegner vorliegend noch nicht hinreichend ausgeübt, da in der Gutachtensanordnung zum einen fast ausschließlich der Sachverhalt des Strafbefehls wiederholt wurde. Zum anderen hat sich die Fahrerlaubnisbehörde nicht mit den Regelungen des Punktesystems auseinandergesetzt. Zu den Anforderungen an die Ermessensausübung wird auf die Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs Bezug genommen (B.v. 7.8.2014 – 11 CS 14.352 – juris Rn. 26 f.): „Für ein Vorgehen der Fahrerlaubnisbehörde außerhalb des Punktsystems bestehen nach der Rechtsprechung hohe Anforderungen. Je schwerer eine Verletzung gesetzlicher Vorschriften in Beziehung auf die Verkehrssicherheit wiegt oder je häufiger der Betroffene gegen gesetzliche Vorschriften verstößt, desto geringere Anforderungen sind an die Ermessensbetätigung zu stellen. Umgekehrt kann eine Gutachtensanordnung wegen eines einmaligen erheblichen oder wegen wiederholter weniger nichterheblicher Verstöße gegen verkehrsrechtliche Vorschriften nur Bestand haben, wenn die Fahrerlaubnisbehörde über eine schematische Bezugnahme auf die Verkehrsverstöße hinaus tatsächliche Ermittlungen und Erwägungen angestellt hat, die eine solche Entscheidung im Einzelfall zu tragen vermögen. In diese Betrachtung hat weiter das vom Gesetzgeber eingeführte Punktsystem (§ 4 StVG, §§ 40 ff FeV, Anlage 13 zur FeV) einzufließen. (…) Aus dem Punktsystem ergibt sich aber auch, dass der Gesetzgeber bewusst die weitere Straßenverkehrsteilnahme von Kraftfahrern mit einem nicht unerheblichen „Sündenregister“ in Kauf genommen und die Entziehung der Fahrerlaubnis von der zuvor eingeräumten Möglichkeit, Angebote und Hilfestellungen wahrzunehmen, abhängig gemacht hat (vgl. BayVGH, B.v. 2.6.2013 – 11 CS 03.743 – juris). (…) Maßnahmen außerhalb des Punktsystems wie die Entziehung der Fahrerlaubnis oder zumindest die Anordnung zur Beibringung eines Eignungsgutachtens sind deshalb nur in besonderen Ausnahmekonstellationen zulässig, wenn ein Fahrerlaubnisinhaber beispielsweise durch die beharrliche und häufige Begehung von – isoliert betrachtet auch nicht gewichtigen – Verkehrszuwiderhandlungen oder durch einen erheblichen Verkehrsverstoß verkehrsauffällig geworden ist und sich aus einem derartigen Verhalten Fahreignungsmängel oder zumindest Eignungsbedenken in charakterlicher Hinsicht ableiten lassen (vgl. VGH BW, B.v. 18.03.2010 – 10 S 2234/09). Die Fahrerlaubnisbehörde muss dabei im Einzelnen unter Auswertung aller konkreten Umstände näher begründen, warum sie aus besonderen Gründen im Einzelfall, der sich erheblich vom Normalfall sonstiger Verkehrsteilnehmer mit einem Punktestand abheben muss, aufgrund einer Würdigung der Gesamtpersönlichkeit des Kraftfahrers oder wegen der Art, der Häufigkeit oder des konkreten Hergangs der Verkehrsverstöße Eignungsbedenken hegt, die sofortige weitergehende Aufklärungsmaßnahmen etwa durch eine medizinisch-psychologische Untersuchung gebieten, ohne dem Betroffenen die Chance zu belassen, zuvor die abgestuften Hilfsangebote des § 4 StVG wahrzunehmen.“
Das Ermessen des Antragsgegners ist allerdings nicht derart eingeengt, dass eine Entscheidung, ob ein Gutachten anzufordern ist, nur dahin ergehen kann, von einer Anordnung abzusehen. Mit ausreichenden Ermessenserwägungen ist auch im vorliegenden Fall eine erneute Gutachtensanordnung denkbar. Geeignete Ermessenserwägungen waren für den Bayerische Verwaltungsgerichtshof außerhalb des Punktesystems, wenn „das gezeigte Verhalten durch ein hohes Aggressionspotential, eine Neigung zur Unbeherrschtheit und die Bereitschaft gekennzeichnet war, unter grober Außerachtlassung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt eigensüchtige Motive zu verfolgen und bedenkenlos das Leben, die Gesundheit oder das Eigentum anderer Verkehrsteilnehmer zu gefährden“ (BayVGH, B.v. 10.2.2021 – 11 ZB 20.2642 – juris Rn. 20). In die Ermessenserwägungen kann somit einfließen, dass der Antragsteller aus Gleichgültigkeit gegenüber anderen Verkehrsteilnehmern gehandelt hat, allein um des schnelleren Fortkommens willen und er von vornherein keine Bedenken gegen diese Fahrweise hatte (Ausführungen im Strafbefehl). Hierfür genügt es aber nicht, den Inhalt des Strafbefehls wörtlich zu übernehmen und die Ermessenserwägungen allein damit zu begründen, dass „nach Abwägung der Gesamtumstände“ das Ermessen „derart reduziert wird“, dass die Beibringung eines Gutachtens anzuordnen ist oder, dass ein „hohes Gefährdungspotential“ von Kraftfahrern ausgeht, „die wiederholt gegen verkehrsrechtliche Vorschriften verstoßen“ (Ermessenserwägungen des Landratsamts in der Anordnung zur Vorlage eines Fahreignungsgutachtens). Aus den Formulierungen des Landratsamts wird nicht klar, ob es darauf abstellt, dass es sich um wiederholte Verstöße handelt (dann Auseinandersetzung mit dem Punktesystem) oder dass es die Verstöße für so außerordentlich hält, dass ein Abwarten des Durchlaufens des Punktesystems auf Grund der Wiederholungsgefahr und der damit befürchteten Gefahr für Leib und Leben anderer Verkehrsteilnehmer nicht gerechtfertigt wäre (vgl. hierzu auch BayVGH, B.v. 7.11.2013 – 11 CS 13.1779 – juris Rn. 14 – bei Vorliegen eines hohen Aggressionspotentials).
3. Da nicht von vornherein auszuschließen ist, dass der Antragsgegner unter Berücksichtigung der vorstehenden Ausführungen gleichwohl die Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens in rechtmäßiger Weise anordnen kann, kommt eine Vorwegnahme der Hauptsache nicht in Betracht. Auch der Umstand, dass der Antragsteller nach seinen Angaben die Fahrerlaubnis für die Ausübung seiner Berufstätigkeit benötigt, führt nicht zu einer anderen Entscheidung. Das Interesse der Allgemeinheit an der Sicherheit des Straßenverkehrs und der aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG abzuleitende Auftrag des Staates zum Schutz der Verkehrsteilnehmer vor erheblichen Gefahren für Leib und Leben ist hier zu beachten (vgl. z.B. BVerfG, U.v. 16.10.1977 – 1 BvQ 5/77 – BVerfGE 46, 160). Die persönlichen Interessen des Antragstellers müssen dahinter zurücktreten (BayVGH, B.v. 16.8.2018 – 11 CE 18.1268 – juris Rn. 16). Auch dass das Gutachten nach Ansicht der Bevollmächtigten des Antragstellers höchst wahrscheinlich positiv für den Antragsteller ausfallen würde und er eine Begutachtung vornehmen möchte (allerdings ein Gutachten nicht bis zu seinem Berufsstart am 1. Juli 2021 möglich sei), führt zu keinem anderen Ergebnis, da zum jetzigen Zeitpunkt davon ausgegangen werden muss, dass das Ergebnis der Begutachtung noch völlig offen ist.
4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Als unterliegender Beteiligter hat der Antragsteller die Kosten des Verfahrens zu tragen.
3. Die Höhe des Streitwerts ergibt sich aus § 63 Abs. 2, § 53 Abs. 2, § 52 Abs. 1 und 2 GKG in Verbindung mit Nrn. 1.5, 46.2 und 46.3 des Streitwertkataloges für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013 (s. NVwZ-Beilage 2013, 57).


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