Strafrecht

Wirksamkeit eines Rechtsmittelverzichts – Teilhabe des protokollierten Negativattests gemäß § 273 Abs. 1a S. 3 StPO an Beweiskraft des Sitzungsprotokolls

Aktenzeichen  202 StRR 105/20

Datum:
2.12.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 35556
Gerichtsart:
BayObLG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:
StPO § 257c, § 273 Abs. 1a S. 3, Abs. 3, § 274 S. 1 § 302 Abs. 1 S. 1 § 473 Abs. 1 S. 1, S. 2

 

Leitsatz

1. Die Feststellung im Hauptverhandlungsprotokoll nach § 273 Abs. 1a Satz 3 StPO, wonach eine Verständigung im Sinne des § 257c StPO nicht stattgefunden hat, zählt zu den wesentlichen Förmlichkeiten im Sinne des § 274 Satz 1 StPO und nimmt an der Beweiskraft des Sitzungsprotokolls teil. (Rn. 8)
2. Der bloße Hinweis des Tatrichters auf die strafmildernde Wirkung eines Geständnisses oder einer dem gleichkommenden Beschränkung der Berufung auf den Rechtsfolgenausspruch stellt keine (informelle) Verständigung dar, die zu einer Unwirksamkeit eines erklärten Rechtsmittelverzichts nach § 302 Abs. 1 Satz 2 StPO führt. (Rn. 9)

Tenor

I. Es wird festgestellt, dass der Angeklagte wirksam auf die Einlegung von Rechtsmitteln gegen das Urteil des Landgerichts vom 09.07.2020 verzichtet hat.
II. Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts vom 09.07.2020 wird als unzulässig verworfen.
III. Der Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels und die dadurch der Nebenklägerin erwachsenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Gründe

I.
Das Landgericht hat am 09.07.2020 auf die Berufung des Angeklagten die Urteile des Amtsgerichts vom 14.11.2019 und des Amtsgerichts vom 27.03.2020 dahingehend abgeändert, dass der Angeklagte wegen Verstoßes gegen das Gewaltschutzgesetz in 3 Fällen, in einem Fall in Tateinheit mit Beleidigung, unter Einbeziehung der Einzelstrafen aus dem Urteil des Amtsgerichts vom 15.11.2018 unter Auflösung der dort gebildeten Gesamtstrafe zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 1 Jahr und 2 Monaten sowie wegen Verstoßes gegen das Gewaltschutzgesetz in 2 Fällen und Beleidigung in 2 Fällen, in einem Fall in Tateinheit mit Bedrohung, und wegen Nachstellung in Tateinheit mit Beleidigung und Bedrohung zu einer weiteren Gesamtfreiheitsstrafe von 1 Jahr und 4 Monaten verurteilt wird. Ferner wurden auf die Gesamtfreiheitsstrafe von 1 Jahr und 2 Monaten im Rahmen der Bewährung geleistete Auflagen in der Weise angerechnet, dass 8 Tage dieser Gesamtfreiheitsstrafe als verbüßt gelten. Die weitergehende Berufung des Angeklagten wurde als unbegründet verworfen.
II.
Die gegen das Berufungsurteil gerichtete Revision des Angeklagten ist unzulässig, weil der Angeklagte wirksam auf Rechtsmittel verzichtet hat (§ 302 Abs. 1 Satz 1 StPO).
1. Wie sich aus dem Hauptverhandlungsprotokoll ergibt, hat der Instanzverteidiger – nach Rücksprache mit dem Angeklagten und in dessen Anwesenheit – im Anschluss an die Verkündung des Berufungsurteils und nach Rechtsmittelbelehrungerklärt: “Wir nehmen das Urteil an und verzichten auf Rechtsmittel.“ Die Erklärung wurde gemäß § 273 Abs. 3 StPO vorgelesen und genehmigt. Außerdem ergibt sich aus dem Protokoll, dass diese Erklärung vom Dolmetscher vor der Genehmigung übersetzt wurde.
2. Der Rechtsmittelverzicht ist wirksam.
a) Der Verteidiger hat die Verzichtserklärung ausdrücklich auch im Namen des anwesenden Angeklagten abgegeben. Dass dieser damit einverstanden war, ergibt sich schon aus dem Vermerk nach § 273 Abs. 3 StPO.
b) Der Rechtsmittelverzicht kann als Prozesshandlung nicht widerrufen, wegen Irrtums angefochten oder sonst zurückgenommen werden (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschluss vom 24.07.2019 – 3 StR 214/19 = NStZ-RR 2019, 318 = StraFo 2019, 508).
c) Gründe, die ausnahmsweise zur Unwirksamkeit des Rechtsmittelverzichts des Angeklagten führen könnten, liegen nicht vor.
aa) Eine die Wirksamkeit des Rechtsmittelverzichts gemäß § 302 Abs. 1 Satz 2 StPO hindernde Verständigung nach § 257c StPO erfolgte ausweislich des Hauptverhandlungsprotokolls nicht. Darin ist gemäß § 273 Abs. 1a Satz 3 StPO ausdrücklich vermerkt, dass Verständigungsgespräche und damit eine Verständigung nach § 257c StPO nicht stattgefunden haben. Diese Feststellung zählt zu den wesentlichen Förmlichkeiten im Sinne des § 274 Satz 1 StPO und nimmt an der Beweiskraft des Sitzungsprotokolls teil (BGH, Beschluss vom 24.07.2019 – 3 StR 214/19 a.a.O.).
bb) Auch ist von einer ebenso wirkenden informellen Verständigung nicht auszugehen, wenngleich der Angeklagte in seinem Schreiben vom 17.07.2020 geltend macht, das Gericht habe ihm „einen Deal für die 8 Fälle, daß die eingestellt werden und er die Halbstrafe“ […]; er sei auf den „Deal“ eingegangen. Dieser Vortrag ist nicht nur durch das Hauptverhandlungsprotokoll, sondern auch durch die dienstliche Äußerung des Vorsitzenden Richters der Berufungskammer vom 21.07.2020, der weder der Angeklagte noch dessen Verteidiger entgegengetreten sind, widerlegt. Hiernach hat der Vorsitzende zwar unter Hinweis auf die gegebenenfalls strafmildernde Wirkung die Beschränkung der Berufung auf den Rechtsfolgenausspruch angeregt, das Ersuchen der Verteidigung, eine Prognose hinsichtlich der Höhe der zu erwartenden Strafe zu äußern, jedoch explizit abgelehnt. Der bloße Hinweis auf die strafmildernde Wirkung eines Geständnisses stellt – ebenso wie eine hier ohnehin nicht erfolgte Offenlegung der voraussichtlichen Straferwartung – keine (informelle) Verständigung dar (vgl. BVerfG, Urt. v. 19.03.2013 – 2 BvR 2628/10 = BVerfGE 133, 168; BGH, Beschluss vom 09.10.2019 – 1 StR 545/18 = NStZ 2020, 237 = NZWiSt 2020, 188).
cc) Schließlich gibt es keine Anhaltspunkte für eine unzulässige Willensbeeinflussung des Angeklagten vor Abgabe des Rechtsmittelverzichts.
III.
Die Kosten- und Auslagenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 1 Satz 1 und 2 StPO.


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