Verkehrsrecht

Anforderung an den Strengbeweis bei streitiger Schadenskompatibilität

Aktenzeichen  10 U 6128/20

Datum:
24.3.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 5872
Gerichtsart:
OLG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:
ZPO § 286

 

Leitsatz

Nach § 286 I 1 ZPO hat das Gericht unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Verhandlung und des Ergebnisses einer Beweisaufnahme nach freier Überzeugung zu entscheiden, ob eine tatsächliche Behauptung für wahr oder nicht wahr zu erachten ist. Diese Überzeugung des Richters erfordert keine – ohnehin nicht erreichbare – absolute oder unumstößliche, gleichsam mathematische Gewissheit und auch keine „an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit“, sondern nur einen für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit, der Zweifeln Schweigen gebietet (Fortführung OLG München BeckRS 2009, 19012; BeckRS 2008, 19143, BeckRS 2010, 27716; SP 2012, 111). (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

74 O 1577/19 2020-09-17 Endurteil LGINGOLSTADT LG Ingolstadt

Tenor

I. Auf die Berufung des Klägers vom 21.10.2020 wird das Endurteil des LG Ingolstadt vom 17.09.2020 (Az. 74 O 1577/19) abgeändert und wie folgt neu gefasst:
1. Die Beklagten werden verurteilt, samtverbindlich an den Kläger einen Betrag in Höhe von 2.501,07 € sowie vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von 413,64 € jeweils nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit 22.06.2019 zu bezahlen.
2. Es wird festgestellt, dass die Beklagten verpflichtet sind, dem Kläger sämtliche Schäden, insbesondere auch Sachverständigen-Gebühren bezogen auf die unfallbedingten Reparaturkosten, welche dem Kläger aus dem Verkehrsunfall vom 13.12.2018 in der Tiefgarage T. W. in I. künftig entstehen, zu ersetzen.
3. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
4. Der Kläger trägt die durch die Anrufung des Amtsgerichts Ingolstadt entstandenen Mehrkosten. Von den Kosten des Rechtsstreits erster Instanz im Übrigen tragen der Kläger 40% und die Beklagten samtverbindlich 60%.
Im Übrigen wird die Berufung des Klägers zurückgewiesen.
II. Von den Kosten des Berufungsverfahrens tragen der Kläger 26% und die Beklagten samtverbindlich 74%.
III. Das Urteil ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

A.
Von der Darstellung der tatsächlichen Feststellungen wird abgesehen (§§ 540 II, 313 a I 1 ZPO i. Verb. m. § 544 II Nr. 1 ZPO).
B.
Einen im Termin vom 24.02.2021 zur Vermeidung eines weiteren Rechtsstreits insbesondere über Sachverständigenkosten und Nutzungsausfall geschlossenen Vergleich haben die Beklagten auf Betreiben des Unfallverursachers, des Beklagten zu 1) widerrufen.
Die statthafte sowie form- und fristgerecht eingelegte und begründete, somit zulässige Berufung hat in der Sache überwiegend Erfolg.
I.
Das Landgericht hat zu Unrecht einen Anspruch des Klägers auf Schadensersatz vollumfänglich verneint.
1. Der Beklagte zu 1) hat seinen Pkw rechts neben dem VW Touran des Klägers am 13.12.2018 in der Tiefgarage ebenfalls vorwärts eingeparkt. Nachdem seinen eigenen Angaben nach beim rückwärts Ausparken die Warnsensoren angingen und ein anwesender Passant beim Ausparkvorgang des Beklagten zu 1) mit den Händen „herumfuchtelte“ stieg der Beklagte zu 1) aus, besah sich den Pkw des Klägers, wischte an diesem herum und bemerkte Lackkratzer, weshalb er auf 2 Zetteln seine Telefonnummer hinterließ und darauf mitteilte, dass er „leider ihr Auto an der Beifahrertüre gestreift“ sowie „leider ihr Auto gestreift“ habe. Daraufhin entfernte sich der Beklagte zu 1) vor Ablauf der Wartefrist von der Unfallstelle. Die in erster Instanz als Zeugin vernommene Ehefrau des Klägers bemerkte beim Zurückgehen die Beschädigungen an der rechten Seite. Weiter erinnerte sie sich an das Telefonat mit dem Beklagten zu 1), in welchem dieser ihr mitteilte, dass es ihm leid tue, dass er ihr Fahrzeug an der Beifahrertüre gestreift habe, zugleich aber vehement in Abrede stellte, dass die Beschädigungen am Kotflügel von ihm stammen.
Der Sachverständige, dessen Sachkunde gerade bei der Feststellung von Schadenskompatibilität und Schadenshöhe dem Senat aus einer Vielzahl erholter Gutachten und Anhörungen vor dem Senat bekannt ist, stellte fest, dass die Kratz- und Schürfspuren an der Beifahrertüre des klägerischen Pkw mit solchen am rechten vorderen Radlauf des Fahrzeugs des Beklagten zu 1) übereinstimmen, hingegen der weitere Schadenbereich im unteren Bereich am Klägerfahrzeug mit intensiven Kratzspuren und überlagerten Eindellungen nicht mit dem Schadensbild am Fahrzeug des Beklagten zu 1) übereinstimmt und auch der vorgestellte Ausparkvorgang – rückwärts ausparken ohne zusätzliche Vorwärtsbewegung – nicht mit dem Schadensbild im unteren Bereich am klägerischen Pkw übereinstimmt, da der schadensverursachende Gegenstand von hinten nach vorne verlaufend am Klägerfahrzeug entlanggeführt wurde.
Nach § 286 I 1 ZPO hat das Gericht unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Verhandlung und des Ergebnisses einer Beweisaufnahme nach freier Überzeugung zu entscheiden, ob eine tatsächliche Behauptung für wahr oder nicht wahr zu erachten ist. Diese Überzeugung des Richters erfordert keine – ohnehin nicht erreichbare (vgl. BGH NJW 1998, 2969 [2971]; Senat NZV 2006, 261; NJW 2011, 396 [397]; KG NJW-RR 2010, 1113) – absolute oder unumstößliche, gleichsam mathematische Gewissheit und auch keine „an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit“, sondern nur einen für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit, der Zweifeln Schweigen gebietet (grdl. BGHZ 53, 245 [256], VersR 2014, 632 f.; OLG Frankfurt a. M. zfs 2008, 264 [265]; Senat VersR 2004, 124; NZV 2006, 261 NJW 2011, 396 [397]; SP 2012, 111). Aufgrund der dargelegten Umstände hatte Senat keine vernünftigen Zweifel daran, dass der Beklagte zu 1) den Pkw des Klägers beim Ausparkvorgang streifte und dabei die vom Sachverständigen als korrespondierend festgestellten Beschädigungen verursachte.
2. Der Sachverständige führte in mündlicher Verhandlung vor dem Senat aus, dass wegen der korrespondierenden Schäden die Beifahrertüre erneuert werden muss und die rechte hintere Tür für einen Farbangleich zu lackieren ist, was berechtigte Reparaturkosten in Höhe von 2276,07 € netto ergibt. Zusammen mit der Unkostenpauschale und einer vom Sachverständigen auch bei einem wegen der nicht korrespondierenden Schäden vorgeschädigten Fahrzeug ermittelten Wertminderung von 200 € errechnet sich ein Leistungsanspruch in Höhe von 2501,07 €.
Im Übrigen war die Leistungsklage abzuweisen und die Berufung zurückzuweisen
3. Der Anspruch auf Zahlung der Sachverständigengebühren wegen Erholung des vorgeschichtlichen Schadensgutachtens ist derzeit mangels begründeter Rechnung nicht fällig. Die Klagepartei hat ihren diesbezüglichen Leistungsantrag daher zulässigerweise geändert und auch insoweit Feststellung der Ersatzpflicht der Beklagten beantragt.
Das Feststellungsbegehren ist wie tenoriert begründet. Der Kläger war berechtigt, ein Sachverständigengutachten zur Feststellung der Schadenshöhe in Auftrag zu geben. Es ist nicht davon auszugehen, dass der von der Klagepartei beauftragte Sachverständige wusste, dass die Schäden im unteren Bereich am vorderen Kotflügel rechts nicht auf den streitgegenständlichen Verkehrsunfall zurückgeführt werden können. Im Übrigen war das vom Kläger vorgelegte Privatgutachten entsprechend den Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen weitgehend korrekt, weshalb es in Teilen verwertbar war und ist. Bezüglich des verwertbaren Teils des Gutachtens kann der Sachverständige auch eine erstattungsfähige Rechnung erstellen.
Im Übrigen ist mit weiteren Schäden, insbesondere Nutzungsausfall während der Reparaturdauer und Anfall von Umsatzsteuer zu rechnen.
4. Die vorgeschichtlichen Rechtsanwaltskosten ergeben sich unter Ansatz einer 1, 3 Gebühr wie tenoriert
II.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 92 I 1 Fall 2, 100 IV ZPO.
III.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO i. Verb. m. § 544 II Nr. 1 ZPO.
IV.
Die Revision war nicht zuzulassen. Gründe, die die Zulassung der Revision gem. § 543 II 1 ZPO rechtfertigen würden, sind nicht gegeben. Mit Rücksicht darauf, dass die Entscheidung einen Einzelfall betrifft, ohne von der höchst- oder obergerichtlichen Rechtsprechung abzuweichen, kommt der Rechtssache weder grundsätzliche Bedeutung zu noch erfordern die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts.


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