Verkehrsrecht

Anwendung des Fahreignungsbewertungssystems auch auf Inhaber europäischer Fahrerlaubnisse

Aktenzeichen  AN 10 S 20.00057

Datum:
17.3.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 14565
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Ansbach
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
StVG § 4 Abs. 5; BayVwVfG Art. 47
VwGO § 80 Abs. 5

 

Leitsatz

Tenor

1. Der Antrag wird abgelehnt.
2. Der Antragsteller hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
3. Der Streitwert wird auf 3.750,00 EUR festgesetzt.

Gründe

I.
Die Beteiligten streiten um die mit Bescheid vom 10. Dezember 2019 verfügte Entziehung der Fahrerlaubnis des Antragstellers.
Nachdem der Antragsteller 4 Punkte im Fahreignungsregister angesammelt hatte, wurde er mit Bescheid des Landratsamtes … vom 30. September 2019 nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 StVG ermahnt. Nachdem für den Antragsteller 6 Punkte eingetragen waren, wurde er mit Bescheid des Landratsamtes vom 15. Dezember 2014 nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 StVG verwarnt. Auf die Möglichkeit, an einem Fahreignungsseminar teilzunehmen, wurde hingewiesen. Nachdem der Antragsteller am 1. November 2017 und am 31. Mai 2019 weitere Ordnungswidrigkeiten begangen hatte, waren insgesamt 9 Punkte im Fahreignungsregister für den Antragsteller eingetragen.
Nach entsprechender Anhörung entzog das Landratsamt dem Antragsteller mit streitgegenständlichem Bescheid vom 10. Dezember 2019 die Erlaubnis zum Führen von Kraftfahrzeugen aller Klassen. Der Antragsteller wurde aufgefordert, seinen Führerschein abzuliefern. Diesbezüglich wurde auch Sofortvollzug angeordnet.
Der Bescheid wurde auf folgende Eintragungen gestützt:
Datum der
– Tat
– Entscheid.
– Rechtskraft
Behörde/ Gericht
Tatbestand:snummer/Tatbestandstext
Aktenzeichen
Fa
P
Datum Tilgung
Pkt.
20.05.2014
18.07.014
06.08.2014
BG-Beh. ZBS

103777: Sie überschritten die zulässige Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 50 km/h. Zulässige Geschwindigkeit: 100 km/h. Festgestellte Geschwindigkeit (nach Toleranzabzug): 150 km/h.

A
06.08.2019 – getilgt –
2
23.05.2014
03.06.2014
06.06.2014
BG-Beh. ZBS

104614: Sie hielten bei einer Geschwindigkeit von 136 km/h den erforderlichen Abstand von 68,00 m zum vorausfahrenden Fahrzeug nicht ein. Ihr Abstand betrug 18,20 m und damit weniger als 3/10 des halben Tachowertes. Toleranzen sind zu Ihren Gunsten berücksichtigt.

A
06.06.2019 – getilgt –
2
06.09.2014
03.11.2014
20.11.2014
BG-Beh. ZBS

104614: Sie hielten bei einer Geschwindigkeit von 156 km/h den erforderlichen Abstand von 78,00 m zum vorausfahrenden Fahrzeug nicht ein. Ihr Abstand betrug 17,33 m und damit weniger als 3/10 des halben Tachowertes. Toleranzen sind zu Ihren Gunsten berücksichtigt.
Bemerkung:
Zusatzrechtsgrundlagen des Altbestandes: § 25 StVG; § 17 OWiG

A
20.11.2019 – getilgt –
2
01.11.2017
14.11.2017
01.12.2017
BG-Beh. ZBS

123624: Sie benutzten als Führer des Kraftfahrzeuges ein elektronisches Gerät, das der Kommunikation, Information oder Organisation dient oder zu dienen bestimmt ist, in vorschriftswidriger Weise *).
Bemerkung:
Mobiltelefon mit linker Hand am linken Ohr.;

A
01.06.2020
1
31.05.2019
20.08.2019
17.10.2019
BG-Beh. ZBS

104608: Sie hielten bei einer Geschwindigkeit von 116 km/h den erforderlichen Abstand von 58,0 m zum vorausfahrenden Fahrzeug nicht ein. Ihr Abstand betrug 14 m und damit weniger als 3/10 des halben Tachowertes. Toleranzen sind zu Ihren Gunsten berücksichtigt.

A
17.10.2024
2
Am 17. Dezember 2019 führte der Antragsteller gegenüber dem Landratsamt aus, dass er seine deutsche Fahrerlaubnis bereits im März 2019 wieder in eine österreichische Fahrerlaubnis hat umschreiben lassen. Am 19. Dezember 2019 legte er die Fahrerlaubnis beim Landratsamt vor, das das Verbot, Kraftfahrzeuge aller Art in D. zu führen, in den Führerschein eintrug.
Mit Schriftsatz seines Prozessbevollmächtigten vom 10. Januar 2020 erhob der Antragsteller Klage zum Verwaltungsgericht Ansbach. Des Weiteren beantragte er,
die aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage gegen den Entzugsbescheid wiederherzustellen.
Der Antragsgegner beantragte,
den Antrag abzulehnen.
Zur Begründung führte der Antragsgegner im Wesentlichen aus, der streitgegenständliche Bescheid sei dahingehend umzudeuten, dass nicht die Fahrerlaubnis entzogen werde, sondern dass es sich lediglich um die Aberkennung des Rechts, von seiner österreichischen Fahrerlaubnis im Inland Gebrauch zu machen, handle. Gleichzeitig ginge es nicht um die Ablieferungspflicht des Führerscheins, sondern lediglich um die Vorlagepflicht, um die Aberkennung einzutragen.
Wegen weiterer Einzelheiten wird zur Vermeidung unnötiger Wiederholungen auf die vorgelegten Behördenakten sowie auf die Gerichtsakte Bezug genommen.
II.
Der zulässige Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO ist unbegründet.
Obwohl sich der Antragstenor lediglich auf die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Anfechtungsklage gegen den Entzugsbescheid bezieht, ist nach sachgerechter Auslegung davon auszugehen, dass sich der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO nicht nur auf die Ablieferungsverpflichtung bezieht, sondern auch auf den nach § 4 Abs. 9 StVG kraft gesetzlicher Wertung sofort vollziehbaren Fahrerlaubnisentzug. Zwar ist der Antrag bislang nicht begründet worden, doch gäbe ein allein sich auf die Ziffer 3 des streitgegenständlichen Bescheids vom 10. Dezember 2019 beziehender Antrag vorliegend keinen Sinn.
Der so verstandene Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO ist allerdings unbegründet.
Hierbei hat das Gericht die aufschiebende Wirkung eines Rechtsbehelfs nämlich nur dann ganz oder teilweise anzuordnen oder wiederherzustellen, wenn das Interesse des Antragstellers an der Anordnung oder Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung das öffentliche Interesse am Sofortvollzug überwiegt. Im Rahmen dieser Interessensabwägung haben die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs in der Hauptsache erhebliche Bedeutung. Bleibt dieser Rechtsbehelf mit hoher Wahrscheinlichkeit erfolglos, wird die Abwägung in der Regel zum Nachteil des Betroffenen ausfallen, da dann das gesetzlich angeordnete Interesse am Sofortvollzug regelmäßig überwiegt.
Nach der in diesem Verfahren gebotenen, aber auch ausreichenden summarischen Überprüfung der Sach- und Rechtslage liegen die Voraussetzungen des § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG vor, so dass sich der Antragsteller als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erwiesen hat.
Der Antragsgegner durfte zu Recht davon ausgehen, dass für den Antragsteller zum maßgeblichen Zeitpunkt 9 Punkte im Fahreignungsregister eingetragen waren. Der Antragsteller hat hierzu auch nichts vorgetragen. Wie sich allerdings aus den Behördenakten ergibt, sind alle zugrunde liegenden Ordnungswidrigkeiten rechtskräftig geworden, was zur Folge hat, dass zum maßgeblichen Zeitpunkt am 31. Mai 2019 insgesamt 9 Punkte im Fahreignungsbewertungssystem für den Antragsteller zu verzeichnen waren.
Diese errechnen sich wie folgt: Die Ordnungswidrigkeit vom 20. Mai 2014, nämlich die Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit um 50 km/h außerorts ist mit 2 Punkten im Fahreignungsbewertungssystem eingetragen, was zur Folge hat, dass sie nach § 29 Abs. 1 Nr. 2b StVG in fünf Jahren nach Rechtskraft der zugrunde liegenden Entscheidung getilgt wird, also am 6. August 2019. Ähnliches gilt für die Verkehrsordnungswidrigkeit vom 23. Mai 2014, nämlich den Verstoß gegen die Einhaltung des notwendigen Abstands, der ebenfalls mit 2 Punkten bewertet wurde, so dass auch diesbezüglich die fünfjährige Tilgungsfrist anzuwenden ist, so dass nach Rechtskraft der Entscheidung am 6. Juni 2014 die Tilgungsfrist am 6. Juni 2019 abläuft. Für die am 6. September 2014 begangene Verkehrsordnungswidrigkeit gilt ähnliches. Die am 1. November 2017 und am 31. Mai 2019 begangenen Ordnungswidrigkeiten sind zum Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts überhaupt noch nicht getilgt. Hierbei ist weiter zu beachten, dass nach dem sog. Tattagsprinzip des § 4 Abs. 5 Satz 5 StVG als maßgeblicher Zeitpunkt für die Bewertung des Punktestandes der Zeitpunkt der Begehung der letzten zur Ergreifung der Maßnahme führenden Straftat oder Ordnungswidrigkeit heranzuziehen ist. Gleichzeitig ist nach § 4 Abs. 5 Satz 7 StVG davon auszugehen, dass spätere Verringerungen des Punktestands aufgrund von Tilgungen unberücksichtigt bleiben, was vorliegend zur Folge hat, dass die am 6. Juni 2019 und die am 6. August 2019 sowie die am 20. November 2019 vorzunehmenden Tilgungen keine Auswirkung auf den streitgegenständlichen Bescheid haben können.
Der Antragsgegner hat den maßgeblichen Punktestand des Antragstellers im Fahreignungsbewertungssystem somit richtig berechnet.
Darüber hinaus wurden auch die Vorschaltmaßnahmen nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 und Nr. 2 StVG ordnungsgemäß durchgeführt, weil der Antragsteller bei Erreichen eines Punktestandes von 4 Punkten am 30. September 2014, bei Erreichen von 6 Punkten am 15. Dezember 2014 ermahnt bzw. verwarnt worden war. Sowohl die Ermahnung als auch die Verwarnung sind materiellrechtlich nicht zu beanstanden.
Da der Antragsteller weder im behördlichen Verfahren noch bislang im gerichtlichen Verfahren etwas vorgetragen hat, wird zur Vermeidung unnötiger Wiederholungen gemäß § 117 Abs. 5 VwGO auf den streitgegenständlichen Bescheid des Antragsgegners vom 10. Dezember 2019 Bezug genommen und von einer weiteren Darstellung der Gründe abgesehen, da das Gericht der Begründung dieser Entscheidung folgt.
Hinzuzufügen ist lediglich, dass nach einschlägiger höchstrichterlicher Rechtsprechung (EuGH, U.v. 23.4.2015, Az. C 260/13, juris) das Fahreignungsbewertungssystem auch auf Inhaber ausländischer und dort insbesondere europäischer Fahrerlaubnisse anzuwenden ist. Es entspricht allerdings auch inländischer Rechtsprechung, dass sich Inhaber europäischer Fahrerlaubnisse dem Fahreignungsbewertungssystem stellen müssen (vgl. hierzu: BayVGH, B.v. 14.2.2018, Az. 11 CS 17.2467 und VG Berlin, U.v. 22.11.2018, Az. 4 L 366.18, jeweils juris, m.w.N.). Obwohl der Antragsteller seit 19. März 2019 (wieder) im Besitz einer österreichischen Fahrerlaubnis ist, sind die Regelungen des § 4 StVG auf ihn anzuwenden.
Nicht berufen kann sich der Antragsteller des Weiteren darauf, dass das Landratsamt in Unkenntnis der Tatsache, dass der Antragsteller seit März 2019 bereits wieder im Besitz einer österreichischen Fahrerlaubnis war, den Entzug der Fahrerlaubnis angeordnet hatte und demzufolge auch die Abgabeverpflichtung des Führerscheins selbst angeordnet hatte. Vielmehr ist der Bescheid, wie vom Antragsgegner auch ausgeführt, diesbezüglich von der Regelung des Entzugs und der Abgabeverpflichtung in die Regelung der Aberkennung des Rechts, im Inland von der Fahrerlaubnis Gebrauch zu machen und die entsprechende Vorlageverpflichtung zur Eintragung umzudeuten. Nach Art. 47 BayVwVfG kann ein fehlerhafter Verwaltungsakt in einen anderen Verwaltungsakt umgedeutet werden, wenn er auf das gleiche Ziel gerichtet ist, von der erlassenden Behörde in der geschehenen Verfahrensweise und Form rechtmäßig hätte erlassen werden können und wenn die Voraussetzungen für diesen Erlass erfüllt sind. Die entsprechende Einschränkung des Art. 47 Abs. 3 BayVwVfG, nach dem eine gebundene Entscheidung nicht in eine Ermessensentscheidung umgedeutet werden kann, ist vorliegend nicht einschlägig, da sowohl die Entziehung einer deutschen Fahrerlaubnis nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG wie auch die Aberkennung des Rechts, von der Fahrerlaubnis im Inland Gebrauch zu machen, nach § 3 Abs. 1 Satz 2 StVG gebundene Entscheidungen darstellen, die auch in ihren Voraussetzungen nicht voneinander abweichen. Eine Umdeutung ist in jedem Stadium des Verfahrens möglich, auch wenn bereits Klage und Eilantrag eingelegt sind, weil die Umdeutung den Streitgegenstand des gerichtlichen Verfahrens unberührt lässt. Es handelt sich weiterhin um denselben Verwaltungsakt, was zur Folge hat, dass die neue, umgedeutete Regelung von Anfang an maßgeblich war.
Die alte Regelung, nämlich der Entzug der Fahrerlaubnis, war nach der europäischen Führerscheinrichtlinie 2006/126/EG nicht mehr rechtmäßig, weil der Antragsteller zum Zeitpunkt des Bescheidserlasses bereits nicht mehr im Besitz einer deutschen Fahrerlaubnis, sondern im Besitz einer österreichischen Fahrerlaubnis war. Die Entscheidung war – wörtlich ausgelegt – somit fehlerhaft im Sinne von Art. 47 Abs. 1 BayVwVfG. Die Umdeutung ist aber insbesondere deshalb zulässig, weil gemäß § 3 Abs. 1 Satz 2 StVG der Entziehung im Hinblick auf eine ausländische Fahrerlaubnis lediglich eine andere Rechtswirkung zukommt, nämlich die Rechtswirkung der Aberkennung des Rechts, von dieser Fahrerlaubnis im Inland Gebrauch zu machen. Hinzu kommt, dass der Antragsteller nach Einreichung des Schriftsatzes des Antragsgegners vom 30. Januar 2020, in dem erstmals zur Umdeutung Stellung genommen wird, Kenntnis hatte und darauf nicht reagiert hat. Ein Formfehler nach Art. 47 Abs. 4 i.V.m. Art. 28 BayVwVfG scheidet daher aus.
Der Bescheid vom 10. Dezember 2019 war daher, wie dargelegt, dahingehend umzudeuten, dass er von vorneherein lediglich die Aberkennung des Rechts des Antragstellers, von seiner österreichischen Fahrerlaubnis im Inland Gebrauch zu machen und den Führerschein diesbezüglich zur Eintragung vorzulegen, geregelt hatte (vgl. hierzu: VGH Mannheim, U.v. 9.9.2008, Az. 10 S 994/07, juris, m.w.N.).
Da der umgedeutete Verwaltungsakt vollinhaltlich rechtmäßig ist, fällt auch die abschließende Interessensabwägung zwischen den Interessen des Antragstellers und den Interessen der Öffentlichkeit an der weitestgehenden Aufrechterhaltung der Verkehrssicherheit zu Lasten des Antragstellers aus.
Der Antrag ist daher abzulehnen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 52 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Satz 2 GKG i.V.m. Ziffern 46.2, 46.3 und 1.5 des Streitwertkataloges für die Verwaltungsgerichtsbarkeit.


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