Verkehrsrecht

Entziehung der Fahrerlaubnis, Alkoholabhängigkeit, Diagnose einer Suchtklinik nach zweiwöchiger stationärer Behandlung

Aktenzeichen  11 CS 21.1336

Datum:
8.6.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 16261
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
FeV § 11 Abs. 7 Anlage 4 Nr. 8.3, 8.4

 

Leitsatz

Verfahrensgang

B 1 S 21.356 2021-04-14 Bes VGBAYREUTH VG Bayreuth

Tenor

I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Die Antragstellerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 6.250,- Euro festgesetzt.

Gründe

I.
Die Antragstellerin wendet sich gegen die Anordnung des Sofortvollzugs hinsichtlich der Entziehung ihrer Fahrerlaubnis (Klassen A1, B, BE, C1, C1E, L und M).
Die Antragstellerin ist seit dem 18. August 1978 Inhaberin der Fahrerlaubnis (ehemals Klasse 3). Durch Mitteilung der Polizeiinspektion F. erhielt das Landratsamt F. (Fahrerlaubnisbehörde) Kenntnis davon, dass die Antragstellerin am 17. Oktober 2020 in das Klinikum … … in B. verbracht wurde, nachdem ihr Arbeitgeber der Polizei telefonisch mitgeteilt hatte, sie sei erheblich alkoholisiert und wolle mit ihrem Pkw nach Hause fahren. Dem Polizeibericht zufolge habe sie während ihrer Arbeitszeit zwei 0,7 l Flaschen Jägermeister getrunken. Ein Atemalkoholtest gegen 14:32 Uhr ergab einen Wert von 1,08 mg/l.
Nach Aufforderung legte die Antragstellerin dem Landratsamt ein Schreiben des Klinikums … …, Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie vom 29. Oktober 2020 vor. Danach befand sich die Antragstellerin vom 17. bis 30. Oktober 2020 dort in stationärer Behandlung. Diagnostiziert wurden u.a. psychische und Verhaltensstörungen durch Alkohol: Abhängigkeitssyndrom (ICD-10: F10.2) sowie eine akute Alkoholintoxikation im Sinne eines Rauschs (ICD-10: F10.0). Empfohlen wurden eine weitere ambulante psychiatrische Anbindung mit suchtspezifischem Schwerpunkt sowie weitere Alkoholkarenz. Einer ebenfalls von der Antragstellerin vorgelegten Bestätigung der SkF B. e.V. (Suchtberatung) vom 18. Januar 2021 zufolge hat die Antragstellerin bis zu diesem Zeitpunkt fünf Gesprächstermine in der Suchtberatung wahrgenommen.
Nach Anhörung entzog das Landratsamt der Antragstellerin unter Anordnung des Sofortvollzugs mit Bescheid vom 24. Februar 2021 die Fahrerlaubnis und verpflichtete sie zur Abgabe des Führerscheins. Aufgrund der Alkoholabhängigkeit sei sie ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen.
Gegen den Bescheid ließ die Antragstellerin durch ihren Prozessbevollmächtigten Widerspruch einlegen, über den die Widerspruchsbehörde nach Aktenlage noch nicht entschieden hat. Dem Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs hat das Verwaltungsgericht Bayreuth hinsichtlich des Sofortvollzugs für die Verpflichtung zur Abgabe des Führerscheins wegen nicht ausreichender Begründung durch das Landratsamt stattgegeben und ihn im Übrigen abgelehnt. Die Entziehung der Fahrerlaubnis sei nach summarischer Prüfung rechtmäßig. Die Anordnung eines ärztlichen Gutachtens sei nur erforderlich, wenn die Alkoholabhängigkeit nicht mit hinreichender Gewissheit feststehe. An der Diagnose des Klinikums … … bestehe jedoch kein Zweifel, auch wenn dem von der Antragstellerin vorgelegten und daher verwertbaren Schreiben nicht zu entnehmen sei, welche ICD-10-Kriterien erfüllt seien. Abhängigkeitserkrankungen seien der Schwerpunkt des Klinikums. Der Diagnose komme daher ein hoher Grad an Verlässlichkeit zu. Es seien keinerlei Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass der Arzt die Diagnose leichtfertig gestellt habe. Für die Diagnose sprächen auch die festgestellten erhöhten Gamma-GT-Werte und die Teilnahme der Antragstellerin an der Suchtberatung. Die Antragstellerin habe die Alkoholabhängigkeit auch noch nicht überwunden. Hierzu bedürfe es einer erfolgreichen Entwöhnungsbehandlung, einer in der Regel einjährigen Abstinenz und eines hinreichend gefestigten und stabilen Einstellungswandels, der durch ein medizinisch-psychologisches Gutachten nachzuweisen sei.
Zur Begründung der hiergegen eingereichten Beschwerde lässt die Antragstellerin vortragen, die im Schreiben des Klinikums … … vom 29. Oktober 2020 behauptete Alkoholabhängigkeit sei keine ausreichende Rechtfertigung für die Entziehung der Fahrerlaubnis ohne vorherige Einholung eines ärztlichen Gutachtens. Die Diagnose müsse anhand der Beurteilungskriterien für die Begutachtungsstellen gestellt werden. Es sei davon auszugehen, dass die Alkoholabhängigkeit allein aufgrund des Alkoholpegels und der hohen Blutwerte diagnostiziert worden sei. Das Klinikum habe sich von der Antragstellerin nur eine Momentaufnahme von wenigen Tagen verschaffen können. Innerhalb dieser Zeit seien die Werte gesunken. Die hohen Werte könnten auch einen anderen gesundheitlichen Hintergrund haben. Den Unterlagen sei nicht zu entnehmen, ob das Klinikum alle notwendigen Tests durchgeführt habe. Auch die Teilnahme der Antragstellerin an einer Suchtbehandlung auf Empfehlung des Klinikums sei nicht mit einem Anerkenntnis einer Alkoholabhängigkeit verbunden, sondern könne auch präventiven Charakter zur Vermeidung einer Abhängigkeit haben. Bei der Interessenabwägung sei auch zu berücksichtigen, dass die Antragstellerin auf die Fahrerlaubnisklasse B in besonderer Weise angewiesen sei.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakten beider Instanzen und die vorgelegten Behördenakten verwiesen.
II.
Die zulässige Beschwerde hat in der Sache keinen Erfolg. Aus den im Beschwerdeverfahren vorgetragenen Gründen, auf deren Prüfung der Verwaltungsgerichtshof beschränkt ist (§ 146 Abs. 4 Sätze 1 und 6 VwGO), ergibt sich nicht, dass die Entscheidung des Verwaltungsgerichts zu ändern oder aufzuheben wäre.
Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 des Straßenverkehrsgesetzes vom 5. März 2003 (StVG, BGBl I S. 310), zuletzt geändert durch Gesetz vom 7. Mai 2021 (BGBl I S. 850), und § 46 Abs. 1 Satz 1 der Verordnung über die Zulassung von Personen zum Straßenverkehr vom 13. Dezember 2010 (Fahrerlaubnis-Verordnung – FeV, BGBl I S. 1980), zuletzt geändert durch Gesetz vom 16. April 2021 (BGBl I S. 822), hat die Fahrerlaubnisbehörde die Fahrerlaubnis zu entziehen, wenn sich ihr Inhaber als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erweist. Dies gilt gemäß § 46 Abs. 1 Satz 2 FeV insbesondere dann, wenn Erkrankungen oder Mängel nach den Anlagen 4, 5 oder 6 zur FeV vorliegen oder wenn der Fahrerlaubnisinhaber erheblich oder wiederholt gegen verkehrsrechtliche Vorschriften oder Strafgesetze verstoßen hat. Werden Tatsachen bekannt, die Bedenken begründen, dass der Inhaber einer Fahrerlaubnis zum Führen eines Kraftfahrzeugs ungeeignet oder bedingt geeignet ist, finden die §§ 11 bis 14 FeV entsprechend Anwendung (§ 46 Abs. 3 FeV).
Gemäß Nr. 8.3 der Anlage 4 zur FeV besteht bei Alkoholabhängigkeit keine Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen. Dies gilt ausnahmslos für sämtliche Fahrerlaubnisklassen und zwar unabhängig davon, ob der Betreffende im Straßenverkehr auffällig geworden ist (vgl. BVerwG, B.v. 21.10.2015 – 3 B 31.15 – DAR 2016, 216 = juris Rn. 5). Denn bei alkoholabhängigen Personen besteht krankheitsbedingt jederzeit die Gefahr eines Kontrollverlusts und der Teilnahme am Straßenverkehr unter Alkoholeinfluss. Eine hinreichend feststehende und nicht überwundene Alkoholabhängigkeit hat damit zwangsläufig die Entziehung der Fahrerlaubnis gemäß § 11 Abs. 7 FeV ohne Anordnung zur Beibringung des Gutachtens zur Folge (stRspr, vgl. BayVGH, U.v. 16.5.2017 – 11 B 16.1755 – juris Rn. 23, B.v. 6.10.2020 – 11 CS 20.1581 – juris Rn. 11).
An einer Alkoholabhängigkeit der Antragstellerin bestehen mit Blick auf das von ihr vorgelegte und daher verwertbare Schreiben des Klinikums … … vom 29. Oktober 2020 keine ernsthaften Zweifel. Das Fahrerlaubnisrecht definiert den Begriff der Alkoholabhängigkeit nicht selbst, sondern setzt ihn voraus. Nach Abschnitt 3.13.2 (S. 75) der Begutachtungsleitlinien für Kraftfahreignung vom 27. Januar 2014 (VkBl S. 110) in der Fassung vom 28. Oktober 2019 (VkBl S. 775), die insoweit der Definition des Begriffs der „Abhängigkeit“ in der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD-10, Kapitel V) folgen, soll die sichere Diagnose „Abhängigkeit“ nur gestellt werden, wenn irgendwann während des letzten Jahres drei oder mehr der dort genannten sechs Kriterien gleichzeitig vorhanden waren (1. starker Wunsch oder eine Art Zwang, psychotrope Substanzen zu konsumieren; 2. verminderte Kontrollfähigkeit bezüglich des Beginns, der Beendigung und der Menge des Konsums; 3. körperliches Entzugssyndrom bei Beendigung oder Reduktion des Konsums; 4. Nachweis einer Toleranz; 5. fortschreitende Vernachlässigung anderer Interessen zugunsten des Substanzkonsums; 6. anhaltender Substanzkonsum trotz des Nachweises eindeutig schädlicher Folgen, die dem Betroffenen bewusst sind).
Auch wenn aus dem Schreiben des Klinikums nicht hervorgeht, welche dieser Kriterien bei der Antragstellerin vorlagen, begründet dies keine Zweifel an der Diagnose. Diese Frage kann gegebenenfalls noch im Widerspruchsverfahren geklärt werden. Das Klinikum ist auf die Behandlung von Abhängigkeitserkrankungen ausgerichtet (https://www. …). Wie das Verwaltungsgericht zutreffend ausführt, kann daher davon ausgegangen werden, dass die Diagnose einer Alkoholabhängigkeit nicht leichtfertig getroffen worden, sondern hinreichend gesichert ist. Die Antragstellerin wurde immerhin zwei Wochen stationär in der Klinik behandelt. Entgegen der Beschwerdebegründung beruht die Diagnose daher nicht auf einer Momentaufnahme, sondern auf entsprechenden Untersuchungen, was sich auch aus den offenbar mehrfach durchgeführten Blutproben ergibt. Die dort festgestellten, erheblich erhöhten Gamma-GT-Werte deuten ebenfalls auf eine Alkoholerkrankung hin. Welche andere Ursache die Werte haben könnten, ergibt sich weder aus dem Untersuchungsbericht noch aus dem Vorbringen der Antragstellerin. Dass die Werte während des Klinikaufenthalts gesunken sind, dürfte durch die Alkoholabstinenz in der Klinik begründet sein. Dadurch ist jedoch die Diagnose einer Abhängigkeit nicht widerlegt. Auch der hohe Alkoholkonsum der Antragstellerin am Arbeitsplatz vor der Einweisung in die Klinik lässt im Übrigen auf ein massives Alkoholproblem schließen. Dass sie an Suchtberatungen teilgenommen hat, ist für den Befund nicht entscheidend, führt aber andererseits auch nicht dazu, dass sie die Fahreignung wiedergewonnen hätte. Hierzu bedürfte es vielmehr einer erfolgreichen Entwöhnungsbehandlung und des Nachweises einer (in der Regel einjährigen) Abstinenz (Nr. 8.4 der Anlage 4 zur FeV) sowie eines medizinisch-psychologischen Gutachtens (§ 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. e FeV).
Im Rahmen der Interessenabwägung kann die Antragstellerin auch nicht geltend machen, dass sie auf die Fahrerlaubnis der Klasse B angewiesen sei, um ihren Arbeitsplatz zu erreichen. Wie bereits dargelegt führt Alkoholabhängigkeit ohne Unterschied zur Ungeeignetheit zum Führen von Kraftfahrzeugen aller Fahrerlaubnisklassen. Denn dem Schutz der Allgemeinheit vor Verkehrsgefährdungen kommt angesichts der Gefahren durch die Teilnahme ungeeigneter Kraftfahrer am Straßenverkehr besonderes Gewicht gegenüber den Nachteilen zu, die einem betroffenen Fahrerlaubnisinhaber in beruflicher oder in privater Hinsicht entstehen (vgl. BVerfG, B.v. 19.7.2007 – 1 BvR 305/07 – juris Rn. 6).
Die Beschwerde war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 2 VwGO zurückzuweisen.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47, § 52 Abs. 1 i.V.m. § 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG und den Empfehlungen in Nr. 1.5 Satz 1, 46.2, 46.3 und 46.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).


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