Verkehrsrecht

Entziehung der Fahrerlaubnis nach Vorlage eines medizinisch-psychologischen Gutachtens, Bindungswirkung, Erhebliche Straftat im Zusammenhang mit der Kraftfahreignung, Anhaltspunkte für ein hohes Aggressionspotential

Aktenzeichen  M 6 S 21.6347

Datum:
3.2.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 2914
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
StVG § 3 Abs. 1
StVG § 3 Abs. 4 S. 1
FeV § 46 Abs. 1
FeV § 46 Abs. 3
FeV § 11 Abs. 3 S. 1 Nr. 6

 

Leitsatz

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Der Streitwert wird auf 7.500,- Euro festgesetzt.

Gründe

I.
Der 1955 geborene Antragsteller wendet sich gegen die sofortige Vollziehung der Entziehung seiner Fahrerlaubnis der Klassen A, A1, B, C1, BE, C1E, AM und L.
Mit rechtskräftigen Berufungsurteil der 26. Strafkammer des Landgerichts München I vom … November 2020 wurde der Antragsteller wegen vorsätzlicher Körperverletzung zu einer Geldstrafe von 120 Tagessätzen sowie einem dreimonatigen Fahrverbot verurteilt. Dem Sachverhalt zufolge hielt der Antragsteller am … September 2019 mit seinem Kleintransporter … auf der A. … straße in A. … mit laufendem Motor neben einer freien Parklücke und versperrte hierdurch anderen Verkehrsteilnehmern die Möglichkeit, dort einzuparken. Zur gleichen Zeit wollte ein später Geschädigter mit seinem Pkw in eben diese Parklücke einparken. Er wartete zunächst einige Minuten, ging dann zur Fahrerseite des Fahrzeugs des Antragstellers, um ihn zu bitten, ein Stück vorzufahren, um ihm das Einparken in die freie Parklücke zu ermöglichen. Der Geschädigte erkannte dabei, dass der Antragsteller in ein Telefongespräch vertieft war. Der Geschädigte machte durch Gesten auf sich aufmerksam und bedeutete dem Antragsteller, ein Stück nach vorne zu fahren. Daraufhin bewegte der Antragsteller sein Fahrzeug ein kleines Stück nach vorne, was jedoch für das beabsichtigte Einparken des Geschädigten nicht ausreichte. Daraufhin begab sich der Geschädigte erneut an die Fahrerseite des Fahrzeugs des Antragstellers, klopfte gegen die Scheibe und bat den Antragsteller noch einmal, er möge nach vorne fahren. Der Antragsteller reagierte zunächst nicht und entgegnete schließlich sinngemäß, er werde jetzt nicht weiterfahren. Der Geschädigte wollte dann zunächst aufgeben und war schon in Richtung seines Fahrzeugs unterwegs, als er es sich nochmal anders überlegte und noch einmal an das Fahrzeug des Antragstellers trat, sich bemerkbar machte und schließlich die Fahrertür öffnete, um den Antragsteller nochmals zu bitten, wegzufahren. Hierbei war der Geschädigte bedingt durch das Öffnen der Fahrertür etwas zurückgetreten, als der Antragsteller sich unvermittelt aus seinem Fahrzeug bewegte und dem Geschädigten mit der Faust ins Gesicht schlug, so dass dieser eine Platzwunde an der Unterlippe erlitt.
Hinsichtlich des Fahrverbots gemäß § 44 Strafgesetzbuch (StGB) führte das Gericht im Urteil aus: „Von einem Führerscheinentzug hat die Kammer abgesehen. Zwar wäre dies grundsätzlich bei der vorliegenden Tat möglich gewesen. Infolge der Provokation durch den Geschädigten [durch Besitzstörung], aber vor allem auch wegen der schon einige Monate andauernden vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis und der schon etwas längeren Verfahrensdauer hielt die Kammer dies im Ergebnis für nicht mehr angebracht. Allerdings war gemäß § 44 StGB ein Fahrverbot als Mittel der Besinnung im Wege der Nebenstrafe festzusetzen. Die Tat wurde im Zusammenhang mit dem Führen von Kraftfahrzeugen begangen. Ein Fahrverbot von drei Monaten erscheint im Hinblick auf Art des Vergehens und deren Folgen angemessen.“
Mit Schreiben vom 30. Juli 2021 forderte die Fahrerlaubnisbehörde den Antragsteller auf, bis spätestens 17. Oktober 2021 ein medizinisch-psychologisches Gutachten einer amtlich anerkannten Begutachtungsstelle für Fahreignung vorzulegen. Mit diesem Gutachten sollte geklärt werden, ob trotz der aktenkundigen Straftat (hohes Aggressionspotenzial im Straßenverkehr) zu erwarten ist, dass die zu begutachtende Person die Anforderungen an das sichere Führen eines Kraftfahrzeugs der Gruppe 1 und 2 im Verkehr erfüllt und dass die zu begutachtende Person nicht erheblich oder wiederholt gegen verkehrsrechtliche/strafrechtliche Bestimmungen verstoßen wird, so dass dadurch die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen ausgeschlossen ist. Zugunsten des Antragstellers wurde gewertet, dass er durch den Geschädigten durch das rechtswidrige Öffnen der Fahrertür provoziert wurde und im Strafverfahren den Sachverhalt zumindest teilweise eingeräumt hat. Zulasten des Antragstellers wurde gewertet, dass sein grundloses, ungerechtfertigtes und unvorhersehbares Vorgehen von einem hohen Aggressionspotenzial und einer Neigung zum impulsiven, besonders rücksichtslosen Durchsetzen eigener Interessen zeugte. Dies ließe sich auch aus der vorsätzlichen und nicht lediglich fahrlässigen Begehung der Tat schließen. Im Interesse der allgemeinen Verkehrssicherheit sei die Begutachtung angemessen, um die Fahreignung des Antragstellers zu überprüfen, da sein aggressives Verhalten und seine scheinbar geringe Hemmschwelle Zweifel an seiner charakterlichen Eignung begründen und die Vermutung rechtfertigen, dass sich dies auch auf sein Verkehrsverhalten in Form von Nichtbeachtung von Verkehrsnormen und einer Missachtung der Rechte und Interessen anderer Verkehrsteilnehmer auswirken könnte. Als Rechtsgrundlage wurde § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 6 Alt. 1 Fahrerlaubnis-Verordnung (FeV) genannt. Die Gutachtenanordnung enthielt den Hinweis, dass auf die fehlende Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen geschlossen und die Fahrerlaubnis entzogen werde, wenn die angeordnete Begutachtung verweigert bzw. das angeordnete Gutachten nicht vorgelegt werde.
Nachfolgend erhielt die Fahrerlaubnisbehörde am … November 2021 von der vom Antragsteller ausgewählten Begutachtungsstelle für Fahreignung A. … … das Gutachten zur Untersuchung des Antragstellers vom … September 2021, aus dem unter anderem hervorgeht, dass der Antragsteller derzeit ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen ist. Die behördliche Fragestellung aus der Anordnung vom … Juli 2021 wurde wie folgt beantwortet: „Es ist unter Berücksichtigung der aktenkundigen Straftaten im Zusammenhang mit der Kraftfahreignung aufgrund von Anhaltspunkten für ein hohes Aggressionspotential zu erwarten, dass [der Antragsteller] künftig erheblich oder wiederholt gegen verkehrsrechtliche Bestimmungen oder Strafgesetze verstoßen wird.“
Mit Bescheid vom 2. Dezember 2021 entzog daraufhin die Fahrerlaubnisbehörde dem Antragsteller die Fahrerlaubnis aller Klassen (Nummer 1) und ordnete die sofortige Vollziehung an (Nummer 3). Der ebenfalls für sofort vollziehbar erklärten Anordnung zur Abgabe des Führerscheins (Nummer 2) – hinsichtlich der ein Zwangsgeld angedroht wurde (Nummer 4) – kam der Antragsteller am … Dezember 2021 nach.
Gegen diesen Bescheid ließ der Antragsteller am 8. Dezember 2021 beim Bayerischen Verwaltungsgericht München Klage erheben, stellte gleichzeitig einen Antrag im vorläufigen Rechtsschutz und beantragte,
die sofortige Vollziehung des Bescheids des Antragsgegners vom 2. Dezember 2021 auszusetzen, die aufschiebende Wirkung der Klage vom 8. Dezember 2021 wiederherzustellen und dem Antragsgegner aufzugeben, den vom Antragsteller abgelieferten Führerschein unverzüglich wieder an den Antragsteller herauszugeben.
Zur Begründung wurde im Wesentlichen angeführt, dass die Anordnung der sofortigen Vollziehung des Entzugs der Fahrerlaubnis und der Entziehung des Führerscheins materiell rechtswidrig sei und nicht durch ein überwiegendes Vollziehungsinteresse der Öffentlichkeit begründet sei. Das Berufungsurteil stehe der Rechtmäßigkeit des streitgegenständlichen Bescheids aufgrund der Bindungswirkung des § 3 Abs. 4 Satz 1 Straßenverkehrsgesetz (StVG) entgegen. Zudem sei die Anordnung zur Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens vom … Juli 2021 nicht rechtmäßig gewesen. Mit Schriftsatz vom … Januar 2022 vertiefte die Klagepartei ihr Vorbringen und ergänzte, das Gutachten sei sehr pauschal gehalten und aufgrund einer Suggestivfragestellung nicht verwertbar.
Die Antragsgegner legte die Akten vor und beantragte,
den Antrag abzulehnen.
Der Antragsteller habe sich als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erwiesen, da er aufgrund des medizinisch-psychologischen Gutachtens einer amtlich anerkannten Begutachtungsstelle für Fahreignung vom … September 2021 als nicht geeignet begutachtet wurde. Die Anordnung zur Vorlage des Gutachtens sei rechtmäßig gewesen (§ 3 Abs. 1 Satz 1 StVG i.V.m. § 46 Abs. 3 i.V.m. § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 6 Alt. 1 FeV). Dem Antragsteller sei die Fahrerlaubnis gemäß § 3 Abs. 1 Satz 1 StVG i.V.m. § 46 Abs. 1 Satz 1 FeV infolge der erwiesenen Nichteignung zwingend zu entziehen gewesen. Die Pflicht zur Ablieferung des Führerscheins ergebe sich aus § 3 Abs. 2 Satz 3 StVG i.V.m. der FeV. Die feststehende Nichteignung zum Führen von Kraftfahrzeugen stelle zudem eine erhebliche Gefahr für Leben und Gesundheit der anderen Verkehrsteilnehmer dar, so dass das besondere öffentliche Interesse an der Umsetzung der Fahrerlaubnisentziehung die Anordnung des sofortigen Vollzugs (Nr. 2 des Bescheids vom 2. Dezember 2021) rechtfertige. Eine Bindungswirkung gemäß § 3 Abs. 4 Satz 1 StVG bestehe überdies nicht. Das Berufungsurteil vom … November 2020 enthalte keine Feststellungen hinsichtlich der Fahreignung des Antragstellers
Mit Schriftsatz der Klagepartei vom 15. Dezember 2021 sowie Schreiben des Beklagten vom 20. Dezember 2021 erklärten sich die Beteiligten mit einer Entscheidung durch den Vorsitzenden oder Berichterstatter einverstanden.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird ergänzend auf die Gerichtsakte sowie auf die vorgelegte Behördenakte verwiesen.
II.
Mit Einverständnis der Beteiligten konnte durch den Berichterstatter entschieden werden (§ 87a Abs. 2, 3 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO).
Der nicht zwischen den einzelnen Nummern des Bescheids differenzierende Antrag ist zunächst gemäß §§ 122 Abs. 1, 88 VwGO dahingehend auszulegen, dass er auf die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Nummern 1 und 2 des Bescheids vom 2. Dezember 2021 gerichtet ist. Aus der Gesamtschau der Anträge lässt sich entnehmen, dass die aufschiebende Wirkung auch hinsichtlich der Verpflichtung zur Abgabe des Führerscheins wiederhergestellt werden soll. Die diesbezügliche Verpflichtung in Ziffer 2 des Bescheides hat sich durch die Abgabe des Führerscheins nicht erledigt, denn sie stellt den Rechtsgrund für das vorläufige Behaltendürfen dieses Dokuments für die Fahrerlaubnisbehörde dar (BayVGH, B.v. 12.2.2014 – 11 CS 13.2281 – juris). Der Antragsteller will auch erkennbar gerade diese Rechtsgrundlage beseitigen, um den Führerschein so schnell wie möglich wieder zu erhalten.
Der so verstandene Antrag ist zulässig, aber unbegründet und daher ohne Erfolg. Die aufschiebende Wirkung der Klage war nicht wiederherzustellen.
1) Einwendungen gegen die formellen Anforderungen an die Begründung der Anordnung des Sofortvollzugs (§ 80 Abs. 3 VwGO) wurden weder konkret vorgebracht noch sind solche ersichtlich. Die Sicherheitsrecht vollziehende Behörde hat ausführlich dargelegt, warum sie im konkreten Einzelfall des Antragstellers im Interesse des Schutzes der Allgemeinheit vor den Gefährdungen durch ungeeignete Kraftfahrer die sofortige Vollziehung anordnete.
2) Gemäß § 80 Abs. 1 VwGO haben Widerspruch und Anfechtungsklage grundsätzlich aufschiebende Wirkung. Diese entfällt, wenn die Behörde nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO die sofortige Vollziehung im öffentlichen Interesse oder im überwiegenden Interesse eines Beteiligten angeordnet hat. Nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung im Fall des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO ganz oder teilweise wiederherstellen. Es trifft dabei eine originäre Ermessensentscheidung und hat bei der Entscheidung über die Wiederherstellung bzw. Anordnung der aufschiebenden Wirkung abzuwägen zwischen dem (von der Behörde geltend gemachten) Interesse an der sofortigen Vollziehung ihres Bescheids und dem Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seines Rechtsbehelfs. Dabei sind die Erfolgsaussichten des Hauptsacherechtsbehelfs zu berücksichtigen. Unter Anwendung dieser Grundsätze auf den vorliegenden Fall war der Antrag abzulehnen, da sich die Entziehung der Fahrerlaubnis nach der hier gebotenen, aber auch ausreichenden summarischen Prüfung als rechtmäßig darstellt und der Antragsteller nicht in seinen Rechten verletzt, so dass die hiergegen erhobene Klage ohne Erfolg bleiben wird (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung des angefochtenen Bescheides wiegt insoweit schwerer als das Interesse des Antragstellers an der Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage.
Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage der angegriffenen Entziehungsentscheidung ist derjenige der letzten Behördenentscheidung, hier also – aufgrund direkter Klageerhebung – die Bekanntgabe des Entziehungsbescheides.
Dieser ist rechtmäßig und verletzt den Antragsteller nicht in seinen Rechten. Der Eignungsüberprüfung durch die Fahrerlaubnisbehörde stand dabei nicht eine sich aus § 3 Abs. 4 Satz 1 StVG ergebende Bindungswirkung des Berufungsurteils der 26. Strafkammer des Landgerichts München I vom … November 2020 entgegen (sogleich a.). Des Weiteren stellt das vorgelegte Gutachten eine neue zu berücksichtigende Tatsache dar (sogleich b.) und ist verwertbar (sogleich c.), sodass die Fahrerlaubnisbehörde zu Recht die Nichteignung des Antragstellers zum Führen von Kraftfahrzeugen als erwiesen angesehen hat und folglich die Fahrerlaubnis gemäß § 3 Abs. 1 Satz 1 StVG i.V.m. § 46 Abs. 1 Satz 1 FeV zu entziehen war. Das Gericht verweist zur Begründung zunächst auf die zutreffenden Ausführungen des streitgegenständlichen Bescheids (§ 117 Abs. 5 VwGO) und führt mit Rücksicht auf das Vorbringen des Antragstellers ergänzend aus:
a. Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 Straßenverkehrsgesetz – StVG – und § 46 Abs. 1 Satz 1 Fahrerlaubnisverordnung hat die Fahrerlaubnisbehörde die Fahrerlaubnis zu entziehen, wenn sich ihr Inhaber als ungeeignet oder nicht befähigt zum Führen von Kraftfahrzeugen erweist. Werden Tatsachen bekannt, die Bedenken begründen, dass der Inhaber einer Fahrerlaubnis zum Führen eines Kraftfahrzeugs ungeeignet oder bedingt geeignet ist, finden die §§ 11 bis 14 FeV entsprechend Anwendung (§ 3 Abs. 1 Satz 3 i.V.m. § 2 Abs. 8 StVG, § 46 Abs. 3 FeV). Nach § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 6 Alt. 1 FeV kann bei einer erheblichen Straftat, die im Zusammenhang mit der Kraftfahrereignung steht, insbesondere, wenn Anhaltspunkte für ein hohes Aggressionspotenzial bestehen, zur Klärung von Eignungszweifeln für die Zwecke nach § 11 Abs. 1 FeV die Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens angeordnet werden.
Der Eignungsüberprüfung durch die Fahrerlaubnisbehörde stand dabei nicht eine sich aus § 3 Abs. 4 Satz 1 StVG ergebende Bindungswirkung des Berufungsurteils der 26. Strafkammer des Landgerichts München I vom … November 2020 entgegen. Gemäß § 3 Abs. 4 Satz 1 StVG kann die Fahrerlaubnisbehörde, wenn sie in einem Entziehungsverfahren einen Sachverhalt berücksichtigen will, der Gegenstand der Urteilsfindung in einem Strafverfahren gegen den Inhaber der Fahrerlaubnis gewesen ist, zu dessen Nachteil vom Inhalt des Urteils insoweit nicht abweichen, als es sich auf die Feststellung des Sachverhalts oder die Beurteilung der Schuldfrage oder der Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen bezieht. Allerdings ist die Verwaltungsbehörde an die strafrichterliche Eignungsbeurteilung nur dann gebunden, wenn diese auf ausdrücklich in den schriftlichen Urteilsgründen getroffenen Feststellungen beruht und wenn die Behörde von demselben und nicht von einem anderen, umfassenderen Sachverhalt als der Strafrichter auszugehen hat. Die Bindungswirkung lässt sich nur rechtfertigen, wenn die Verwaltungsbehörde den schriftlichen Urteilsgründen sicher entnehmen kann, dass überhaupt und mit welchem Ergebnis das Strafgericht die Fahreignung beurteilt hat. Deshalb entfällt die Bindungswirkung, wenn das Strafurteil überhaupt keine Ausführungen zur Kraftfahreignung enthält oder wenn jedenfalls in den schriftlichen Urteilsgründen unklar bleibt, ob das Strafgericht die Fahreignung eigenständig beurteilt hat (s. OVG NW, B. v. 01.08.2014, 16 A 2960/11 m.w.N.).
Ist dies nicht der Fall oder bestehen auch nur Unklarheiten, so wäre es mit der den Fahrerlaubnisbehörden im Interesse der Verkehrssicherheit übertragenen Ordnungsaufgabe nicht zu vereinbaren, ihnen die Möglichkeit zu nehmen, durch Anordnungen nach § 11 Abs. 3 Satz 1 FeV Klarheit über die zweifelhaft gebliebene Eignung des verurteilten Kraftfahrers zu schaffen. Die Vorschrift des § 3 Abs. 4 StVG darf im Ergebnis nicht dazu führen, dass in keinem der beiden in Betracht kommenden Verfahren die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen ordnungsgemäß überprüft und beurteilt wird (BVerwG, U.v. 15.7.1988 – 7 C 46.87 – juris). So liegt der Fall hier. Das Berufungsurteils des Landgerichts München I vom … November 2020 enthält in den Urteilsgründen keine Ausführungen zur Fahreignung des Antragstellers und hinsichtlich einer Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 69 StGB nur insoweit, als dass diese bei der vorliegenden Tat möglich gewesen wäre, aber vor allem wegen der Verfahrensumstände für nicht mehr angebracht erachtet wurde. Dem Urteil lässt sich damit bereits nicht entnehmen, ob das Strafgericht eine eigenständige Eignungsbeurteilung in dem von § 3 Abs. 4 StVG vorausgesetzten Sinn überhaupt vorgenommen hat (vgl. auch BayVGH, B. v. 14.09.2020 – 11 CS 20.941 -, juris). Entgegen der Ansicht des Antragstellers existieren damit gerade keine die Fahrerlaubnisbehörde bindenden strafrichterlichen Feststellungen zur Fahreignung.
b. Auf die Frage, ob die auf § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 6 FeV gestützte Anordnung zur Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens rechtmäßig war, kommt es nach Vorlage des Gutachtens – wie hier – grundsätzlich nicht mehr an.
Nach gefestigter obergerichtlicher Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs, der sich das erkennende Gericht anschließt, hängt die Verwertbarkeit einer angeordneten medizinisch-psychologischen Begutachtung nicht von der Rechtmäßigkeit der behördlichen Anordnung ab, wenn sich der Fahrerlaubnisinhaber dieser Begutachtung gestellt hat und das Gutachten der Behörde vorliegt. Es handelt sich dabei um eine neue Tatsache, die selbständige Bedeutung hat (BVerwG, B.v. 19.3.1996 – 11 B 14/96 – VRS 92, 157/158, U.v. 18.3.1982 – 7 C 69/81 – BVerwGE 65, 157f; BayVGH, B.v. 15.6.2009 – 11 CS 09.373 – juris Rn. 21 sowie B.v. 11.6.2014 – 11 CS 14.532 – juris).
Ungeachtet dessen weist das Gericht aufgrund des umfangreichen Vorbringen der Beteiligten darauf hin, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen für die Anordnung zur Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens nach § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 6 FeV gleichsam vorlagen.
Der Antragsteller hat mit der vorsätzlichen Körperverletzung eine im Hinblick auf die Kraftfahrereignung erhebliche Straftat im Sinne dieser Vorschrift begangen. Der Begriff „erheblich“ ist nach der Begründung der Änderungsverordnung zur Fahrerlaubnisverordnung vom 18. Juli 2008 (BGBl I S. 1338, BR-Drs. 302/08 S. 61) nicht ohne weiteres mit „schwerwiegend“ gleichzusetzen, sondern bezieht sich auf die Kraftfahrereignung (vgl. Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 45. Auflage 2019, § 11 FeV Rn. 30 m.w.N.). Der Bezug zur Kraftfahrereignung setzt dabei nicht voraus, dass ein Kraftfahrzeug als Mittel zur Straftat genutzt wurde oder die Tat selbst unmittelbar im Straßenverkehr begangen wurde (vgl. BayVGH, B.v. 25.3.2014 – 11 C 13.1837, juris Rn. 7). Vielmehr muss anhand konkreter Umstände, die sich aus der Tat unter Berücksichtigung der Täterpersönlichkeit ergeben, festgestellt werden, ob die Anlasstat tatsächlich Rückschlüsse auf die Kraftfahreignung zulässt (vgl. BayVGH, B.v. 5.7.2012 – 11 C 12.874, juris Rn. 27; B.v. 6.11.2017 – 11 CS 17.1726, juris Rn. 27). Die erforderlichen Anhaltspunkte für ein hohes Aggressionspotenzial müssen hinreichend konkret sein und den entsprechenden Eignungsmangel des Fahrerlaubnisinhabers als naheliegend erscheinen lassen (vgl. BVerfG, B.v. 20.6.2002 – 1 BvR 2062/96 -, NJW 2002, 2378, 2380). Das Aggressionspotenzial muss aber nicht bereits als vorhanden festgestellt worden sein (VGH Mannheim, U.v. 14.9.2004 – 10 S 1283/04 -, juris Rn. 31). Die Einholung eines Gutachtens dient gerade der Klärung bestehender Zweifel an der Fahreignung.
Als aggressive Straftaten in diesem Sinne gelten solche, die eine Neigung zu planvoller, bedenkenloser Durchsetzung eigener Anliegen ohne Rücksicht auf berechtigte Interessen anderer oder eine Bereitschaft zu ausgeprägt impulsivem Verhalten offenbaren und dabei Verhaltensmuster deutlich machen können, die sich so negativ auf das Führen von Kraftfahrzeugen auswirken können, dass die Verkehrssicherheit gefährdet wird. Dabei kommt auch eine vorsätzlich begangene Körperverletzung als erhebliche Tat in Betracht, insbesondere wenn die Tat in unmittelbarem Zusammenhang mit einem Verhalten im Straßenverkehr steht. Dies ist hier der Fall. Der Antragsteller ist laut den Feststellungen des strafrechtlichen Berufungsurteils bei einer Einparksituation des Geschädigten unvermittelt aus dem Auto gestiegen und hat diesen mit einem Faustschlag ins Gesicht vorsätzlich verletzt. Das unvermittelte Aussteigen und Niederschlagen des Geschädigten durch einen Faustschlag in das Gesicht, ohne dass es nachgewiesen davor zu einer verbalen Auseinandersetzung gekommen war, zeugt – auch unter Berücksichtigung der vorangegangenen Provokation durch das Öffnen der Fahrertür durch den Geschädigten – von großer Aggressivität und mangelnder Impulskontrolle. Es blieb im vorliegenden Fall gerade nicht bei einer rein verbalen Auseinandersetzung (vgl. VG Freiburg i. Br., B. v. 24.11.2015 – 4 K 2480/15), sondern die Schwelle zum körperlichen Angriff wurde überschritten. Der Antragsteller konnte nicht kraft eigener Willenskontrolle die Überschreitung dieser Schwelle zum körperlichen Angriff unterlassen und damit belegen, dass er imstande ist, eine Aggression zumindest so zu steuern, dass es nicht zu einer Verletzung der körperlichen Integrität kommt. Das Verhalten des Antragstellers, welches aus einer alltäglichen Verkehrssituation entstanden ist, ist daher geeignet, Zweifel an der Eignung des Antragstellers zu begründen, da es im Straßenverkehr immer wieder zu Konfliktsituationen mit anderen Verkehrsteilnehmern kommen kann, in denen sich Andere möglicherweise unrichtig oder nicht der Situation angemessen verhalten. In solchen Momenten müssen Kraftfahrer in der Lage sein, sich unter Kontrolle zu halten und nicht wegen des Verhaltens eines anderen aggressiv in Worten oder tätlich zu reagieren. Mit dem angeordneten Gutachten sollte aufgeklärt werden, ob es zu einer Einstellungs- und Verhaltensänderungen beim Antragsteller gekommen ist, damit (künftig) eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen werden kann. Dass sich der Antragsteller seit seiner Tat vom … September 2019 „nichts hat zuschulden kommen lassen“ kann dabei nicht gegen die Rechtmäßigkeit der Anordnung des Gutachtens angeführt werden. Zum einen ist die mehrmonatige vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis seit … November 2019 (aufgehoben am … Januar 2020) und seit … August 2020 zur Abgeltung des dreimonatigen Fahrverbots zu berücksichtigen, wodurch die aktive Teilnahme des Antragstellers am Straßenverkehr als Führer eines zulassungspflichtigen Kraftfahrzeugs seit seiner Tat vom … September 2019 bis zur Anordnung des Gutachtens am … Juli 2021 nicht unerheblich eingeschränkt war. Zum anderen kann von einer Unverhältnismäßigkeit der Gutachtenanordnung aufgrund Zeitablaufes nicht gesprochen werden, da die Fahrerlaubnisbehörde erst mit Eingang der Mitteilung nach Nr. 45 der Anordnung in Strafsachen am … Juli 2021 Kenntnis von der Tat erlangt und mit Schreiben vom … Juli 2021 unmittelbar die Vorlage eines Gutachtens angeordnet hat. Daher kann dahinstehen, ob eine Verwirkung im Rahmen sicherheitsrechtlicher Befugnisse überhaupt in Betracht kommt (vgl. BayVGH, Beschluss vom 7. Januar 2014 – 11 CS 13.2005 – juris; VGH München, Beschluss vom 15. März 2019 – 11 CS 19.199 – juris).
c. Entgegen der nunmehr vorgebrachten Ansicht der Klagepartei ist das vorgelegte Gutachten auch verwertbar. Es ist insbesondere schlüssig und nachvollziehbar.
Die anlässlich der vorsätzlich begangenen Körperverletzung entstandenen Zweifel an der Fahreignung i.S.v. §§ 46 Abs. 3 i.V.m. 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 6 FeV des Antragstellers wurden durch das Gutachten bestätigt. Dieses führt aus, dass Personen, die in strafrechtlicher Hinsicht in Erscheinung getreten sind, mit großer Wahrscheinlichkeit auch in Zukunft gegen verkehrsrechtliche Bestimmungen verstoßen werden, da solche Auffälligkeiten in aller Regel durch ein zur Gewohnheit gewordenes Fehlverhalten bedingt sind, was die Anpassung an Normen und Gesetze erschwert. Das psychologische Untersuchungsgespräch habe ergeben, dass die Schilderungen des Tathergangs vom … September 2019 durch den Antragsteller wiederholt erheblich von der Aktenlage abwichen und insgesamt beschönigend wirkten, so dass eine ausreichend selbstkritisch geführte Auseinandersetzung mit Ausmaß und persönlichen Ursachen des Fehlverhaltens noch nicht festgestellt werden konnte und eine positive Prognose noch nicht möglich war. Das Gutachten führt dabei insbesondere konkret auf (S. 13 des Gutachtens), dass der Antragsteller weitgehend äußere Faktoren für den Vorfall verantwortlich macht und benennt diese mit wörtlichen Zitaten („telefoniert, habe nur den Schatten gesehen, sei erschrocken gewesen“) aus dem Untersuchungsgespräch. Gerade diese Einlassung entspricht auch der Einlassung des Antragstellers im strafrechtlichen Verfahren, welche im Berufungsurteil widerlegt wurde. Auch wenn im Gutachten auf eine genauere Bezeichnung und detaillierte Wiedergabe der Aktenlage verzichtet wurde, ist hinreichend erkennbar, dass auf das im Gutachten (S. 2 des Gutachtens) bezeichnete Urteil Bezug genommen wird. Zudem werden die vom Antragsteller „noch stark auf die Veränderung äußerer Bedingungen“ abzielenden vorgebrachten Vermeidungsansätze ebenfalls mittels wörtlicher Zitate eingebracht und bewertet. Der Vorwurf, das Gutachten sei zu pauschal, trifft folglich nicht zu.
Auch die Bedenken des Antragstellers hinsichtlich einer (Suggestiv-)Fragestellung teilt das Gericht nicht. Inwieweit die spezifische Fragestellung einer verkehrsmedizinischen Gutachtensanordnung, die den Anforderungen an Anlassbezogenheit und hinreichender Bestimmtheit genügen muss und an den Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung orientiert, eine Einwirkung auf die Entscheidung von gerade auf die Beantwortung solcher Fragestellungen geschulten Kräften haben soll, ist nicht im Ansatz nachvollziehbar vorgetragen noch sonst ersichtlich.
Die Ungeeignetheit des Antragstellers zum Führen von Kraftfahrzeugen nach §§ 3 Abs. 1 Satz 1 StVG i.V.m. § 46 Abs. 1 Satz 1 FeV ist als erwiesen anzusehen, weshalb die Fahrerlaubnis zu entziehen war.
3) Angesichts der fehlenden Erfolgsaussichten der Klage und der Gefahren für Leben, körperliche Unversehrtheit und Eigentum anderer Verkehrsteilnehmer durch fahrungeeignete Personen hat es bei der sofortigen Vollziehung der Entziehung der Fahrerlaubnis zu verbleiben und müssen die privaten Interessen des Antragstellers am Erhalt der Fahrerlaubnis zurücktreten. Selbst wenn die Fahrerlaubnisentziehung gravierende Folgen sowohl beruflicher als auch privater Art für den Antragsteller hat, gebietet es die Sicherheit des Straßenverkehrs angesichts des zu Recht gezogenen Schlusses auf die Nichteignung des Antragstellers zum Führen von Kraftfahrzeugen am Sofortvollzug festzuhalten (vgl. BayVGH, Beschluss vom 31.10.2014 – 11 CS 14.1627 – beck-online).
4) Da die aufschiebende Wirkung hinsichtlich der Ziffer 1 des Bescheides folglich nicht wiederherzustellen war, verbleibt es auch bei der für sofort vollziehbar erklärten Verpflichtung zur Abgabe des Führerscheins in Ziffer 2 des Bescheids (vgl. § 3 Abs. 2 Satz 3 StVG).
Der Antrag war insgesamt mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzulehnen.
Die Streitwertfestsetzung ergibt sich aus § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 Gerichtskostengesetz und berücksichtigt die Empfehlungen des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (Stand 2013, Nrn. 1.5, 46.1, 46.3 und 46.5).


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