Verkehrsrecht

Entziehung der Fahrerlaubnis, Untersagung des Führens fahrerlaubnisfreier Fahrzeuge, Fahrradfahrt mit einer BAK von mehr als 1, 6 Promille, Nachvollziehbarkeit des medizinisch-psychologischen Gutachtens unzureichend

Aktenzeichen  M 19 K 21.982

Datum:
23.6.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 20617
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
FeV § 46 Abs. 1
FeV § 13 S. 1 Nr. 2 Buchst. c
StVG § 3 Abs. 1

 

Leitsatz

Tenor

I. Die Bescheide des Landratsamts T.vom 18. Januar 2021 und vom 19. Januar 2021 werden aufgehoben. 
II. Der Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. 
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Klägerin vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die Klage ist zulässig und begründet. Die streitgegenständlichen Bescheide des Beklagten vom 18. und 19. Januar 2021 sind rechtwidrig und verletzen die Klägerin in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).
Rechtsgrundlage für den Bescheid vom 18. Januar 2021 bezüglich der Entziehung der Erlaubnis zum Führen von Kraftfahrzeugen stellen § 3 Abs. 1 Satz 1 StVG und § 46 Abs. 1 Satz 1 FeV dar. Als Rechtsgrundlage für den Bescheid vom 19. Januar 2021 bezüglich der Untersagung des Führens erlaubnisfreier Fahrzeuge wird § 3 Abs. 1 FeV herangezogen.
Tatbestand:smerkmal der drei Vorschriften ist, dass der Betroffene fahrungeeignet ist. Eine Fahrungeeignetheit lässt sich vorliegend jedoch nicht belegen und kann insbesondere nicht auf die medizinisch-psychologische Untersuchung vom 14. September 2020 gestützt werden.
Werden Tatsachen bekannt, die Bedenken begründen, dass der Inhaber einer Fahrerlaubnis zum Führen eines Kraftfahrzeugs ungeeignet oder bedingt geeignet ist, finden die §§ 11 bis 14 FeV entsprechend Anwendung (§ 46 Abs. 3 FeV).
1. Aufgrund der Trunkenheitsfahrt der Klägerin mit einem Fahrrad mit einer Blutalkoholkonzentration von mehr als 1,6 Promille bestanden zwar seitens des Beklagten zu Recht Fahreignungszweifel in Bezug auf die Person der Klägerin (§ 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c FeV), sodass ein medizinisch-psychologisches Gutachten anzuordnen war.
Ohne Bedeutung ist dabei, dass die Teilnahme am Straßenverkehr nicht mit einem Kraftfahrzeug, sondern mit einem Fahrrad erfolgt ist. Denn die Teilnahme am Straßenverkehr in erheblich alkoholisiertem Zustand stellt mit jedem Fahrzeug und somit auch mit einem Fahrrad eine gravierende Gefahr für die Sicherheit des Straßenverkehrs dar. Eine festgestellte Blutalkoholkonzentration in dieser Höhe begründet somit den Verdacht eines die Fahreignung ausschließenden Alkoholmissbrauchs (vgl. BVerwG, B.v. 20.6.2013 – 3 B 102/12 – juris Rn. 7; BayVGH, B.v. 7.1.2020 – 11 CS 19.2237 – juris LS, Rn. 11). Fahrzeuge im Sinn des § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c FeV sind nicht nur Kraftfahrzeuge, sondern Fahrzeuge jeder Art (auch Fahrräder), die zur Beförderung von Personen oder Sachen dienen und am öffentlichen Straßenverkehr teilnehmen (vgl. BVerwG, B.v. 20.6.2013 – 3 B 102/12 – juris LS, Rn. 6; U.v. 21.5.2008 – 3 C 32.07 – juris LS, Rn. 19; BayVGH, B.v. 5.2.2021 – 11 ZB 20.2611 – juris Rn. 27; B.v. 15.5.2013 – 11 ZB 13.450, 11 ZB 13.451 – juris Rn. 19; OVG RhPf, U.v. 17.8.2012 – 10 A 10284/12 – juris LS, Rn. 24 f.).
2. Aus einer Trunkenheitsfahrt mit einem Fahrrad kann jedoch nur dann auf die Nichteignung zum Führen von fahrerlaubnispflichtigen Fahrzeugen geschlossen werden, wenn feststeht, dass die Trunkenheitsfahrt mit einem Fahrrad aufgrund fehlender Vermeidungsstrategien genauso gut in eine Trunkenheitsfahrt mit einem Kraftfahrzeug hätte münden können. Diese Annahme trägt das vorliegende medizinisch-psychologische Gutachten vom 28. September 2020 jedoch nicht. Es setzt sich nicht mit dem Kriterium der Vermeidungsstrategie auseinander und ist damit nicht schlüssig und nachvollziehbar, so dass der Beklagte nicht auf der Grundlage des Gutachtens von der fehlenden Eignung der Klägerin zum Führen von Kraftfahrzeugen und erlaubnisfreien Fahrzeugen ausgehen durfte.
2.1. Um zu klären, ob bei einer Person, die ausschließlich als Fahrradfahrer alkoholisiert am Straßenverkehr teilgenommen hat, die Gefahr künftiger Verstöße gegen das fahrerlaubnisrechtliche Trennungsgebot besteht, müssen im Rahmen einer medizinisch-psychologischen Begutachtung anhand der vom Bundesverwaltungsgericht aufgestellten Grundsätze (BVerwG, U.v. 21.5.2008 – 3 C 32/07 – juris Rn. 20) die Umstände der in der Vergangenheit zu verzeichnenden Trunkenheitsfahrt, die Vorgeschichte und die Entwicklung des Trinkverhaltens des Betroffenen sowie schließlich sein Persönlichkeitsbild näher aufgeklärt und bewertet werden. Vor allem muss geklärt werden, ob die Trunkenheitsfahrt mit dem Fahrrad Ausdruck eines Kontrollverlusts war, der genauso gut zu einer Verkehrsteilnahme mit einem Kraftfahrzeug führen kann (BVerwG, U.v. 21.5.2008 – 3 C 32/07 – juris Rn. 20; dem BVerwG folgende, gefestigte obergerichtliche Rechtsprechung: BayVGH, B.v. 14.4.2009 – 11 CS 08.3428 – juris Rn. 19; BayVGH, B.v. 10.10.2011 – 11 CS 11.1963 – juris Rn. 13).
2.2. Da die Klägerin bislang nicht unter Alkoholeinfluss mit einem Kraftfahrzeug auffällig wurde und behauptet, den Konsum von Alkohol und das Führen eines Kraftfahrzeugs stets zu trennen, hätte versucht werden müssen, zu klären, ob die Trunkenheitsfahrt mit dem Fahrrad Ausdruck einer bewussten Vermeidungsstrategie war oder ob statt einer Fahrt mit dem Fahrrad genauso gut eine Trunkenheitsfahrt mit einem Kraftfahrzeug hätte stattfinden können (BayVGH, B.v. 10.10.2011 – 11 CS 11.1963 – juris). Hierauf geht das Gutachten jedoch nicht ein. Die gutachterlich gestellten Fragen beziehen sich allesamt auf Fahrten unter Einfluss von Alkohol mit einem fahrerlaubnisfreien Fahrzeug. Trotz der klar differenzierten Fragestellung zwischen fahrerlaubnispflichtigen und fahrerlaubnisfreien Fahrzeugen fehlen Fragen bezüglich Alkoholfahrten in fahrerlaubnispflichtigen Fahrzeugen.
Obwohl die Klägerin sogar ungefragt zu ihrer Vermeidungsstrategie Auskunft gab (Gutachten, S. 11, 5. Absatz), lässt der Gutachter diesen Aspekt nicht in seine Bewertung einfließen. Die diesbezügliche Aussage der Klägerin, sie habe nie am Straßenverkehr unter Alkoholeinfluss teilgenommen und bei Fahrten zur Freundin das Auto bewusst in der Garage gelassen, wird zwar als glaubhaft eingeschätzt (Gutachten, S. 15 a.E.). Dennoch fehlt eine Auseinandersetzung des Gutachtens mit diesen Angaben der Klägerin, ebenso wie mit der Aussage, der Genuss von Alkohol finde so gut wie ausschließlich anlässlich gesellschaftlicher Zusammenkünfte bei der 1 km entfernt wohnenden Freundin (Gutachten, S. 12, 6. Absatz) statt. Ob die Gutachtensstelle die Fahrt im September 2019 mit dem Fahrrad als bewusste Strategie angesehen hat, um eine Fahrt unter Alkoholeinfluss mit einem Kraftfahrzeug zu vermeiden oder aber nicht, ist dem Gutachten somit nicht zu entnehmen. Es sei laut Gutachtenbewertung allein davon auszugehen, dass eine fehlende Verhaltenskontrolle hinsichtlich der Trennung von Alkoholkonsum und dem Führen eines Fahrzeugs (Fahrrads) bestanden habe (Gutachten, S. 15, 3. Absatz). Damit stellt das Gutachten im Übrigen allein auf die Fahrt vom September 2019 ab, ohne aber die gewünschte Prognose für die Zukunft zu stellen (s. dazu Rn. 28).
Festzuhalten bleibt, dass eine Bewertung der Aussagen der Klägerin zu ihrer Vermeidungsstrategie hinsichtlich des Führens von Kraftfahrzeugen unterbleibt. Daher erschließt es sich dem Gericht nicht, wie im Gutachten im Endergebnis dennoch der Schluss gezogen wird, die Klägerin würde erwartbar ein fahrerlaubnispflichtiges Fahrzeug unter einem die Fahrsicherheit beeinträchtigenden Alkoholeinfluss führen (vgl. VG Würzburg, B.v. 7.4.2921 – W 6 S 21.343 – juris Rn. 34).
2.3. Diese Schlussfolgerung wird auch vom übrigen Gutachtensinhalt nicht getragen und ist daher nicht nachvollziehbar. Das Gutachten sieht für eine ausreichende Änderung des Trinkverhaltens zwei Alternativen vor, einerseits ein kontrolliertes Trinken, so dass Trinken und Fahren zuverlässig getrennt werden können, oder andererseits die Einhaltung einer Alkoholabstinenz (vgl. Gutachten, S. 3 unten, S. 4 oben). Sodann stellt es in der Bewertung der Befunde allein darauf ab, dass die Klägerin mit ihrer Abstinenzbehauptung der am Untersuchungstag durchgeführten Haaranalyse widerspreche. Die negative Prognose beruht damit ausschlaggebend auf der Feststellung, dass die Klägerin sich nicht an die von ihr gewählte Strategie ihres Trinkverhaltens gehalten habe.
Das Gutachten lässt damit zum einen offen, welche Änderung des Alkoholtrinkverhaltens für die Klägerin als entscheidend angesehen wird, ja, ob im Lichte der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG, U.v. 21.5.2008 – 3 C 32/07 – juris) überhaupt von der Klägerin eine gefestigte Änderung des Trinkverhaltens verlangt werden darf (BayVGH, B.v. 19.8.2009 – 11 CS 09.1411 – juris Rn. 16).
Zum anderen wird aus der Feststellung, der Untersuchungsbefund der Klägerin widerspreche der von ihr gewählten Strategie ihres Trinkverhaltens, kein weiterer Schluss auf eine Verhaltensprognose gestellt. Es bleibt ungeklärt, ob aus der Falschaussage der Klägerin geschlossen werden kann, dass sie kein Trennungsvermögen besitzt. Das Gutachten resümiert vielmehr, dass die „Unfähigkeit zur Einhaltung eines dauerhaften Alkoholverzichts auf das Vorliegen einer nicht aufgearbeiteten, behandlungsbedürftigen Alkoholproblematik“ hinweise. Damit geht es offenbar davon aus, für die Klägerin müsse eine vollständige Abstinenz gefordert werden, ohne das Erfordernis einer solchen zu begründen.
Darüber hinaus wird im Gutachten dargelegt, dass aufgrund der hohen Blutalkoholkonzentration von 1,67 Promille bei ihrer Fahrradfahrt im September 2019 eine hohe Alkoholgewöhnung und die Unfähigkeit zu einer realistischen Einschätzung des eigenen Alkoholpegels hinsichtlich einer Teilnahme am Straßenverkehr bestanden habe (Gutachten, S. 15, 2. Absatz). Zweck des Gutachtens ist jedoch gerade nicht, allein die Ursache für die Gutachtenseinholung (Blutalkoholkonzentration von 1,6 Promille oder mehr, § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c FeV) zu wiederholen, sondern wie zuvor dargelegt eine individuelle Prognose zu treffen. Das Gutachten scheint vorliegend davon auszugehen, dass Trunkenheitsfahrten mit Kraftfahrzeugen einerseits und Fahrrädern andererseits grundsätzlich gleichzusetzen seien und bei Vorliegen einer massiven Alkoholproblematik immer ein Erkennen des bestehenden Alkoholproblems sowie ein grundlegender und stabiler Verhaltenswandel zu fordern sei. Eine solche Gleichsetzung ist aber, wie sich aus der oben zitierten Rechtsprechung ergibt, nicht in jedem Fall gerechtfertigt (BayVGH, B.v. 10.10.2011 – 11 CS 11.1963 – juris Rn. 15).
2.4. Aus den vorgenannten Gründen liefert das Gutachten auch bezüglich seiner Feststellungen zum Führen fahrerlaubnisfreier Fahrzeuge keine brauchbare Bewertung (vgl. VG Würzburg, B.v. 7.4.2921 – W 6 S 21.343 – juris Rn. 35). Auch diesbezüglich wird allein auf die der Aussage der Klägerin widersprechende Haarprobe und die Trunkenheitsfahrt auf dem Fahrrad abgestellt. Der Ansatz im Gutachten, ein Trinkmotiv der Klägerin seien der Tod ihres 2005 verstorbenen Mannes und die schlechte Ehe gewesen, wird durch die weiteren Aussagen im Gutachten relativiert, wonach die Klägerin keine speziellen Trinkmotive habe und keine Hinweise auf einen prinzipiell unkontrollierten Alkoholkonsum oder Filmrisse bestünden (Gutachten, S. 15, 3. Absatz). Abgesehen davon erscheint auch der Rückschluss von einem Trinken in geselliger Runde auf einen „gewissen Automatismus“ nicht nachvollziehbar, da hier gerade ein Trinkmotiv genannt wurde. Vor allem aber bleibt offen, inwieweit das im Gutachten festgestellte problematische Trinkverhalten für eine etwaige Verkehrsteilnahme mit einem fahrerlaubnisfreien Fahrzeug am Straßenverkehr in Zukunft erneut relevant werden könnte, zumal auch die Haarprobe allein einen Alkoholkonsum im Normbereich ergab. Schließlich erfolgt im Gutachten auch keine Bewertung der Aussagen der Klägerin, aus dem Sturz nach der Trunkenheitsfahrt gelernt (schwere Knieverletzung verbunden mit dem Verlust des Arbeitsplatzes) und die Konsequenzen daraus gezogen zu haben.
Die fehlende Auseinandersetzung mit dem Umstand, dass es sich um eine Alkoholfahrt mit einem Fahrrad und nicht mit einem Kraftfahrzeug gehandelt hatte, ist umso gravierender, als es sich bei dem Verbot, fahrerlaubnisfreie Fahrzeuge im Straßenverkehr zu führen, um einen Dauerverwaltungsakt handelt, der von der Behörde fortlaufend auf seine Richtigkeit geprüft werden muss. Es ist nicht erkennbar, dass sich das Gutachten prognostisch mit der Frage auseinandergesetzt hat, ob die Klägerin auch in Zukunft Gefahr läuft, mit einem Fahrrad im Straßenverkehr auffällig zu werden. Die bloße Feststellung eines problematischen Trinkverhaltens ist hierfür jedenfalls nicht ausreichend.
3. Darüber hinaus teilt das erkennende Gericht die obergerichtlich aufgeworfenen Bedenken hinsichtlich der Rechtswidrigkeit des Fahrverbots nicht motorisierter Fahrzeuge aufgrund einer fehlenden Ermächtigung im Gesetz (BayVGH, U.v. 17.1.2020 – 11 B 19.1274 – juris Rn. 22; BVerwG, U.v. 4.12.2020 – 3 C 5/20 – juris Rn. 32 – 39; OVG Saarland, B.v. 3.5.2021 – 1 B 30/21 – juris Rn. 32 ff.). Angesichts dessen, dass das Führen eines Fahrrads eine deutlich geringere Gefahrenquelle für den Straßenverkehr darstellt als das Führen eines motorisierten Fahrzeugs, gleichzeitig aber ein Fahrradfahrverbot einen erheblichen Eingriff in die Bewegungsfreiheit und Lebensgestaltung des Betroffenen (Art. 2 Grundgesetz – GG) – insbesondere im Falle eines ländlichen Wohnsitzes wie bei der Klägerin – mit sich bringt, ist zweifelhaft ob zum einen die Untersagung des Führens erlaubnisfreier Fahrzeuge nach § 3 FeV in § 6 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. y StVG eine hinreichende gesetzliche Ermächtigungsgrundlage findet und zum anderen § 3 FeV den Anforderungen des aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG, Art. 3 Abs. 1 Satz 1 Bayerische Verfassung – BV) abzuleitenden Bestimmtheitsgebotes und des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes gerecht wird.
Die streitgegenständlichen Bescheide waren damit aufzuheben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung der vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. Zivilprozessordnung (ZPO).


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