Verkehrsrecht

Entzug der Fahrerlaubnis

Aktenzeichen  W 6 K 15.1167

Datum:
27.4.2016
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2016, 46091
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
StVG § 4 Abs. 5, Abs. 6, Abs. 9, § 65 Abs. 3
FeV § 46 Abs. 5, Abs. 6 S. 2, § 73 Abs. 2
VwZVG Art. 1 Abs. 5, Art. 2 Abs. 3 S. 1, Art. 3, Art. 9
VwGO § 67 Abs. 2 S. 2 Nr. 3-7, § 154 Abs. 1, § 167
ZPO § 182 Abs. 1 S. 2, § 418 Abs. 1
GKG § 53 Abs. 2 Nr. 1

 

Leitsatz

1 Bei der gerichtlichen Prüfung fahrerlaubnisrechtlicher Entziehungsverfügungen ist auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Entscheidung der handelnden Verwaltungsbehörde abzustellen (Anschluss BayVGH BeckRS 2015, 56400). (redaktioneller Leitsatz)
2 Eine Zustellungsurkunde begründet den vollen Beweis der darin bezeugten Tatsachen. Zwar ist der Beweis der Unrichtigkeit der bezeugten Tatsache zulässig (§ 418 Abs. 2 ZPO). Der Gegenbeweis erfordert jedoch den Nachweis eines anderen Geschehensablaufs, wofür der Beweispflichtige zumindest eine gewisse Wahrscheinlichkeit für die Unrichtigkeit der bezeugten Tatsache, etwa ein Fehlverhalten des Postzustellers bei der Zustellung und damit eine inhaltlich falsche Beurkundung in der Postzustellungsurkunde, darlegen muss (Anschluss BVerwG, Beschl. v. 19.03.2002 – 2 WDB 15.01; vorliegend verneint bei Entgegennahme durch die Ehefrau trotz behaupteten Wohnsitzwechsels). (redaktioneller Leitsatz)
3 Die Übergangsbestimmungen des § 65 Abs. 3 StVG sind verfassungsrechtlich unbedenklich.  (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen. 
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. 
III. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der Beklagte vorher in gleicher Höhe Sicherheit leistet. 

Gründe

Die zulässige Klage ist unbegründet. Der Bescheid des Landratsamtes K. vom 15.10.2015 verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten.
1. Der Entzug der Fahrerlaubnis aller Klassen (Nr. 1 des Bescheides vom 15.10.2015) ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
1.1 Auf den vorliegenden Fall findet § 4 StVG in der ab 05.12.2014 anwendbaren Fassung des Gesetzes vom 28.11.2014 (BGBl I S. 1802) Anwendung, da auf den Zeitpunkt des Bescheidserlasses am 19.10.2015 (Zustellung) abzustellen ist. Die gerichtliche Prüfung fahrerlaubnisrechtlicher Entziehungsverfügungen ist auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Entscheidung der handelnden Verwaltungsbehörde auszurichten (vgl. BayVGH, B. v. 02.12.2015 – 11 CS 15.2138 – juris unter Verweis auf BVerwG, U. v. 27.09.1995 – 11 C 34.94 – BVerwGE 99, 249). In Ermangelung eines Widerspruchsverfahrens ist dies hier der Zeitpunkt der Bekanntgabe des streitbefangenen Bescheids.
Nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG gilt der Inhaber einer Fahrerlaubnis als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen und die Fahrerlaubnis ist ihm zu entziehen, wenn sich acht oder mehr Punkte im Fahreignungsregister ergeben. Nach § 4 Abs. 5 Satz 5 StVG hat die Fahrerlaubnisbehörde für das Ergreifen einer Maßnahme auf den Punktestand abzustellen, der sich zum Zeitpunkt der Begehung der letzten zur Ergreifung der Maßnahme führenden Straftat oder Ordnungswidrigkeit ergeben hat. Damit hat der Gesetzgeber das von der Rechtsprechung zur Rechtslage vor der Gesetzesänderung zum 01.05.2014 entwickelte Tattagprinzip normiert. Der Kläger hat durch die am 20.01.2015 begangene und am 04.05.2015 geahndete Ordnungswidrigkeit (Rechtskraft 12.08.2015) acht Punkte erreicht, so dass ihm die Fahrerlaubnis zu entziehen war.
1.2 Nach § 4 Abs. 5 Satz 6 Nr. 1 StVG werden bei der Berechnung des Punktestandes Zuwiderhandlungen unabhängig davon berücksichtigt, ob nach deren Begehung bereits Maßnahmen ergriffen worden sind. Der für den Verkehrsverstoß vom 20.01.2015 anfallende eine Punkt konnte daher den zu diesem Zeitpunkt schon bestehenden sieben Punkten hinzugerechnet werden, obwohl am 22.01.2015 eine Verwarnung durch das LRA ausgesprochen worden war.
1.3 Der Kläger kann auch keine Punktereduzierung beanspruchen. Nach § 4 Abs. 6 Satz 1 StVG darf die Fahrerlaubnisbehörde eine Maßnahme nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 oder 3 StVG (Verwarnung oder Fahrerlaubnisentziehung) erst ergreifen, wenn die Maßnahme der jeweils davor liegenden Stufe nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 oder 2 StVG bereits ergriffen worden ist. Sofern die Maßnahme der davor liegenden Stufe noch nicht ergriffen worden ist, ist diese zu ergreifen (§ 4 Abs. 6 Satz 2 StVG). Der Punktestand verringert sich dann mit Wirkung vom Tag des Ausstellens der ergriffenen Ermahnung auf fünf Punkte und im Fall der Verwarnung auf sieben Punkte, wenn der Punktestand zu diesem Zeitpunkt nicht bereits durch Tilgungen oder Punktabzüge niedriger ist (§ 4 Abs. 6 Satz 3 StVG). Diese Regelungen wurden (inhaltlich) bereits zum 01.05.2014 eingeführt, wenngleich § 4 Abs. 6 StVG mit Gesetz vom 28.11.2014 (BGBl I S. 1802) zum 05.12.2014 neu gefasst und durch weitere Regelungen ergänzt wurde.
1.3.1
Der Kläger hat das Stufensystem durchlaufen, ohne dass eine Punktereduzierung eingetreten wäre. Die Fahrerlaubnisbehörde verwarnte ihn nach der damaligen Regelung mit Schreiben vom 01.09.2009 nach § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 des Straßenverkehrsgesetzes vom 05.03.2003 (BGBl I S. 310, StVG a. F.), damals zuletzt geändert durch Gesetz vom 22.12.2011 (BGBl I S.3044), bei einem angenommenen Stand von 10 Punkten (erste Stufe der Maßnahmen nach dem Punktsystem). Diese Verwarnung war nach Einführung des Fahreignungs-Bewertungssystems zum 01.05.2014 nicht zu wiederholen, da die (Neu-)Einordnung nach § 65 Abs. 3 Nr. 4 Satz 1 StVG allein (Umrechnung der Punkte) nicht zu einer Maßnahme nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem führt (§ 65 Abs. 3 Nr. 4 Satz 3 StVG; BayVGH, B. v. 07.01.2015 – 11 CS 14.2653 – juris Rn. 9). Es steht auch zur vollen Überzeugung der Kammer fest, dass das Schreiben des LRA vom 01.09.2009 den Kläger tatsächlich erreicht hat, so dass eine gegebenenfalls verunglückte Zustellung geheilt wurde (Art. 9 Bayerisches Verwaltungszustellungs- und Vollstreckungsgesetz – VwZVG). Der Kläger hat erstmals in der Klagebegründungsschrift seines Bevollmächtigten vom 13.11.2015 vortragen lassen, er habe im Zeitpunkt der Zustellung des Schreibens vom 01.09.2009 am 02.09.2009 nicht mehr in der K.-straße 32, sondern in der K1.straße 39 gewohnt. Die Kammer stellt dazu fest, dass sich die Anwesen K1.straße 32 und K.-straße 39 in W… an der Straße einander gegenüber liegen, wie sich mittels google.de/maps feststellen lässt und wie es auch der Kläger in der mündlichen Verhandlung bestätigt hat. Fest steht auch, dass der Kläger am 02.09.2009 mit Wohnsitz K.-straße 32 gemeldet war und dass seine Ehefrau in der K.-straße 39 ein Atelier betrieb. Ausweislich der Postzustellungsurkunde (Art. 1 Abs. 5, Art. 2 Abs. 3 Satz 1, Art. 3 VwZVG i.V. m. § 182 ZPO) vom 02.09.2009 wurde das Schriftstück unter der (Wohn-)Adresse K.-straße 32 an die Ehefrau des Klägers übergeben. Die Zustellungsurkunde begründet den vollen Beweis der darin bezeugten Tatsachen (§ 182 Abs. 1 Satz 2, § 418 Abs. 1 ZPO). Zwar ist der Beweis der Unrichtigkeit der bezeugten Tatsache zulässig (§ 418 Abs. 2 ZPO). Der Gegenbeweis erfordert jedoch den Nachweis eines anderen Geschehensablaufs. Hierfür muss der Beweispflichtige zumindest eine gewisse Wahrscheinlichkeit für die Unrichtigkeit der bezeugten Tatsache, etwa ein Fehlverhalten des Postzustellers bei der Zustellung und damit eine inhaltlich falsche Beurkundung in der Postzustellungsurkunde, darlegen (vgl. BVerwG, B. v. 19.03.2002 – 2 WDB 15.01 – juris Rn. 6; B. v. 10.11.1993 – 2 B 153.93 – juris Rn. 3; B. v. 05.03.1992 – 2 B 22.92 – juris Rn. 4). Diesen Anforderungen genügt die Klagebegründung nicht. Soweit sie ausführt, der Wohnsitz sei bereits zuvor in das Anwesen K.-straße 39 verlegt worden, hat die Ehefrau des Klägers doch die Zustellung in dem Anwesen K.-straße 32 als Wohnsitzadresse entgegengenommen. Das spricht dafür, dass die Meldeadresse auch weiterhin die Wohnsitzadresse war, gegebenenfalls neben einem weiteren Wohnsitz über der Straße im Anwesen K.-straße 39. Daraus, dass andere Post des LRA an die Ehefrau des Klägers mit K.-straße 39 adressiert war, ergibt sich schon deshalb nichts anderes, da es sich um Post im Zusammenhang mit dem Atelier der Ehefrau handelte, wie das LRA unwidersprochen vorgetragen hat. Darüber hinaus hat der Kläger erstmals in der mündlichen Verhandlung nach Hinweis des Gerichts auf Art. 9 VwZVG vorgetragen, das Schreiben des LRA überhaupt nicht erhalten zu haben. Die Kammer bewertet diesen Vortrag schon wegen des verspäteten Vorbringens als Schutzbehauptung ohne Wahrheitskern, da es bei einem anwaltlich vertretenen Kläger nahegelegen hätte, dies bereits im Verwaltungsverfahren, spätestens aber in der Klagebegründung vorzubringen. Die Ausführungen des Klägerbevollmächtigten in der Klagebegründungsschrift beziehen sich aber ausdrücklich nur auf die Fehlerhaftigkeit der Zustellung, nicht aber auf den fehlenden tatsächlichen Zugang. Die Kammer geht daher davon aus, dass der Kläger tatsächlich von dem Schreiben des LRA Kenntnis genommen hat, so dass jedenfalls die Heilung eines eventuellen Zustellungsmangels nach Art. 9 VwZVG eingetreten ist.
1.3.2
Auch die zweite Stufe des Verwarnungssystems wurde ordnungsgemäß durchlaufen. Die Fahrerlaubnisbehörde sprach bei einem im Fahreignungsregister eingetragenen Stand von 6 Punkten (nach neuer Fassung) mit Schreiben vom 22.01.2015 eine Verwarnung aus (§ 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 StVG).
1.3.3
Eine Punktereduzierung, weil die Fahrerlaubnisbehörde die Meldung des Kraftfahrbundesamtes vom 12.02.2014 mit einem Punktestand von 15 nach alter Rechnung nicht rechtzeitig in eine Verwarnung nach § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 StVG (a. F.) umgesetzt habe, kommt nicht in Betracht. Gemäß § 4 Abs. 5 Satz 1 StVG (a. F.) trat eine Punktereduzierung kraft Gesetzes nur ein, wenn die Maßnahme nach § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 StVG (a. F.) von der Fahrerlaubnisbehörde nicht ergriffen wurde. Diese Maßnahme wurde indes mit dem bereits erörterten Schreiben des LRA vom 01.09.2009 ergriffen. Auch eine „fiktive“ Punktereduzierung deshalb, weil die Verwarnung und die damit verbundene Hinweis auf die Möglichkeit einer Teilnahme an einer verkehrspsychologischen Beratung nach § 4 Abs. 9 StVG (a. F.) mit der Möglichkeit der Punktereduzierung nach § 4 Abs. 4 Satz 2 StVG (a. F.) von der Fahrerlaubnisbehörde nicht unmittelbar nach der Mitteilung des Kraftfahrbundesamtes vom 12.02.2014 ausgesprochen wurde, ist nicht eingetreten. Der Kläger hält eine solche Reduzierung für verfassungsrechtlich geboten, weil ihm die Möglichkeit zur Punktereduzierung durch die Änderung des § 4 StVG mit Wirkung vom 01.05.2014 genommen worden sei und es sich bei dieser Gesetzesänderung um eine unzulässige unechte Rückwirkung handele. Inhaltlich greift der Kläger damit die Übergangsregelungen des § 65 Abs. 3 StVG, insbesondere des § 65 Abs. 3 Nr. 5 StVG, an, der sich mit der Überführung der Regelungen über Punkteabzüge und Aufbauseminare befasst und der dem Kläger in der vorliegenden Konstellation keine Möglichkeit zur Punkteregulierung einräumt. Die Übergangsbestimmungen des § 65 Abs. 3 StVG verletzen den Kläger indes nicht in seinen Grundrechten. Ein Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz ist nicht ersichtlich. Art. 3 Abs. 1 GG gebietet, alle Menschen vor dem Gesetz gleich zu behandeln sowie wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln. Dabei ist dem Gesetzgeber nicht jede Differenzierung verwehrt. Differenzierungen bedürfen jedoch stets der Rechtfertigung durch Sachgründe, die dem Ziel und dem Ausmaß der Ungleichbehandlung angemessen sind (vgl. BVerfG, B. v. 24.03.2015 – 1 BvR 2880/11 – juris Rn. 38 f. m. w. N.). Für den Übergang von einer älteren zu einer neueren, den rechtspolitischen Vorstellungen des Gesetzgebers besser entsprechenden Regelung ist diesem notwendig ein gewisser Spielraum einzuräumen. Die verfassungsrechtliche Prüfung von Stichtags- und Übergangsvorschriften beschränkt sich grundsätzlich darauf, ob der Gesetzgeber den ihm zukommenden Spielraum in sachgerechter Weise genutzt hat, ob er die für die zeitliche Anknüpfung in Betracht kommenden Faktoren hinreichend gewürdigt hat und die gefundene Lösung im Hinblick auf den Sachverhalt und das System der Gesamtregelung sachlich vertretbar erscheint (vgl. BVerfG, B. v. 01.04.2014 – 2 BvL 2/09 – juris Rn. 50 m. w. N.). Gemessen an diesen Vorgaben ist nicht ersichtlich, dass die Entscheidungen des Gesetzgebers in § 65 Abs. 3 StVG verfassungsrechtlich zu beanstanden sein könnte (vgl. auch BayVGH, B. v. 18.01.2016 – 11 CS 15.2598 – juris zu § 65 Abs. 3 Nr. 4 StVG). Die Anwendung des § 65 Abs. 3 StVG ist insbesondere mit dem verfassungsrechtlichen Grundsatz des Vertrauensschutzes und der Verhältnismäßigkeit aus Art. 20 Abs. 3 GG vereinbar. Dieser Grundsatz, der sich aus dem Rechtsstaatsprinzip und den Grundrechten ableitet, engt die Befugnis des Gesetzgebers ein, die Rechtsfolge eines der Vergangenheit zugehörigen Verhaltens nachträglich zu ändern (vgl. BVerwG, U. v. 16.03.2015 – 6 C 31/14 – juris Rn. 21; BVerfG, B. v. 07.07.2010 – 2 BvL 14/02 – BVerfGE 127, 1/16 m. w. N.). Im vorliegenden Fall liegt aber weder eine „echte“ noch eine „unechte“ Rückwirkung vor, denn die Ergreifung von Maßnahmen nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem knüpft nicht an abgeschlossene oder bereits ins Werk gesetzte Tatbestände an, sondern an die Eintragung weiterer Ordnungswidrigkeiten oder Straftaten in das Fahreignungsregister. Selbst wenn man eine „unechte“ Rückwirkung annehmen wollte, da der zum 30.04.2014 bestehende Punktestand umgerechnet und dann an diese neue Punktzahl angeknüpft wird, kann der Kläger kein Vertrauen in die Beibehaltung der früheren Rechtslage geltend machen. Spätestens mit dem endgültigen Beschluss des Deutschen Bundestages über einen Gesetzentwurf müssen die Betroffenen nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts mit der Verkündung und dem Inkrafttreten der Neuregelung rechnen, weshalb es ihnen von diesem Zeitpunkt an zuzumuten ist, ihr Verhalten auf die beschlossene Gesetzeslage einzurichten (vgl. BVerfG, B. v. 10.10.2012 – 1 BvL 6/07 – BVerfGE 132, 302 Rn. 57). Die Änderung des Punktesystems zum 01.05.2014 hatte der Bundestag aber schon am 28.08.2013, also weit vor den zur Entziehung der Fahrerlaubnis führenden Verkehrsordnungswidrigkeiten des Klägers beschlossen.
Soweit der Kläger auf den Zweck des früheren Punktesystems, dem Betroffenen die Gelegenheit zur Verhaltensänderung zu geben, hinweist, kann daraus kein anderer Schluss gezogen werden. Der Kläger wurde verwarnt. Nach seinem – allerdings nicht überprüfbaren Vorbringen – hat er auch an einer verkehrspsychologischen Schulung teilgenommen. Damit hatte er ausreichend Gelegenheit, sein Verhalten zu überdenken und zu ändern. Beide Maßnahmen haben aber offensichtlich keine Wirkung gezeigt und nicht zu einer Verhaltensänderung geführt, da er nach der Verwarnung und der Schulung erneut und laufend Ordnungswidrigkeiten begangen hat. Es gibt schließlich in diesem Zusammenhang keinen Hinweis darauf, dass die Fahrerlaubnisbehörde es nach Eingang der Meldung des Kraftfahrt-Bundesamtes vom 12.02.2014 schuldhaft unterlassen hat, auf das Erreichen des Punktestandes von 15 hinzuweisen. Anhaltspunkte für eine bewusste Verzögerung oder eine sonst offensichtlich sachwidrige Vorgehensweise der Behörde sind nicht erkennbar (vgl. OVG NRW, B. v. 20.7.2015 – 12 ME 78/15 – juris; B. v. 27.4.2015 – 16 B 226/15 – NJW 2015, 2136). Vielmehr hat die nachfolgende Gesetzesänderung dem Kläger die Möglichkeit zum Punkteabbau genommen.
1.3.4
Dem Kläger kommt schließlich auch keine Punkteverringerung nach § 4 Abs. 6 Satz 3 StVG (n. F.) zugute. Bei der Frage, ob dem Betreffenden eine Punkteverringerung nach § 4 Abs. 6 Satz 3 StVG zugutekommt, ist nach dem Gesetzeswortlaut des § 4 Abs. 6 Sätze 1 und 2 StVG nicht auf den Zeitpunkt der rechtskräftigen Ahndung oder Eintragung im Fahreignungsregister der letzten zu berücksichtigenden Zuwiderhandlung abzustellen, sondern es kommt allein darauf an, ob bei Ergreifen der weiteren Maßnahme die vorherige Maßnahme tatsächlich schon rechtmäßig ergriffen wurde. Diese Auslegung wird auch durch den Wortlaut des § 4 Abs. 6 Satz 4 StVG gestützt, wonach auch im Falle einer Verringerung der Punktezahl nach Satz 3 der Vorschrift Punkte für Zuwiderhandlungen, die vor der Verringerung nach Satz 3 begangen worden sind und von denen die zuständige Behörde erst nach der Verringerung Kenntnis erhält, den sich nach Satz 3 ergebenden Punktestand erhöhen (vgl. auch BayVGH, B. v. 02.12.2015 – 11 CS 15.2138 – juris Rn. 18).
Unabhängig von seiner Formulierung und seiner systematischen Stellung in der einschlägigen Vorschrift gilt das ganz allgemein. Es wäre widersinnig, bei der Berechnung des Punktestands Zuwiderhandlungen unabhängig davon zu berücksichtigen, ob nach deren Begehung bereits Maßnahmen ergriffen worden sind (vgl. § 4 Abs. 5 Satz 6 Nr. 1 StVG), andererseits aber eine Punktereduzierung nach § 4 Abs. 6 Satz 1 bis 3 StVG anzunehmen, wenn der Betreffende vor der vorhergehenden Maßnahme bereits weitere Zuwiderhandlungen begangen hat. Der Rechtsgedanke des § 4 Abs. 6 Satz 4 StVG löst den Widerspruch dahingehend auf, dass die Kenntnis der Behörde von den rechtskräftig mit bindender Wirkung (§ 4 Abs. 5 Satz 4 StVG) geahndeten und im Fahreignungsregister eingetragenen Verkehrsverstößen maßgeblich ist. Eine Punktereduzierung nach § 4 Abs. 6 Satz 3 StVG tritt somit nur ein, wenn der Fahrerlaubnisbehörde am Tag der ergriffenen Maßnahme weitere Verkehrsverstöße bekannt sind, die zu einer Einstufung in eine höhere Stufe nach § 4 Abs. 5 Satz 1 StVG führen (vgl. BayVGH, U. v. 11.08.2015 – 11 BV 15.909 – VRS 129, 27).
Eine solche Auslegung entspricht auch dem Zweck der Rechtsänderungen zum 01.05.2014 und 05.12.2014. Der Gesetzgeber wollte sich gemäß der Gesetzesbegründung von den Erwägungen des Bundesverwaltungsgerichts in seinem Urteil vom 25.09.2008 (Az. 3 C 3/07) für das ab 01.05.2014 geltende neue System mit den Erwägungen zur Punkteentstehung und zum Tattagprinzip bewusst absetzen (BT-Drs. 18/2775, S. 9). Es soll nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem nicht mehr darauf ankommen, dass eine Maßnahme den Betroffenen vor der Begehung weiterer Verstöße erreicht und ihm die Möglichkeit zur Verhaltensänderung einräumt, bevor es zu weiteren Maßnahmen kommen darf. Vielmehr kommt es unter Verkehrssicherheitsgesichtspunkten und für das Ziel, die Allgemeinheit vor ungeeigneten Fahrern zu schützen, auf die Effektivität des Fahreignungs-Bewertungssystems an (BT-Drs. 18/2775, S. 9 f.). Insbesondere bei Konstellationen, in denen in kurzer Zeit wiederholt und schwer gegen Verkehrsregeln verstoßen wurde, was ein besonderes Risiko für die Verkehrssicherheit bedeutet, soll nach Ansicht des Gesetzgebers in Abwägung mit dem Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit nicht über bestimmte Verkehrsverstöße hinweggesehen werden (vgl. BT-Drs. 18/2775, S. 10). Die Prüfung der Behörde, ob die Maßnahme der vorangehenden Stufe bereits ergriffen worden ist, ist daher vom Kenntnisstand der Behörde bei der Bearbeitung zu beurteilen und beeinflusst das Entstehen von Punkten nicht (BT-Drs. 18/2775, S. 10). Mit § 4 Abs. 5 Satz 6 Nr. 1 StVG soll nach der Gesetzesbegründung verdeutlicht werden, dass Verkehrsverstöße auch dann mit Punkten zu bewerten sind, wenn sie vor der Einleitung einer Maßnahme des Fahreignungs-Bewertungssystems begangen worden sind, bei dieser Maßnahme aber noch nicht verwertet werden konnten, etwa weil deren Ahndung erst später Rechtskraft erlangt hat oder sie erst später im Fahreignungsregister eingetragen wurden oder der Behörde zur Kenntnis gelangt sind (BT-Drs. 18/2775, S. 10). Eine solche Konstellation, in der die Behörde erst nach Ergreifen einer Maßnahme von einem weiteren – vorher begangenen – Verkehrsverstoß erfahren hat, liegt hier vor, denn die Fahrerlaubnisbehörde hatte vor dem Eingang der Mitteilung des Kraftfahrt-Bundesamts am 14.09.2015 keine Kenntnis von dem rechtskräftig geahndeten Verkehrsverstoß vom 20.01.2015. Gerade die von der Gesetzesbegründung genannte Konstellation, bei der in kurzer Zeit wiederholt und schwer gegen Verkehrsregeln verstoßen wird, was ein besonderes Risiko für die Verkehrssicherheit bedeutet, liegt im Fall des Klägers vor. Er hat wiederholt die zulässige Höchstgeschwindigkeit innerhalb und außerhalb geschlossener Ortschaften teilweise erheblich überschritten und auch wiederholt ein Mobiltelefon am Steuer verwendet.
Die Fahrerlaubnisbehörde hat hier jeweils unverzüglich nach Kenntniserlangung von den im Fahreignungsregister eingetragenen Punkten die entsprechenden Maßnahmen ergriffen (vgl. hierzu VGH BW, B. v. 06.08.2015 – 10 S 1176/15 – DÖV 2015, 935; vgl. auch OVG NW, B. v. 27.04.2015 – 16 B 226/15 – juris Rn. 13). Ob die Fahrerlaubnisbehörde sich ggf. schuldhafte Verzögerungen durch andere Behörden (Staatsanwaltschaften, Kraftfahrbundesamt) bei der Übermittlung der Daten zurechnen lassen muss, kann offenbleiben, denn solche schuldhaften Verzögerungen liegen hier nicht vor.
Nach § 28 Abs. 4 StVG teilen die Gerichte, Staatsanwaltschaften und anderen Behörden dem Kraftfahrbundesamt unverzüglich die nach § 28 Abs. 3 StVG zu speichernden Daten mit. Die Eintragung von Entscheidungen im Fahreignungsregister stellt keinen Verwaltungsakt dar, sondern dient nur der Sammlung von Informationen (Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 43. Aufl. 2015, § 28 StVG Rn. 17). Über den Verkehrsverstoß vom 20.01.2015 wurde am 04.05.2015 entschieden. Die ab dem 12.08.2015 rechtskräftige Entscheidung wurde dem LRA am 14.09.2015 und damit ohne schuldhafte Verzögerung mitgeteilt.
Durchgreifende Zweifel an der Verfassungsgemäßheit des § 4 Abs. 5 und 6 StVG bestehen nicht (BayVGH, B. v. 02.12.2015 – 11 CS 15.2138 – juris Rn. 25). Es stellt insbesondere keinen Verstoß gegen das Rechtsstaatsprinzip aus Art. 20 Abs. 3 GG dar, dass der Gesetzgeber die in § 4 Abs. 5 Satz 1 und 2 StVG a. F. geregelte Warn- und Erziehungsfunktion und die damit einhergehende Verringerung der Punktestände weitestgehend aufgegeben hat. Es ist nicht ersichtlich, dass es verfassungsrechtlich geboten wäre, eine solche Begünstigung für Personen, die in kurzen zeitlichen Abständen erhebliche Verkehrsverstöße begehen, beizubehalten. Nach der Begründung des Gesetzes vom 28.11.2014 (BT-Drs. 18/2775, S. 9) dient das Stufensystem der Information des Betroffenen. Die Fahrerlaubnisbehörde kann aber nur informieren, wenn ihr die mit Punkten bewehrten Verkehrsverstöße bekannt sind. Soweit keine willkürliche Verzögerung der Kenntnisnahme durch die Behörde vorliegt, ist es nicht zu beanstanden, die entsprechenden Maßnahmen vom Kenntnisstand der Fahrerlaubnisbehörde abhängig zu machen (vgl. BayVGH, U. v. 11.08.2015 – 11 BV 15.909 – VRS 129, 27; OVG NW, B. v. 27.04.2015 – 16 B 226/15 – juris Rn. 13).
1.3.5
Die Eintragungen bezüglich der Verstöße von 15.04.2010, 26.07.2012 und 11.12.2013 waren bei Erlass des Entzugsbescheides vom 15.10.2015 auch noch nicht tilgungsreif. Sie unterliegen nach der Übergangsvorschrift des § 65 Abs. 3 Nr. 2 Satz 1 StVG bis 30.04.2019 weiterhin den Tilgungsvorschriften der Bestimmungen des § 29 StVG in der bis zum Ablauf des 30.04.2014 anwendbaren Fassung (StVG a. F.). Nach § 29 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 StVG a. F. betrugen die Tilgungsfristen bei Entscheidungen über Ordnungswidrigkeiten zwar nur zwei Jahre. Die Tilgung einer Eintragung war nach § 29 Abs. 6 Satz 1 StVG a. F. indes im Falle der Eintragung mehrerer Entscheidungen nach § 28 Abs. 3 Nr. 1 bis 9 StVG a. F. regelmäßig erst zulässig, wenn für alle betreffenden Eintragungen die Voraussetzungen der Tilgung vorlagen (sog. Ablaufhemmung). Die Tilgungsfristen begannen gemäß § 29 Abs. 4 Nr. 4 StVG a. F. bei Bußgeldentscheidungen mit dem Tag der Rechtskraft oder Unanfechtbarkeit der beschwerenden Entscheidungen. Diese trat für die Verstöße vom 15.04.2010 am 26.01.2011, vom 26.07.2012 am 20.10.2012 ein. Bereits am 04.04.2013 fand der nächste Verstoß statt (Rechtskraft 08.11.2013), danach am 12.05.2013 (Rechtskraft 10.01.2014), sodann am 11.12.2013 (Rechtskraft am 14.01.2014). Die Tilgungsfristen dieser Verstöße konnten daher wegen der Ablaufhemmung aufgrund nachfolgender Verstöße jeweils innerhalb der Zwei-Jahresfrist nicht ablaufen. Die absolute Tilgungsfrist von fünf Jahren (§ 29 Abs. 6 Satz 4 StVG a. F.) war beginnend mit der Rechtskraft am 26.01.2011 bei Begehung der letzten Tat am 20.01.2015 ebenfalls noch nicht abgelaufen.
Die Ablaufhemmung erscheint auch nicht unverhältnismäßig, obwohl sie seit der Rechtsänderung am 01.05.2014 in § 29 StVG n. F. nicht mehr vorgesehen ist (vgl. BayVGH, B. v. 30.9.2015 – 11 ZB 15.1591 – juris), zumal auch die Tilgungsfristen neu geregelt wurden.
1.4 Nach alldem hat das LRA dem Kläger zu Recht die Fahrerlaubnis entzogen. Die Umschreibung der Fahrerlaubnis in einen rumänischen Führerschein am 09.10.2015, also vor Erlass des Entzugsbescheides, ändert an der Rechtmäßigkeit des Entzugs der Fahrerlaubnis durch die deutsche Fahrerlaubnisbehörde nichts, da von den rumänischen Behörden keine neue Fahrerlaubnis erteilt wurde, sondern sich der rumänische Führerschein auf die deutsche Fahrerlaubnis bezieht. Gemäß § 46 Abs. 5 FeV hat der Entzug der Fahrerlaubnis insoweit die Wirkung, dass der Kläger von dem rumänischen Führerschein in Deutschland keinen Gebrauch machen darf.
Die Zuständigkeit des LRA ergibt sich entweder nach § 73 Abs. 2 FeV oder nach § 73 Abs. 3 FeV, wenn der Kläger seinen Wohnsitz tatsächlich in das Ausland verlagert hat.
2. Hinsichtlich der Nrn. 2 und 3 ist der Bescheid vom 15.10.2015 obsolet geworden, nachdem der Kläger seinen deutschen Führerschein bei den rumänischen Behörden abgegeben hat.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO, § 708 Nr. 11, § 711 ZPO.

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