Verkehrsrecht

Fahrerlaubnis, Bescheid, Vollziehung, Eintragung, Fahrerlaubnisentziehung, Widerspruch, Entziehung, Widerspruchsbescheid, Punktestand, Antragsteller, Sofortvollzug, Berufung, Zwangsgeldandrohung, Vollziehbarkeit, Entziehung der Fahrerlaubnis, aufschiebende Wirkung, Sinn und Zweck

Aktenzeichen  Au 7 S 21.372

Datum:
31.3.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 20910
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:

 

Leitsatz

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Die Kosten des Verfahrens hat der Antragsteller zu tragen.
III. Der Streitwert wird auf 10.000.- EUR festgesetzt.

Gründe

I.
Der Antragsteller wendet sich gegen die sofortige Vollziehbarkeit der Entziehung seiner Fahrerlaubnis.
1. Der im Jahr … geborene Antragsteller ist seit dem 25. November 1998 Inhaber eines Führerscheins der Klassen 1 und 2. Am 5. November 2019 ging bei der damals für den Antragsteller örtlich zuständigen Fahrerlaubnisbehörde eine Mitteilung des Kraftfahrt-Bundesamts ein, dass für den Antragsteller vier Punkte im Fahreignungsregister eingetragen seien. Folgende Taten wurden mitgeteilt:
Tattag
Datum der Rechtskraft
Tatbezeichnung
Punkte
4.5.20218
22.6.2018
Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 20 km/h
1
19.5.2018
11.7.2018
Missachtung des Rotlichts der Lichtzeichenanlage
1
4.6.2018
1.8.2018
Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 20 km/h
1
13.7.2019
8.10.2019
Das Handy mit der rechten Hand auf Höhe des Lenkrads vor das Gesicht gehalten und auf dem Display gelesen
1
Am 25. November 2019 ging bei dieser Fahrerlaubnisbehörde die Mitteilung des Kraftfahrt-Bundesamts ein, dass für den Antragsteller insgesamt fünf Punkte nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem im Fahreignungsregister eingetragen seien. Zu den oben aufgeführten Taten war folgende Tat hinzugekommen:
Tattag
Datum der Rechtskraft
Tatbezeichnung
Punkte
8.7.2019
23.10.2019
Mobiltelefon mit der rechten Hand am rechten Ohr gehalten, Sprechbewegungen waren erkennbar
1
Mit Schreiben vom 25. November 2019, dem Antragsteller zugestellt am 28. November 2019 ermahnte die Fahrerlaubnisbehörde den Antragsteller wegen Erreichens von fünf Punkten im Fahreignungsregister. Ihm wurde mitgeteilt, dass beim Erreichen von sechs oder sieben Punkten eine Verwarnung entsprechend den Bestimmungen der Fahrerlaubnis-Verordnung ergehen werde. Sollte er acht Punkte oder mehr erreichen, werde dies unweigerlich zur Entziehung der Fahrerlaubnis führen, wobei kraft Gesetzes die Erteilung einer neuen Fahrerlaubnis frühestens nach Ablauf von sechs Monaten und regelmäßig erst nach der Vorlage eines Fahreignungsgutachtens mit positiver Prognose erfolgen könne. Er habe die Möglichkeit einer freiwilligen Teilnahme an einem Fahreignungsseminar. Hierdurch werde ein Punkteabzug erreicht, wenn das Punktekonto bis zur Vorlage der Teilnahmebescheinigung nicht mehr als fünf Punkte aufweise. Es werde dann ein Punkt abgezogen, was aber nur einmal innerhalb von fünf Jahren gewährt werden könne. Die oben aufgeführten Taten wurden dem Antragsteller dabei mitgeteilt.
Am 17. Januar 2020 ging bei der Fahrerlaubnisbehörde die Mitteilung des KraftfahrtBundesamts ein, dass für den Antragsteller insgesamt sechs Punkte nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem im Fahreignungsregister eingetragen seien.
Zu den oben aufgeführten Taten kam folgende Tat dazu:
Tattag
Datum der Rechtskraft
Tatbezeichnung
Punkte
13.9.2019
13.12.2019
Halten eines Mobiltelefons mit der rechten Hand auf Höhe des Gesichts vor den Mund; Sprechbewegungen waren deutlich erkennbar
1
Mit Schreiben vom 30. Januar 2020, dem Antragsteller zugestellt am 1. Februar 2020, verwarnte die Fahrerlaubnisbehörde den Antragsteller wegen Erreichens von sechs Punkten im Fahreignungsregister. Der Antragsteller wurde darauf hingewiesen, dass bei Erreichen von acht oder mehr Punkten die Fahrerlaubnis entzogen werde und eine Wiedererteilung erst nach frühestens sechs Monaten und in der Regel nach Vorlage eines Fahreignungsgutachtens mit positiver Prognose erfolgen könne.
Aufgrund einer Behördenauskunft aus dem Fahreignungsregister stellte die nunmehr zuständige Fahrerlaubnisbehörde des Antragsgegners am 10. September 2020 fest, dass für den Antragsteller acht Punkte im Fahreignungsregister eingetragen waren.
Zu den oben aufgeführten Taten waren folgende Taten hinzugekommen:
Tattag
Datum der Rechtskraft
Tatbezeichnung
Punkte
10.1.2020
4.6.2020
Ein Mobiltelefon während der Fahrt benutzt, indem es in der rechten Hand gehalten wurde und telefoniert wurde, Sprechbewegungen war klar zu erkennen
1
11.5.2020
22.8.2020
Mobiltelefon mit der rechten auf Höhe des Lenkrads gehalten und darauf getippt
1
Mit Schreiben vom 8. Oktober 2020, dem Antragsteller zugestellt am 13. Oktober 2020 hörte das Landratsamt den Antragsteller zur Entziehung seiner Fahrerlaubnis an. Es seien acht Punkte im Fahreignungsregister eingetragen. Die Fahrerlaubnis sei daher zu entziehen. Die oben aufgeführten Verstöße wurden dem Antragsteller mitgeteilt. Eine Äußerung erfolgte nicht.
Mit Bescheid vom 29. Oktober 2020, dem Antragsteller zugestellt am 4. November 2020, entzog die Fahrerlaubnisbehörde dem Antragsteller die Fahrerlaubnis (Nr. 1 des Bescheids). Es wurde angeordnet, dass der Führerschein unverzüglich beim Landratsamt abzugeben sei (Nr. 2). Die sofortige Vollziehung der Nr. 2 des Bescheids wurde angeordnet (Nr. 3). Für den Fall, dass der Führerschein nicht innerhalb von sieben Tagen nach Zustellung des Bescheids abgeliefert werde, wurde ein Zwangsgeld in Höhe von 250,- EUR angedroht (Nr. 4).
Der Bescheid wurde mit dem Erreichen von acht Punkten nach dem FahreignungsBewertungssystem begründet. Die sofortige Vollziehbarkeit der Ablieferungspflicht wurde damit begründet, dass vom Besitz des Führerscheindokuments der Rechtsschein ausgehe, dass der Antragsteller weiterhin zum Führen von Kraftfahrzeugen berechtigt sei. Dies müsse jedoch ausgeschlossen werden, um die Entziehung der Fahrerlaubnis wirkungsvoll durchzusetzen.
Dem Bescheid war eine Rechtsbehelfsbelehrung:dahingehend beigegeben, dass innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe des Bescheids entweder Widerspruch eingelegt oder unmittelbar Klage erhoben werden könne.
Unter dem 10. November 2020 bestellte sich der Prozessbevollmächtigte des Antragstellers für diesen und beantragte bei der Fahrerlaubnisbehörde Akteneinsicht. Für den Fall des Erlasses eines Entziehungsbescheids bat er um Übersendung in seine Kanzlei.
Die Fahrerlaubnisbehörde teilte ihm mit, dass der Bescheid vom 29. Oktober 2020 bereits am 4. November 2020 zugestellt worden sei. Der Bescheid sei mit Sofortvollzug versehen. Der Führerschein hätte bereits bis zum 11. November 2020 abgegeben werden sollen. Es werde nunmehr ein Zwangsgeldbescheid erlassen.
Der Prozessbevollmächtigte bat daraufhin um Übersendung des Bescheids vom 29. Oktober 2020 und legte unter dem 12. November 2020 vorsorglich gegen den am 4. November 2020 angeblich zugestellten Bescheid „Rechtsbehelf“ ein.
Unter dem 12. November 2020 wurde ein Zwangsgeldbescheid an den Prozessbevollmächtigten zugestellt, mit dem ein weiteres Zwangsgeld in Höhe von 500,- EUR angedroht wurde.
Unter dem 17. November 2020 legte der Prozessbevollmächtigte des Antragstellers Widerspruch gegen den Bescheid vom 29. Oktober 2020 und gegen den Bescheid vom 13. November 2020 ein. Der Widerspruch wurde damit begründet, dass die am 20. Januar 2020 begangene Ordnungswidrigkeit noch vor der am 30. Januar 2020 ausgesprochenen Ermahnung begangen worden sei. Dem Mandanten seien die Konsequenzen eines erneuten Verstoßes nicht bewusst gewesen. Der mit Ordnungswidrigkeit vom 4. Juni 2018 verhängte Punkt sei seinem Mandanten nicht zuordenbar. Die Ordnungswidrigkeit sei nicht vom Antragsteller, sondern von einer dritten Person, die auch benannt wurde, begangen worden. Ohne diese Eintragung hätte der Antragsteller nur sieben Punkte, womit die Fahrerlaubnis nicht zu entziehen sei.
Die Fahrerlaubnisbehörde erläuterte hierzu unter dem 18. November 2020 nochmals ihre Rechtsansicht und legte den Widerspruch der Regierung von * zur Entscheidung vor.
Mit Widerspruchsbescheid vom 8. Januar 2021, dem Prozessbevollmächtigten des Antragstellers zugestellt gegen Empfangsbekenntnis am 20. Januar 2021, wies die Regierung von * den Widerspruch als unzulässig zurück. Bei der Entscheidung über die Entziehung der Fahrerlaubnis aufgrund des Erreichens von acht Punkten im Fahreignungsregister handle es sich nicht um eine personenbezogene Prüfungsentscheidung der Führerscheinstelle, da keine wertende Prüfung der Behörde notwendig sei, um Eignungszweifel oder Fahrungeeignetheit zu beurteilen. Es bedürfe deswegen keines Vorverfahrens. Soweit es eines Vorverfahrens nicht bedürfe, sei ein solches auch nicht zulässig. Der Widerspruch gegen den Bescheid vom 13. November 2020 sei unzulässig, weil es sich nur um eine Fälligkeitsmitteilung handle.
2. Am Dienstag, dem 23. Februar 2021, wurde hiergegen Klage erhoben mit dem Ziel der Aufhebung des Bescheids vom 29. Oktober 2020 sowie sinngemäß auch mit dem Ziel der Aufhebung des Bescheids vom 13. November 2020 und weiter der Aufhebung der Kostenentscheidung des Widerspruchsbescheids vom 8. Januar 2021. Außerdem wird beantragt,
die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid vom 29. Oktober 2020 anzuordnen und den Antragsgegner zu verpflichten, bis zur Entscheidung des Gerichts über die Klage die Fahrerlaubnis wieder auszuhändigen.
Zur Begründung wird im Wesentlichen vorgetragen, dass die angefochtenen Bescheide rechtswidrig sind und den Antragsteller in seinen Rechten verletzen.
Hinsichtlich des Bescheids vom 29. Oktober 2020 wurde ausgeführt, dass die vorgesehenen Stufen des Maßnahmenkatalogs nach § 4 Abs. 5 Satz 1 StVG in Form von Ermahnung – Verwarnung – Fahrerlaubnisentziehung nicht ordnungsgemäß durchlaufen worden seien. Der Inhaber einer Fahrerlaubnis sei bei Erreichen von vier oder fünf Punkten schriftlich zu ermahnen. Dies sei hier fehlerhaft erfolgt. Zwar könne das Ermahnen erst bei fünf Punkten grundsätzlich mit dem Gesetz in Einklang stehen. Die schriftliche Ermahnung, erst bei Erreichen von fünf Punkten, obwohl der Fahrerlaubnisbehörde bekannt gewesen sei, dass der Betroffene vorher vier Punkte innegehabt habe und auch mit vier Punkten hätte ermahnt werden müssen, verstoße nicht nur gegen Sinn und Zweck der Vorschrift, sondern auch gegen die gesetzgeberische Intention. Zudem verhalte sich die Behörde widersprüchlich. Sinn und Zweck der Vorschrift sei nämlich, dass, nachdem der Inhaber einer Fahrerlaubnis drei Punkte erreicht habe, dieser in jedem Fall rechtzeitig, im Falle einer erneuten Ahndung mit Punkten, ermahnt werden könne. Die im Fahreignungsregister eingetragenen Entscheidungen würden je nach Art und Schwere der Zuwiderhandlung mit einem bis drei Punkten bewertet, wobei Straftaten mit Bezug auf die Verkehrssicherheit oder gleichgestellte Straftaten mit drei Punkten zu bewerten seien. Dies stelle allerdings eine Ausnahme dar. Das Gros der angefallenen Punkte bewege sich im Rahmen von ein bis zwei Punkten wegen Ordnungswidrigkeiten. Damit der Inhaber einer Fahrerlaubnis, der drei Punkte im Fahreignungsregister erreicht habe, rechtzeitig bzw. überhaupt ermahnt werden könne, sei es unabdingbar, dass der Gesetzeswortlaut von vier oder fünf Punkten spreche. Die Intention des Gesetzgebers sei allerdings, dass der Inhaber der Fahrerlaubnis ermahnt werde, sobald er diese Punkte erreiche. Denn wenn der Inhaber einer Fahrerlaubnis vier Punkte erreicht habe und sich einen weiteren Verstoß leiste, der mit zwei Punkten zu ahnden sei, erreiche er hierdurch bereits sechs Punkte, so dass eine Ermahnung rechtlich nicht mehr möglich sei, er vielmehr sofort verwarnt werden müsste. Auch sei Sinn und Zweck der Ermahnung das rechtzeitige Voraugenführen des Punktestandes, damit der Inhaber der Fahrerlaubnis geeignete Maßnahmen ergreifen könne, um seinen Punktestand zu verringern, oder sich zumindest an die Straßenverkehrsordnung und das Straßenverkehrsgesetz halte. Durch die rechtzeitige Ermahnung mit bereits vier Punkten würden daneben auch die anderen Verkehrsteilnehmer frühzeitig geschützt. Aus diesen Gründen habe der Gesetzgeber den Wortlaut „vier oder fünf Punkten“ gewählt. Ausdrücken habe er aber wollen, dass der Inhaber einer Fahrerlaubnis unmittelbar ermahnt bzw. verwarnt werde, sobald er diese Stufe erreicht habe und nicht erst abgewartet wird, bis er den höheren Punktestand erreicht habe, der zur selben Maßnahme nach dem Katalog führe.
Die gesetzgeberische Intention in dem Wortlaut „oder fünf“ bzw. „oder sieben“ diene lediglich als Auffangtatbestand. Nur für den Fall, dass der Inhaber einer Fahrerlaubnis bei drei vorhandenen Punkten mit einer Ordnungswidrigkeit auf fünf Punkte komme bzw. von fünf auf sieben, sei diese Variante anwendbar. Andernfalls sei zwingend bei vier bzw. sechs Punkten zu ermahnen bzw. zu verwarnen. Dies sei hier offensichtlich nicht geschehen. Es sei mithin gegen § 4 Abs. 5 des Straßenverkehrsgesetzes verstoßen worden.
Außerdem sei der Antragsteller nicht nach dem Stufensystem verwarnt worden. Der Antragsgegner werde zwar vortragen, dass ausweislich der Zustellungsurkunde die Verwarnung am 1. Februar 2020 in den Briefkasten eingelegt worden sei. Hiergegen lasse sich jedoch sagen, dass der Antragsteller die Verwarnung tatsächlich nie erhalten habe und somit auch nicht von der Konsequenz beim Erreichen von acht Punkten unterrichtet werden konnte. Hierbei werde auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts hingewiesen, wonach es ausreichend sei, wenn der Adressat den Zugang bestreite, weil er den Nichtzugang kaum ernsthaft darlegen oder nachweisen könne. Da dies für Verwaltungsakte gelte, müsse dies erst recht bei Verwarnungen nach dem Straßenverkehrsgesetz gelten.
Der Bescheid sei daher rechtswidrig und verletze den Antragsteller in seinen Rechten.
Damit sei auch der Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz zulässig und begründet. Bei der Abwägung der Interessen seien auch die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens zu berücksichtigen. Erweise sich der angefochtene Bescheid schon bei summarischer Prüfung als offensichtlich rechtswidrig, bestehe kein öffentliches Interesse an dessen sofortiger Vollziehung. Dem Antragsteller sei es außerdem nicht zumutbar, bis zur Entscheidung in der Hauptsache auf seine Fahrerlaubnis zu verzichten. Als selbständiger … und … sei er auf seinen Führerschein angewiesen.
Für den Antragsgegner beantragt das Landratsamt … (sinngemäß),
den Antrag abzulehnen.
Die Ermahnung mit fünf Punkten habe ordnungsgemäß stattgefunden. Die damals zuständige Behörde sei über den Punktestand von vier Punkten am 5. November 2019 in Kenntnis gesetzt worden. Über den Punktestand von fünf Punkten sei diese Behörde am 25. November 2019 unterrichtet worden. Daraufhin sei unmittelbar die Maßnahme ergriffen worden. Es sei nicht erst abgewartet worden, bis sich der Punktestand erhöht habe. Der Zeitraum zwischen den beiden Unterrichtungen und der darauffolgenden Ermahnung sei für die Bearbeitungsdauer angemessen. Außerdem sei der Antragsteller durch die entsprechenden Bußgeldstellen ebenfalls über seine Punkte informiert worden. Soweit ausgeführt werde, dass eine Ermahnung rechtlich nicht mehr möglich sei, wenn der Inhaber einer Fahrerlaubnis beim Stand von vier Punkten einen Verstoß mit zwei Punkten begehe, weil der Betroffene sogleich verwarnt werden müsse, sei dies nicht richtig. Für diese Fälle habe der Gesetzgeber in § 4 Abs. 6 StVG eine Punktereduzierung vorgesehen. Sei eine Stufe nicht durchlaufen worden, so werde der Inhaber einer Fahrerlaubnis auf den höchsten Punktestand dieser nicht durchlaufenen Stufe zurückgestuft. Das seitens des Prozessbevollmächtigten befürchtete Überspringen von Stufen könne daher nicht eintreten. Dem Sachvortrag, der Antragsteller habe die Verwarnung nicht erhalten und es sei ausreichend, wenn der Adressat den Zugang eines Bescheids bestreite, könne nicht gefolgt werden. Die Postzustellungsurkunde sei eine öffentliche Urkunde, die den vollen Beweis dafür erbringe, dass ein Empfänger ein Schriftstück erhalten habe. Dies geschehe unter Verweis auf die entsprechenden Normen der Zivilprozessordnung. Die bloße Behauptung, ein Schriftstück nicht erhalten zu haben, sei auch nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht ausreichend. Es brauche vielmehr einen Folgenbeweis des Gegenteils der durch die Postzustellungsurkunde belegten Tatsachen. Dies sei hier jedoch gerade nicht der Fall.
Weiter werde in der Begründung des Widerspruchs vom 17. November 2020 ausgeführt, dass die Ordnungswidrigkeit vom 20. Januar 2020 noch vor der Verwarnung vom 30. Januar begangen worden sei und dem Antragsteller daher die Konsequenzen eines weiteren Verstoßes nicht bewusst gewesen seien. Hier sei gerade noch nicht behauptet worden, die Verwarnung sei nie zugestellt worden. Vor diesem Hintergrund scheine die nunmehr vorgetragene Behauptung, die Verwarnung habe man nie erhalten, auch unglaubwürdig.
Der Sofortvollzug über die Abgabe des Führerscheins sei in Anbetracht des Sicherheitsinteresses unabdingbar. Auch wenn der Antragsteller als selbständiger … und … auf seinen Führerschein angewiesen sei, habe die Klage keine aufschiebende Wirkung. Verfassungsrechtliche Bedenken gegen diesen normativen Ausschluss der aufschiebenden Wirkung bestünden nicht, da überwiegende öffentliche Interessen hier die vorbeugende Gefahrenabwehr gegen ungeeignete und nicht befähigte Kraftfahrzeugführer es gebieten, den Rechtsschutzanspruch zurückzustellen. Persönliche Belange könnten nicht berücksichtigt werden. Der Antragsteller habe sich durch entsprechende Anhäufung von Verkehrsverstößen als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erwiesen. Die Fahrerlaubnis sei daher zu entziehen. Im Sicherheitsrecht ergebe sich das besondere öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung häufig aus den Gesichtspunkten, die für den Erlass des Verwaltungsaktes selbst maßgebend seien. Hier in diesem Fall sei es der Gesichtspunkt, dass nach Würdigung seiner Gesamtpersönlichkeit der Antragsteller sich als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erwiesen habe.
4. Der Antragsteller hat seinen Führerschein am 25. November 2020 abgegeben.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.
II.
Der Antrag führt nicht zum Erfolg.
Der Antrag ist in seiner Nr. I zunächst gemäß § 122 Abs. 1, § 88 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) dahingehend auszulegen, dass die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die gemäß § 4 Abs. 9 Straßenverkehrsgesetz (StVG) sofort vollziehbare Nr. 1 (Entziehung der Fahrerlaubnis) und die gegen die gemäß Art. 21a VwZVG sofort vollziehbare Nr. 4 (Zwangsgeldandrohung) des Bescheids vom 29. Oktober 2020 jeweils angeordnet und gegen die vom Landratsamt für sofort vollziehbar erklärte Nr. 2 des Bescheids (Pflicht zur Ablieferung des Führerscheins) wiederhergestellt werden soll. Der Antrag ist aber auch in dieser Fassung nur teilweise zulässig, im Übrigen ist er unbegründet.
A) Soweit die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Zwangs geldandrohung begehrt wird, ist der Antrag unzulässig. Nachdem sich die Zwangsgeldandrohung mit der Abgabe des Führerscheins am 25. November 2020 erledigt hat und der Antragsgegner nicht zu erkennen gegeben hat, das Zwangsgeld gleichwohl beizutreiben, fehlt dem Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO insoweit das Rechtsschutzbedürfnis (stRspr, vgl. BayVGH, B.v. 7.9.2020 – 11 CS 20.1418 – juris Rn. 15 m.w.N.; B.v. 17.11.2020 – 11 CS 20.1748 – juris, Rn. 14 – 15).
Der Antrag ist weiter unzulässig, soweit beantragt wird, die Behörde zu verpflichten, dem Antragsteller vorläufig seine „Fahrerlaubnis“ (gemeint wohl: seinen Führerschein) wieder auszuhändigen. Diesem Antrag fehlt das Rechtsschutzbedürfnis, denn für den Fall, dass der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO erfolgreich wäre, ist nichts dafür vorgetragen oder ersichtlich, warum vorliegend die Fahrerlaubnisbehörde nicht von sich aus die Konsequenz hieraus ziehen und dem Antragsteller seinen Führerschein zurückgeben würde (BayVGH, B.v. 12.3.2007 – 11 CS 06.2028 – juris, Rn. 16).
B) Soweit der Antrag zulässig ist, ist er unbegründet.
1. Der Sofortvollzug wurde formell rechtmäßig angeordnet. Die Regelung unter Nr. 1 des angefochtenen Bescheids (Entziehung der Fahrerlaubnis) ist kraft Gesetzes sofort vollziehbar (§ 4 Abs. 9 StVG); eine Begründung im Bescheid ist insoweit nicht erforderlich. Im Hinblick auf die Nr. 2 des Bescheids hat das Landratsamt die sofortige Vollziehung in Nr. II des Bescheids im Einklang mit der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs (s. B.v. 22.9.2015 – 11 CS 15.1447 – juris Rn. 23), der dieses Gericht folgt, angeordnet. Die hierzu im streitgegenständlichen Bescheid abgegebene Begründung (siehe S. 5 des Bescheids, Bl. 33 der Gerichtakten) genügt den formellen Anforderungen des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4, Abs. 3 Satz 1 VwGO, denn die Behörde hat ausreichend einzelfallbezogen dargelegt, warum sie abweichend vom Regelfall der aufschiebenden Wirkung von Widerspruch oder Klage die sofortige Vollziehbarkeit der Verpflichtung, den Führerschein abzuliefern, angeordnet hat. Im Bereich des Sicherheitsrechts, zu dem auch das Recht der Fahrerlaubnisse gehört, kann sich die Behörde zur Rechtfertigung der sofortigen Vollziehung darauf beschränken, die für diese Fallgruppe typische Interessenlage aufzuzeigen und deutlich zu machen, dass sie auch im konkreten Fall vorliegt (s. z.B. BayVGH, B.v. 24.8.2010 – 11 CS 10.1139 – juris).
2. Im gerichtlichen Verfahren erfolgt keine inhaltliche Überprüfung der Begründung der Behörde, sondern es wird eine eigenständige gerichtliche Interessenabwägung durchgeführt (BayVGH, B.v. 16.12.2015 – 11 CS 15.2377 – juris; B.v. 8.9.2015 – 11 CS 15.1634 – juris Rn. 6 m.w.N.). Abzuwägen ist das Interesse des Antragstellers, zumindest vorläufig von seiner Fahrerlaubnis weiter Gebrauch machen zu können, gegen das Interesse der Allgemeinheit daran, dass dies unverzüglich unterbunden wird. Hierbei sind in erster Linie die Erfolgsaussichten des eingelegten Hauptsacherechtsbehelfs, hier der Klage vom 23. Februar 2021, ausschlaggebend. Lässt sich schon bei summarischer Überprüfung eindeutig feststellen, dass der angefochtene Verwaltungsakt offensichtlich rechtswidrig ist und den Betroffenen in seinen Rechten verletzt, so dass die Klage mit Sicherheit Erfolg haben wird, kann kein öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung dieses Verwaltungsaktes bestehen. Andererseits ist für eine Interessenabwägung, die zu Gunsten des Antragstellers ausgeht, im Regelfall kein Raum, wenn keine Erfolgsaussichten in der Hauptsache bestehen.
3. So liegt die Sache hier. Die Klage gegen den Bescheid vom 29. Oktober 2020 wird jedenfalls erfolglos bleiben.
a) Zunächst wurde die Klagefrist des § 74 Abs. 1 Satz 1 VwGO nicht eingehalten. Die Klagefrist beginnt mit der Zustellung des Widerspruchsbescheids, die nach dem vorliegenden Empfangsbekenntnis (Bl. 47 der Widerspruchsakten) am 20. Januar 2021 erfolgte, und beträgt einen Monat. Fristende wäre gemäß § 173 VwGO, § 222 Abs. 1, Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO), § 187 Abs. 1, § 188 Abs. 1, Abs. 2, 1. Alt. Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) somit am Montag, dem 22. Februar 2021 gewesen, da der 20. Februar 2021 ein Samstag war. Die Klage ging jedoch erst am 23. Februar 2021 bei Gericht ein. Dass die Rechtsbehelfsbelehrung:des Ausgangsbescheids fehlerhaft war, weil auf das hier nicht einschlägige fakultative Widerspruchsverfahren hingewiesen wurde, und somit nach dem Ausgangsbescheid die Jahresfrist des § 58 Abs. 2 VwGO einschlägig gewesen wäre, ändert daran nichts. Ergeht trotz Wegfalls des Widerspruchsverfahrens fehlerhaft ein Widerspruchsbescheid, findet nicht § 74 Abs. 1 Satz 2 VwGO Anwendung, sondern § 74 Abs. 1 Satz 1 VwGO, sodass die Anwendung innerhalb eines Monats nach Zustellung des Widerspruchsbescheids zu erheben ist, nicht aber innerhalb der Rechtsmittelfrist des Ausgangsbescheids (Kopp/Schenke, VwGO, 26. Auflage 2020, § 74 Rn 4; OVG NW, B.v. 6.2.2013 – 14 A 273/12 – juris, Rn. 19).
b) Die Klage wäre aber auch unbegründet. Die in Nr. 1 des Bescheids getroffene Ent ziehungsentscheidung ist rechtmäßig und verletzt den Antragsteller nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Die Fahrerlaubnisbehörde ging beim Erlass des Bescheids zutreffend von einem Stand von 8 Punkten im Fahreignungsregister (nachfolgend: FAER) aus.
Die gerichtliche Prüfung fahrerlaubnisrechtlicher Entziehungsverfügungen ist auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der abschließenden Entscheidung der handelnden Verwaltungsbehörde auszurichten. Da ein Widerspruchsverfahren hier durchgeführt wurde, ist dies der Zeitpunkt des Erlasses bzw. der Zustellung des Widerspruchsbescheids (vgl. BVerwG, U.v. 27.9.1995 – 11 C 34.94 – BVerwGE 99, 249 = juris, Rn. 9, und B.v. 22.1. 2001 – 3 B 144.00 – juris, Rn. 2).
c) Nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG gilt der Inhaber einer Fahrerlaubnis als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen und die Fahrerlaubnis ist ihm zu entziehen, wenn sich acht oder mehr Punkte im FAER ergeben. Nach § 4 Abs. 2 Satz 3, Abs. 5 Satz 5 StVG ist für das Ergreifen der jeweiligen Maßnahme auf den Punktestand abzustellen, der sich zum Zeitpunkt der Begehung der letzten zur Ergreifung der Maßnahme führenden Straftat oder Ordnungswidrigkeit ergeben hat. Die Punkte ergeben sich „mit der Begehung der Tat, sofern sie rechtskräftig geahndet wird“. Damit hat der Gesetzgeber das sog. Tattagsprinzip normiert. Es kommt für die Ergreifung einer Maßnahme des Stufensystems also nicht darauf an, wann die Punkte tatsächlich eingetragen wurden, sondern wie viele Punkte bei Begehung einer Tat unter Berücksichtigung auch späterer Eintragungen tatsächlich vorhanden waren. Hinsichtlich der Berücksichtigung einer Punktereduzierung durch Teilnahme an einem Aufbauseminar wird dementsprechend gemäß § 4 Abs. 7 Satz 1 Halbsatz 2 StVG auf den Punktestand zum Zeitpunkt der Ausstellung der Teilnahmebescheinigung abgestellt. Es kommt hier also hinsichtlich der Entziehung der Fahrerlaubnis auf den Punktestand am 11. Mai 2020 (zeitlich letzte Ordnungswidrigkeit) an.
Der Antragsteller hat dabei auch das Stufensystem des § 4 Abs. 5 Satz 1 StVG ordnungsgemäß durchlaufen. So wurde dem Antragsteller beim Stand von 5 Punkten im FAER mit Schreiben der damals zuständigen Fahrerlaubnisbehörde vom 25. November 2019 eine Ermahnung als erste Maßnahmenstufe (§ 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 StVG) erteilt. Die Möglichkeit zur Punktereduzierung durch ein Fahreignungsseminar hat der Antragsteller damals nicht wahrgenommen. Beim Stand von 6 Punkten im FAER wurde sodann mit Schreiben vom 30. Januar 2020 die Verwarnung als zweite Stufe (§ 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 StVG) ergriffen.
Der Antragsteller hat sodann mit der am 11. Mai 2020 begangenen Ordnungswidrigkeit einen Stand von 8 Punkten im FAER erreicht; die Berufung darauf, dass ein Dritter eine der relevanten Ordnungswidrigkeiten begangen hätte, ist gemäß § 4 Abs. 5 Satz 4 StVG ausgeschlossen; die Fahrerlaubnisbehörde ist bei ihren Maßnahmen an die rechtskräftige Entscheidung über die Straftat oder Ordnungswidrigkeit gebunden. Die Fahrerlaubnis war daher nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG zu entziehen.
d) Der Antragsteller kann sich dabei nicht darauf berufen, dass ihm die Verwarnung vom 30. Januar 2020 nicht zugegangen sei und das Stufensystem des § 4 Abs. 5 StVG deshalb nicht ordnungsgemäß durchlaufen worden sei.
Wie das Landratsamt in der Antragserwiderung vom 3. März 2021 zutreffend ausführt, reicht das bloße Bestreiten des Zugangs eines mittels Postzustellungsauftrag zugestellten Schriftstücks nicht aus. Die Postzustellungsurkunde begründet als öffentliche Urkunde im Sinne des § 418 Abs. 1 ZPO in Verbindung mit § 98 VwGO den vollen Beweis der darin bezeugten Tatsachen. Allerdings kann nach § 418 Abs. 2 ZPO derjenige, zu dessen Nachteil sich die gesetzliche Beweisregel auswirkt, den Beweis für die Unrichtigkeit der beurkundeten Tatsachen antreten. Ein derartiger Beweisantritt verlangt seinerseits den vollen Nachweis eines anderen Geschehensablaufs. Aus diesem Grunde muss ein Beweisantritt substantiiert sein, d.h. es muss nach dem Vorbringen des Beteiligten eine gewisse Wahrscheinlichkeit für die Unrichtigkeit der bezeugten Tatsachen dargelegt werden. Ein bloßes Bestreiten genügt hierfür nicht. Es müssen deshalb Umstände dargelegt werden, die ein Fehlverhalten des Postzustellers bei der Zustellung und damit eine Falschbeurkundung in der Postzustellungsurkunde zu belegen geeignet sind (zum Ganzen BVerwG, B. v. 1.10.1996 – 4 B 181/96 – Rn. 7 – 8, juris, m.w.N.; vgl. auch BVerfG, Nichtannahmebeschluss v. 20.2.2002 – 2 BvR 2017/01 – juris).
Im Einklang mit dieser Rechtsprechung bezieht sich das vom Antragsteller zitierte Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 15. Juni 2016 nicht auf den Fall einer Zustellung mittels Postzustellungsurkunde. Das Bundesverwaltungsgericht hat in dem vom Antragsteller angeführten Urteil ausdrücklich dargelegt, dass (anders als im Fall der Behauptung eines verspäteten Zugangs) von einem Adressaten, der den Zugang eines Bescheids überhaupt bestreitet, keine weitere Substantiierung verlangt werden kann, dies allerdings ausdrücklich für den Fall, dass die Behörde statt der förmlichen Zustellung die Bekanntgabe des Bescheides durch einfachen Brief wählt. In diesem Fall trägt sie im Falle des Bestreitens das Risiko der Unerweislichkeit des Zugangs, ohne dass ihr die Erleichterungen des Anscheinsbeweises zugutekommen (BVerwG, U.v. 15.6.2016 – 9 C 19/15 – NVwZ 2017, 565 BVerwGE 155, 241-248, Rn. 18).
Die Zustellung erfolgte hier, wie oben ausgeführt, jedoch mittels Postzustellungsurkunde. Auf das Urteil vom 15.6.2016 – 9 C 19/15 – kann der Antragsteller sich daher nicht berufen. Eine Substantiierung, wie bei Zustellung mittels Postzustellungsurkunde von der Rechtsprechung gefordert, enthält das Vorbringen des Antragstellers aber nicht. Im Gegenteil ist die Behauptung fehlenden Zugangs im Lichte des Sachvortrags im Widerspruchsverfahren, eine Tat sei vor Zustellung der Verwarnung ergangen, erst recht als unsubstantiiert anzusehen.
e) Der Antragsteller kann sich auch nicht darauf berufen, dass er bereits beim Stand von 4 Punkten hätte ermahnt werden müssen, weil eine Ermahnung erstmals beim Stand von 5 Punkten dazu führen könne, dass eine Ermahnung oder Verwarnung nicht mehr möglich sei und die Entziehung ohne vollständiges Durchlaufen des Stufensystems nach § 4 Abs. 5 StVG erfolgen müsse.
Es mag sein, dass nach Sinn und Zweck des Stufensystems des § 4 Abs. 5 StVG eine Ermahnung bzw. Verwarnung jeweils so schnell wie möglich erfolgen sollte, um dem Betroffenen Gelegenheit zu geben, sich auf seinen Punktestand einzustellen. Hinzuweisen ist aber darauf, dass nach der Intention des Gesetzgebers eine „Warnfunktion“ des Stufensystems des § 4 Abs. 5 StVG, anders als nach dem Punktsystem des § 4 Abs. 3 StVG in der bis zum 31. März 2014 geltenden Fassung des Gesetzes, nicht mehr in Betracht kommt. Das Bundesverwaltungsgericht hat hierzu folgendes ausgeführt:
„Im alten Mehrfachtäter-Punktsystem hatte der erkennende Senat der Stufung der Maßnahmen eine „Warnfunktion“ beigemessen und daraus hergeleitet, dass die Maßnahmen den Fahrerlaubnisinhaber „möglichst frühzeitig und insbesondere noch vor Eintritt in die nächste Stufe erreichen“ sollten, damit ihm die „Möglichkeit der Verhaltensänderung“ effektiv eröffnet werde (vgl. BVerwG, Urteil vom 25. September 2008 – 3 C 3.07 – BVerwGE 132, 48 Rn. 33). Die Fahrerlaubnis konnte nur entzogen werden, wenn deren Inhaber nach seiner Verwarnung eine weitere zur Überschreitung der Schwelle von § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 StVG a.F. führende Zuwiderhandlung begangen hatte. Weitere vor der Verwarnung begangene, der Fahrerlaubnisbehörde im Zeitpunkt der Verwarnung aber noch nicht bekannte Zuwiderhandlungen konnten auf der Grundlage des Mehrfachtäter-Punktsystems nicht unmittelbar zur Entziehung der Fahrerlaubnis führen (§ 4 Abs. 5 Satz 2 StVG a.F.). Hiervon hat sich der Gesetzgeber für das Fahreignungs-Bewertungssystem bewusst abgesetzt. Bei Fahrerlaubnisinhabern, die sich durch eine Anhäufung von innerhalb kurzer Zeit begangenen Verkehrsverstößen als ungeeignet erwiesen haben, sollen die Verkehrssicherheit und das Ziel, die Allgemeinheit vor ungeeigneten Fahrern zu schützen, Vorrang vor dem Erziehungsgedanken haben. Für das Fahreignungs-Bewertungssystem soll es nicht mehr darauf ankommen, dass eine Maßnahme den Betroffenen vor der Begehung weiterer Verstöße erreicht und ihm die Möglichkeit der Verhaltensänderung einräumt, bevor es zu weiteren Maßnahmen kommen darf. Die Erziehungswirkung liege – so der Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur zur Begründung der vorgeschlagenen und im Gesetzgebungsverfahren angenommenen Änderungen des Regierungsentwurfs – dem Gesamtsystem als solchem zu Grunde, während die Stufen in erster Linie der Information des Betroffenen dienten. Die Maßnahmen stellten somit lediglich eine Information über den Stand im System dar. Die Prüfung der Behörde, ob die Maßnahme der vorangehenden Stufe bereits ergriffen worden sei, sei vom Kenntnisstand der Behörde bei der Bearbeitung zu beurteilen und beeinflusse das Entstehen von Punkten nicht (BT-Drs. 18/2775 S. 9 f.) (BVerwG, U.v. 26.1.2017 – 3 C 21/15 -, BVerwGE 157, 235-249, Rn. 23).“
Wenn der Antragsteller nunmehr Ordnungswidrigkeiten in derart kurzen Abständen begeht, dass die Fahrerlaubnisbehörde trotz – hier insbesondere offensichtlich – zeitnaher Bearbeitung vom Punktestand quasi überholt wird, kann er sich auf diese Warnfunktion nun nicht mehr berufen.
Im Übrigen ist mit der Fahrerlaubnisbehörde darauf hinzuweisen, dass der vom Antragsteller befürchtete Fall, dass eine Ermahnung erst bei 5 bzw. eine Verwarnung erst bei 7 Punkten zum Überspringen von Maßnahmen des Stufensystems des § 4 Abs. 5 StVG führen kann, nicht eintreten kann. Für diesen Fall ist vielmehr gemäß § 4 Abs. 6 StVG die Maßnahme der vorherigen Stufe zu ergreifen und eine Punktereduzierung durchzuführen.
Die Klage würde damit auch inhaltlich erfolglos bleiben, so dass eine Interessenabwägung zugunsten des Antragstellers mangels Erfolgsaussichten nicht in Betracht kommt.
Auch im Hinblick auf die von der Behörde angeordnete sofortige Vollziehung der Ablieferung des Führerscheins (§ 3 Abs. 2 Satz 3 StVG, § 47 Abs. 1 Satz 2 FeV) kommt bei dieser Sachlage eine Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage nicht in Betracht.
4. Aber auch eine von den Erfolgsaussichten unabhängige abwägende Entscheidung zu Gunsten des Antragstellers kommt hier nicht in Betracht. Zunächst wäre dabei zu Lasten des Antragstellers die Wertung des Gesetzgebers zu berücksichtigen, der den Entzug der Fahrerlaubnis wegen Erreichens von mindestens 8 Punkten im FAER kraft Gesetzes mit sofortiger Vollziehbarkeit versehen und damit grundsätzlich der Notwendigkeit sofortigen Vollzugs im Interesse der Sicherheit hohes Gewicht beigemessen hat. Außerdem ist davon auszugehen, dass das Interesse der Öffentlichkeit und der anderen Verkehrsteilnehmer an der Sicherheit des Straßenverkehrs, bei dem es insbesondere auch um den mit Grundrechtsrang ausgestatteten Schutz von Leben und Gesundheit geht, das Interesse des Antragstellers daran, von seiner Fahrerlaubnis vorläufig weiter Gebrauch machen zu dürfen, überwiegt.
Die mit der sofort vollziehbaren Entziehung seiner Fahrerlaubnis für ihn verbundenen Nachteile in Bezug auf seine private Lebensführung und seine Berufstätigkeit muss er im überwiegenden öffentlichen Interesse an der Verkehrssicherheit und im Hinblick auf das Gewicht der durch ihn gefährdeten hochrangigen Rechtsgüter wie Leben und Gesundheit anderer Verkehrsteilnehmer hinnehmen. Denn das von ihm ausgehende Gefährdungspotential liegt erheblich über dem des Durchschnitts anderer Fahrzeugführer. Dies zeigen insbesondere die für ihn im FAER eingetragenen Zuwiderhandlungen. Der Antragsteller hat die letzten 5 seiner 8 Punkte jeweils für die Benutzung des Mobiltelefons am Steuer erhalten. Die insoweit zugrundeliegenden 5 Verstöße hat er zwischen Juli 2019 und Mai 2020, also nicht einmal innerhalb eines Jahres, begangen. Obwohl die Handynutzung jeweils sanktioniert wurde, hat er sich als unbelehrbar erwiesen und damit gezeigt, dass er die Sicherheitsinteressen anderer Verkehrsteilnehmer regelmäßig hintanstellt. Dass der Antragsteller wegen seiner beruflichen Tätigkeit auf seinen Führerschein angewiesen ist, führt deshalb nicht zu einem Überwiegen seines Interesses am Aufschub der Vollziehung.
5. Der Antrag bleibt daher erfolglos, weshalb die Kostenentscheidung aus § 154 Abs. 1 VwGO folgt.
6. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 39 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2 und § 52 Abs. 1, 2. GKG i.V.m. den Empfehlungen Nr. 1.5 Satz 1 sowie 46.1, 46.3, 46.4 und 46.9 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013 (abgedruckt in Kopp/Schenke, VwGO, 26. Aufl. 2020, Anh. § 164). Danach sind für die Fahrerlaubnis Klasse 1, ausgestellt nach dem 31. Dezember 1988 und bis zum 21. Dezember 1998, die gemäß Nr. A I. 4 der Anlage 3 zur Fahrerlaubnis-Verordnung der aktuellen Klasse A entspricht, 5000.- EUR festzusetzen. Für die Klasse 2, ausgestellt nach dem 31. März 1980 und bis zum 31. Dezember 1998, die gemäß Nr. A I.13 der Anlage 3 zur Fahrerlaubnis-Verordnung den Klassen A und A1 (jeweils mit Schlüsselzahlen 79.03 und 79.04), AM, B/BE, C1/C1E, C/CE, L, T entspricht, ist für die Klasse B/BE ein Streitwert von 5000.- EUR, für die Klasse CE ein Streitwert von 7.500.- und für die Klasse T ein Streitwert von 2.500.- zu berücksichtigen. Die Werte sind zusammenzurechnen und im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes zu halbieren. Die in den Klassen B/BE und CE enthaltenen Klassen (§ 6 Abs. 3 FeV) sind nicht gesondert zu berücksichtigen.


Ähnliche Artikel


Nach oben