Verkehrsrecht

Fahrerlaubnisentziehung

Aktenzeichen  M 26 S 17.3378

Datum:
4.9.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
StVG StVG § 4 Abs. 2 S. 3, Abs. 5 S. 5, Abs. 6, Abs. 9, § 29 Abs. 1 S. 2 Nr. 1, § 65 Abs. 3 Nr. 1, Nr. 4
FeV FeV § 40

 

Leitsatz

1 Für die Rechtmäßigkeit der Entziehung der Fahrerlaubnis wegen Erreichens der 8-Punkte-Grenze nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem kommt es nicht auf den Punktestand im Zeitpunkt des Bescheiderlasses an. Als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen mit der zwingenden Folge der Entziehung der Fahrerlaubnis gilt der Inhaber einer Fahrerlaubnis vielmehr, sobald sich in der Summe acht oder mehr Punkte ergeben. (Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)
2 Eintragungen für eine Entziehung der Fahrerlaubnis können auch verwertet werden, wenn sie im Zeitpunkt des Bescheiderlasses wegen Ablaufs der Überliegefrist bereits gelöscht sind (entgegen OVG Lüneburg BeckRS 2017, 103428). (Rn. 29) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Es wird festgestellt, dass die Klage des Antragstellers vom … Juli 2017 gegen die in Nummer 2 des Bescheids des Antragsgegners vom 17. Juli 2017 verfügte Verpflichtung zur Ablieferung des Führerscheins aufschiebende Wirkung hat. Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt.
II. Der Antragsteller hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Der Streitwert wird auf Euro 5.000,- festgesetzt.

Gründe

I.
Der Antragsteller wendet sich im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gegen die Entziehung seiner Fahrerlaubnis der Klassen BE und C1E einschließlich Unterklassen.
Gemäß einer Mitteilung des Kraftfahrt-Bundesamtes vom … Oktober 2014 waren für den Antragsteller im vormaligen Verkehrszentralregister bzw. im heutigen Fahreignungsregister die nachstehend aufgeführten Entscheidungen eingetragen:
Tattag
Rechtskräftig seit
Tatbezeichnung
Punkte
…10.2009
03.12.2009
Sie benutzten als Führer des Kraftfahrzeugs verbotswidrig ein Mobil- oder Autotelefon, indem Sie hierfür das Mobiltelefon oder den Hörer des Autotelefons aufnahmen oder hielten.
1
…11.2011
10.02.2012
Sie benutzten als Führer des Kraftfahrzeugs verbotswidrig ein Mobil- oder Autotelefon, indem Sie hierfür das Mobiltelefon oder den Hörer des Autotelefons aufnahmen oder hielten.
1
…02.2012
12.05.2012
Sie überschritten die zulässige Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 32 (von 31-40) km/h. Zulässige Geschwindigkeit: 100 km/h. Festgestellte Geschwindigkeit (nach Toleranzabzug): 132 km/h.
3
…12.2012
09.04.2013
Sie überschritten die zulässige Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 25 (von 21 – 25) km/h. Zulässige Geschwindigkeit: 100 km/h. Festgestellte Geschwindigkeit (nach Toleranzabzug): 125 km/h.
1
…06.2013
01.10.2013
Sie überschritten die zulässige Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 25 (von 21 -25) km/h. Zulässige Geschwindigkeit:100 km/h. Festgestellte Geschwindigkeit (nach Toleranzabzug): 125 km/h.
1
…03.2014
15.09.2014
Sie überschritten die zulässige Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 30 km/h. Zulässige Geschwindigkeit: 100 km/h. Festgestellte Geschwindigkeit (nach Toleranzabzug): 130 km/h.
1
Mit Schreiben vom 14. November 2014, zugestellt am 18. November 2014, ermahnte das Landratsamt den Antragsteller bei einem Stand von vier Punkten und wies ihn auf die Möglichkeit eines Punkteabbaus durch die freiwillige Teilnahme an einem Fahreignungsseminar hin. Hiervon machte der Antragsteller nach Aktenlage keinen Gebrauch.
Mit Schreiben vom … Januar 2015 teilte das Kraftfahrt-Bundesamt dem Landratsamt mit, dass der Antragsteller eine weitere Verkehrszuwiderhandlung begangen hatte:
Tattag
Rechtskräftig seit
Tatbezeichnung
Punkte
…07.2014
02.01.2015
Sie überschritten die zulässige Höchstgeschwindigkeit innerhalb geschlossener Ortschaften um 37 (von 31 – 40) km/h. Zulässige Geschwindigkeit: 50 km/h. Festgestellte Geschwindigkeit (nach Toleranzabzug): 87 km/h.
2
Mit Schreiben vom 7. April 2015, zugestellt am 10. April 2015, verwarnte das Landratsamt den Antragsteller bei einem Stand von sechs Punkten und wies ihn darauf hin, dass ihm bei Erreichen eines Punktestandes von acht Punkten die Fahrerlaubnis entzogen werden müsse.
Mit Schreiben vom … Mai 2016 teilte das Kraftfahrt-Bundesamt dem Landratsamt mit, dass für den Antragsteller zwei weitere Entscheidungen eingetragen wurden:
Tattag
Rechtskräftig seit
Tatbezeichnung
Punkte
…12.2014
20.04.2016
Sie überschritten die zulässige Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 30 km/h. Zulässige Geschwindigkeit: 100 km/h. Festgestellte Geschwindigkeit (nach Toleranzabzug): 130 km/h.
1
…12.2014
01.04.2015
Sie benutzten als Führer des Kraftfahrzeugs verbotswidrig ein Mobil- oder Autotelefon, indem Sie hierfür das Mobiltelefon oder den Hörer des Autotelefons aufnahmen oder hielten.
1
Nach vorheriger Anhörung entzog das Landratsamt dem Antragsteller mit Bescheid vom 17. Juli 2017 die Fahrerlaubnis aller Klassen und forderte ihn unter Androhung eines Zwangsgeldes auf, seinen Führerschein innerhalb von sieben Tagen nach Zustellung des Bescheids abzugeben. Dem kam der Antragsteller nach. Gegen den Bescheid ließ der Antragsteller am … Juli 2017 Klage erheben. Zugleich stellte er einen Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz; er beantragt,
die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 17. Juli 2017 anzuordnen.
Zur Begründung wird im Wesentlichen ausgeführt, die am 10. April 2015 zugestellte Verwarnung habe ihren Zweck hinsichtlich der bereits zuvor begangenen Taten vom … Dezember bzw. … Dezember 2014, wegen derer nun die Fahrerlaubnis entzogen werden solle, nicht mehr erfüllen können. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Punktereduzierung nach § 4 Abs. 6 StVG sei gemäß § 4 Abs. 2 Satz 3 und Abs. 5 Satz 5 StVG der Tattag des zum Punkteeintrag führenden Delikts. Aus dem Gesetz ergebe sich an keiner Stelle, dass auf die Warnfunktion verzichtet worden wäre. Die am 3. Dezember 2009 rechtskräftig geahndete Tat hätte bei der Entziehungsentscheidung überdies nicht mehr verwertet werden dürfen, weil sie bereits getilgt gewesen sei. Darüber hinaus sei die Entziehung im vorliegenden Fall unverhältnismäßig, weil der Antragsteller nach altem Recht nur zwölf Punkte hätte.
Das Landratsamt beantragt unter Vorlage der einschlägigen Akten, den Antrag abzulehnen.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die gewechselten Schriftsätze samt Anlagen – auch im Verfahren M 26 K 17.3376 – und die Akten des Landratsamts Bezug genommen.
II.
Der Antrag bleibt überwiegend ohne Erfolg.
Nach Auslegung des gestellten Antrags (§§ 122 Abs. 1, 88 VwGO) ist davon auszugehen, dass der Antragsteller die Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage hinsichtlich der in Nummer 1 des streitgegenständlichen Bescheids verfügten, bereits kraft Gesetzes sofort vollziehbaren Entziehung seiner Fahrerlaubnis begehrt (§ 80 Abs. 2 Nr. 3 VwGO, § 4 Abs. 9 StVG; vgl. sogleich unter 1.). Des Weiteren ist der Antrag im wohlverstandenen Interesse des Antragstellers dahingehend auszulegen, dass die Feststellung begehrt wird, dass die Klage hinsichtlich der in Nummer 2 des streitgegenständlichen Bescheids verfügten Verpflichtung zur Ablieferung des Führerscheins aufschiebende Wirkung hat (vgl. sogleich unter 2.). Schließlich wird der Antrag dahingehend ausgelegt, dass er sich nicht auf die Zwangsgeldandrohung in Nr. 3 des streitgegenständlichen Bescheids bezieht. Der Antragsteller hat seinen Führerschein bereits abgegeben, so dass die Verpflichtung aus Nr. 2 des Bescheids erfüllt ist. Es ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich, dass das Landratsamt das in Nr. 3 des Bescheids angedrohte Zwangsgeld entgegen der Vorschrift des Art. 37 Abs. 4 Satz 1 Bayerisches Verwaltungszustellungs- und Vollstreckungsgesetz (VwZVG) gleichwohl noch beitreiben wird. Einem Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage hinsichtlich der Nr. 3 des Bescheids fehlte es daher bereits am erforderlichen Rechtsschutzbedürfnis (BayVGH, B. v. 12.2.2014 – 11 CS 13.2281 – juris).
1. Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Entziehung der Fahrerlaubnis ist zulässig, aber unbegründet.
Bei der Entscheidung über den Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO hat das Gericht eine eigenständige Interessenabwägung vorzunehmen. Abzuwägen ist das Interesse des Antragstellers, zumindest vorläufig von seiner Fahrerlaubnis weiter Gebrauch machen zu können, gegen das Interesse der Allgemeinheit daran, dass dies unverzüglich unterbunden wird. Hierbei sind in erster Linie die Erfolgsaussichten des eingelegten Hauptsacherechtsbehelfs, hier der Klage vom … Juli 2017, ausschlaggebend. Lässt sich schon bei summarischer Überprüfung eindeutig feststellen, dass der angefochtene Verwaltungsakt offensichtlich rechtswidrig ist und den Betroffenen in seinen Rechten verletzt, so dass die Klage mit Sicherheit Erfolg haben wird, kann kein öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung dieses Verwaltungsaktes bestehen. Andererseits ist für eine Interessenabwägung, die zu Gunsten des Antragstellers ausgeht, im Regelfall kein Raum, wenn keine Erfolgsaussichten in der Hauptsache bestehen.
So liegt die Sache hier. Die zulässige Klage gegen die mit Bescheid vom 17. Juli 2017 verfügte Entziehung der Fahrerlaubnis hat keine Aussicht auf Erfolg, da diese rechtmäßig ist und den Antragsteller daher nicht in seinen subjektiv-öffentlichen Rechten verletzt, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
Rechtsgrundlage für die Entziehung der Fahrerlaubnis ist § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG. Danach gilt der Inhaber einer Fahrerlaubnis als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen, wenn sichacht oder mehr Punkte im Fahreignungs-Bewertungssystem ergeben. Die Fahrerlaubnisbehörde hat dann zwingend die Fahrerlaubnis zu entziehen, wenn sie die Maßnahmen der davor liegenden Stufen nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 und 2 StVG bereits ergriffen hat (§ 4 Abs. 6 Satz 1 StVG).
Für die Rechtmäßigkeit der Entziehung der Fahrerlaubnis wegen Erreichens der 8-Punkte-Grenze nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem kommt es nicht auf den Punktestand im Zeitpunkt des Bescheiderlasses an. Als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen mit der zwingenden Folge der Entziehung der Fahrerlaubnis gilt der Inhaber einer Fahrerlaubnis vielmehr, sobald sich in der Summe acht oder mehr Punkte ergeben. Für die Entziehung der Fahrerlaubnis hat die Behörde auf den Punktestand abzustellen, der sich zum Zeitpunkt der Begehung der letzten zur Ergreifung der Maßnahme führenden Straftat oder Ordnungswidrigkeit ergeben hat (§ 4 Abs. 5 Satz 5 StVG). Punkte ergeben sich mit der Begehung der Straftat oder Ordnungswidrigkeit, sofern sie rechtskräftig geahndet wird (§ 4 Abs. 2 Satz 3 StVG). Bei der Berechnung des Punktestands werden Zuwiderhandlungen nur dann berücksichtigt, wenn deren Tilgungsfrist zu dem in § 4 Abs. 5 Satz 5 StVG genannten Zeitpunkt (Tag der Begehung der letzten zur Ergreifung der Maßnahme führenden Zuwiderhandlung) noch nicht abgelaufen war (§ 4 Abs. 5 Satz 6 StVG). Spätere Verringerungen des Punktestands auf Grund von Tilgungen bleiben unberücksichtigt (§ 4 Abs. 5 Satz 7 StVG) (BayVGH, B.v. 13.6.2017 – 11 CS 17.909- juris).
Die Voraussetzungen dieser Bestimmung sind vorliegend erfüllt, denn der Antragsteller hat mit Begehung der Ordnungswidrigkeit vom … Dezember 2014 (Tattagprinzip, vgl. § 4 Abs. 5 Satz 5 StVG) einen Punktestand von acht Punkten erreicht.
a) Das Landratsamt hat den Punktestand korrekt berechnet und die der Entziehung der Fahrerlaubnis vorgelagerten Maßnahmen ordnungsgemäß ergriffen. Der Punktestand des Antragstellers von sieben Punkten war zum Ablauf des 30. April 2014 gemäß § 65 Abs. 3 Nr. 4 StVG mit drei Punkten in das neue Fahreignungs-Bewertungssystem zu überführen. Dabei waren die den Punkten zugrundeliegenden Verstöße bei der Überleitung sämtlich zu berücksichtigen (§ 65 Abs. 3 Nr. 1 StVG i.V.m. § 28 Abs. 3 Nr. 3 Buchstabe a) StVG i.V.m. Anlage 13 zu § 40 FeV). Nach Mitteilung der am 15. September 2014 rechtskräftig geahndeten, gemäß § 65 Abs. 3 Nr. 3 StVG i.V.m. § 40 i.V.m. Anlage 13 FeV n.F. nach neuem Recht mit einem Punkt zu bewertenden Verkehrszuwiderhandlung ermahnte das Landratsamt den Antragsteller gemäß § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 StVG, wobei die Ermahnung die nach § 4 Abs. 5 Satz 2 i.V.m. Abs. 7 erforderlichen Hinweise enthielt.
Nach Mitteilung zweier weiterer Verkehrszuwiderhandlungen, die jeweils mit einem Punkt zu bewerten sind, hat das Landratsamt die zweite Stufe des Fahreignungs-Bewertungssystems ergriffen, indem es den Antragsteller mit am 10. April 2015 zugestelltem Schreiben gemäß § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 StVG verwarnte, wobei die Verwarnung die nach § 4 Abs. 5 Sätze 2 und 3 StVG erforderlichen Hinweise enthielt. Mit Begehung der Ordnungswidrigkeiten vom … Und … Dezember 2014 hat der Antragsteller daher acht Punkte erreicht.
Der Punktestand des Antragstellers war nicht deshalb gemäß § 4 Abs. 6 Satz 3 Nr. 2 StVG zu reduzieren, weil der Antragsteller die zur Entziehung der Fahrerlaubnis führenden Zuwiderhandlungen vom Dezember 2014 bereits vor Zustellung der Verwarnung begangen hatte, diese aber noch nicht rechtskräftig geahndet bzw. der Fahrerlaubnisbehörde noch nicht bekannt waren (vgl. BVerwG, U.v. 26.1.2017 – 3 C 21.15 – juris). Das mit Wirkung vom 1. Mai 2014 eingeführte Fahreignungs-Bewertungssystem wurde mit Wirkung ab dem 5. Dezember 2014 insbesondere hinsichtlich der Regelungen in § 4 Abs. 5 und 6 StVG durch das Gesetz zur Änderung des StVG, der GewO und des BZRG v. 28.11.2014 (BGBl I S. 1802) nochmals geändert. Nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts, der die Kammer folgt, ist seit Inkrafttreten dieser Gesetzesänderung für das Ergreifen von Maßnahmen nach rechtskräftiger Ahndung der Zuwiderhandlung nicht mehr ausschließlich auf den sich für den betreffenden Tattag ergebenden Punktestand abzustellen. Maßgebend für die Rechtmäßigkeit einer Maßnahme nach § 4 Abs. 5 Satz 1 StVG und eine Verringerung des Punktestandes nach § 4 Abs. 6 Satz 2 und 3 StVG sind die im Fahrerlaubnisregister eingetragenen und der Fahrerlaubnisbehörde im Zeitpunkt des Ergreifens der Maßnahme nach § 4 Abs. 8 StVG übermittelten Zuwiderhandlungen. Von der im vormaligen Mehrfachtäter-Punktsystem maßgeblichen Warnfunktion und der deshalb auch für die Frage der Punktereduzierung angenommenen Maßgeblichkeit des Tattagprinzips hat sich der Gesetzgeber für das Fahreignungs-Bewertungssystem bewusst abgesetzt. Bei Fahrerlaubnisinhabern, die sich durch eine Anhäufung von innerhalb kurzer Zeit begangenen Verkehrsverstößen als ungeeignet erwiesen haben, sollen die Verkehrssicherheit und das Ziel, die Allgemeinheit vor ungeeigneten Fahrern zu schützen, Vorrang vor dem Erziehungsgedanken haben. Für das Fahreignungs-Bewertungssystem soll es nicht mehr darauf ankommen, dass eine Maßnahme den Betroffenen vor der Begehung weiterer Verstöße erreicht und ihm die Möglichkeit der Verhaltensänderung einräumt, bevor es zu weiteren Maßnahmen kommen darf. Die Erziehungswirkung liege – so der Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur zur Begründung der vorgeschlagenen und im Gesetzgebungsverfahren angenommenen Änderungen des Regierungsentwurfs – dem Gesamtsystem als solchem zugrunde, während die Stufen in erster Linie der Information des Betroffenen dienten. Die Prüfung der Behörde, ob die Maßnahme der vorangehenden Stufe bereits ergriffen worden sei, sei vom Kenntnisstand der Behörde bei der Bearbeitung zu beurteilen und beeinflusse das Entstehen von Punkten nicht (BT-Drs. 18/2775, S. 9f.).
Umgesetzt wird der vom Gesetzgeber gewollte Systemwechsel insbesondere durch § 4 Abs. 5 Satz 6 Nr. 1 und § 4 Abs. 6 Satz 4 StVG. Gemäß § 4 Abs. 5 Satz 6 Nr. 1 StVG werden bei der Berechnung des Punktestandes Zuwiderhandlungen unabhängig davon berücksichtigt, ob nach deren Begehung bereits Maßnahmen ergriffen worden sind. Diese Vorschrift soll die Punktebewertung eines Verkehrsverstoßes auch dann ermöglichen, wenn er vor dem Ergreifen einer Maßnahme begangen wurde, bei dieser Maßnahme aber noch nicht verwertet werden konnte, etwa weil deren Ahndung erst später Rechtskraft erlangt hat oder sie erst später im Fahreignungsregister eingetragen oder der Behörde zur Kenntnis gelangt sei (BT-Drs. 18/2775, S. 10). Ein solcher Fall liegt hier bezogen auf die Ordnungswidrigkeiten vom Dezember 2014 vor.
§ 4 Abs. 6 Satz 4 StVG stellt ausdrücklich auf den Kenntnisstand der Fahrerlaubnisbehörde ab. Nach dieser Bestimmung erhöhen Punkte für Zuwiderhandlungen, die vor der Verringerung nach Satz 3 begangen worden sind und von denen die nach Landesrecht zuständige Behörde erst nach der Verringerung Kenntnis erhält, den sich nach Satz 3 ergebenden Punktestand (vgl. zur Systematik auch Dauer, in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 44. Aufl. 2017, § 4 StVG Rn 88a).
Im Fahreignungs-Bewertungssystem entscheidet die Fahrerlaubnisbehörde mithin auf der Grundlage der ihr gemäß § 4 Abs. 8 StVG vom Kraftfahrt-Bundesamt übermittelten Eintragungen im Fahreignungsregister. Dieser Kenntnisstand ist maßgebend für die Rechtmäßigkeit der Maßnahmen nach § 4 Abs. 5 StVG. Für die Frage, ob die Maßnahme der davor liegenden Stufe noch nicht ergriffen worden ist und sich, wenn zunächst diese Maßnahme zu ergreifen ist, der Punktestand verringert (§ 4 Abs. 6 Satz 2 und 3 StVG), kann nichts anderes gelten. Eine andere Betrachtung liefe dem Ziel der Gesetzesänderung zuwider, bei einer Anhäufung von Verkehrsverstößen die Entziehung der Fahrerlaubnis auch dann zu ermöglichen, wenn der Betroffene nach der Verwarnung die Entziehung der Fahrerlaubnis nicht mehr durch eine Änderung seines Verkehrsverhaltens verhindern kann.
b) Die Entziehung der Fahrerlaubnis verstößt auch nicht gegen das Verwertungsverbot des § 29 Abs. 7 Satz 1 StVG.
aa) Die seit dem Jahr 2011 begangenen Zuwiderhandlungen waren im Zeitpunkt der zum Ergreifen der Maßnahme nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG führenden Tat vom … Dezember 2014 noch nicht getilgt. Nach der Übergangsregelung in § 65 Abs. 3 Nr. 2 Satz 1 StVG sind solche Entscheidungen nach den Bestimmungen des § 29 StVG a.F. zu tilgen und zu löschen. § 29 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 StVG a. F. sieht für Verkehrsordnungswidrigkeiten eine Tilgungsfrist von zwei Jahren vor, die nach § 29 Abs. 4 Nr. 3 StVG a. F. mit dem Tag der Rechtskraft der beschwerenden Entscheidung zu laufen beginnt. Nach § 29 Abs. 6 Satz 1 StVG a. F. (i.V.m. § 65 Abs. 3 Nr. 2 Satz 1 StVG) ist die Tilgung bei mehreren nach § 28 Abs. 3 Nr. 1 bis 9 StVG a. F. einzutragenden Entscheidungen allerdings erst zulässig, wenn für alle Eintragungen die Voraussetzungen der Tilgung vorliegen, es sei denn, dass § 29 Abs. 6 Satz 2 bis 6 StVG a. F. hiervon abweicht. Aus § 65 Abs. 3 Nr. 2 Satz 2 StVG folgt weiter, dass Entscheidungen, die erst ab dem 1. Mai 2014 gespeichert werden, keine Ablaufhemmung nach § 29 Abs. 6 Satz 2 StVG a. F. mehr auslösen (siehe hierzu nur BT-Drs. 17/13452, S. 7). Zugleich folgt hieraus jedoch auch zwingend, dass eine Ablaufhemmung nach § 29 Abs. 6 StVG a.F., die durch eine nach altem Recht im Verkehrszentralregister gespeicherte Tat ausgelöst wurde, unberührt bleibt.
Im konkreten Fall bedeutet dies, dass die seit dem Jahr 2011 begangenen Ordnungswidrigkeiten mit Ablauf des 1. Oktober 2015 getilgt wurden, da zu diesem Zeitpunkt die zweijährige Tilgungsfrist hinsichtlich der zuletzt rechtskräftig geahndeten und noch nach altem Recht zu speichernden Ordnungswidrigkeit ablief. Am für das Erreichen der 8-Punkte-Grenze maßgeblichen Tag der Begehung der letzten Zuwiderhandlung vom … Dezember 2014 (§ 4 Abs. 5 Satz 5 StVG) waren diese Ordnungswidrigkeiten daher sämtlich noch verwertbar.
Zurecht weist der Bevollmächtigte des Antragstellers darauf hin, dass die am 3. Dezember 2009 rechtskräftig geahndete Ordnungswidrigkeit zu diesem Zeitpunkt gemäß § 65 Abs. 3 Nr. 2 i.V.m. § 29 Abs. 6 Satz 4 StVG bereits getilgt war. Diese Tilgung führt jedoch nicht zu einer Veränderung des Punktestands. Denn nach Löschung dieser nach altem Recht mit einem Punkt zu bewertenden Ordnungswidrigkeit ist von einem Punktestand von sechs Punkten nach altem Recht auszugehen (vgl. § 65 Abs. 3 Nr. 6 StVG), der gemäß der Tabelle des § 65 Abs. 3 Nr. 4 StVG ebenfalls in drei Punkte umzurechnen ist. Hieraus ergeben sich daher keine Änderungen.
bb) Unerheblich ist nach Auffassung der Kammer, dass im Zeitpunkt des Bescheiderlasses die einjährige Überliegefrist des § 29 Abs. 6 Satz 2 StVG hinsichtlich der auf der Grundlage des StVG a.F. eingetragenen Ordnungswidrigkeitenentscheidungen bereits abgelaufen war. Der Ansicht des OVG Lüneburg, wonach Eintragungen für eine Entziehung der Fahrerlaubnis nicht mehr verwertet werden dürfen, wenn sie im Zeitpunkt des Bescheiderlasses wegen Ablaufs der Überliegefrist bereits gelöscht sind (OVG Lüneburg, B.v. 22.2.2017 – 12 ME 240/16 – juris Rn. 7), folgt die Kammer nicht.
Die Überliegefrist ist lediglich bei der Berechnung des Punktestandes von Belang. Sie hat den Zweck, nach Ablauf der Tilgungsfrist feststellen zu können, ob der Fahrerlaubnisinhaber vor Ablauf der Tilgungsfrist eine oder mehrere andere Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten begangen hat, die sich auf den Punktestand ausgewirkt haben, zu denen die rechtskräftige Entscheidung aber erst nach Ablauf der Tilgungsfrist im Fahreignungsregister eingetragen wird. Solche Erhöhungen des Punktestandes könnten nicht mehr berücksichtigt werden, wenn eine Eintragung unmittelbar mit Eintritt der Tilgungsreife gelöscht werden würde (Begründung zum Entwurf eines vierten Gesetzes zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes und anderer Gesetze, BT-Drs. 17/12636 S. 19 f). Nach dem Willen des Gesetzgebers soll die Beibehaltung der Überliegefrist einen Kompromiss zwischen der Transparenz des Registers und der Vermeidung von Anreizen für rein taktisch motivierte Rechtsmittel herbeiführen. Der Ablauf der Überliegefrist des § 29 Abs. 6 Satz 2 StVG wirkt sich im Fahreignungs-Bewertungssystem somit in Fällen aus, in denen eine neue Tat während der Tilgungsfrist einer eingetragenen früheren Tat begangen wurde und der durch die neue Tat bewirkte höhere Punktestand eine Maßnahme nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem auslösen würde, die Eintragung der rechtskräftigen Ahndung der neuen Tat in das Register aber erst nach Ablauf der Überliegefrist der früheren Tat erfolgt. Ist die Überliegefrist hingegen im Zeitpunkt der rechtskräftigen Ahndung der letzten zum Ergreifen der Maßnahme führenden Tat noch nicht abgelaufen und durfte die „Vortat“ daher der Fahrerlaubnisbehörde zur Ermittlung des retrospektiv auf den Tattag bezogenen Punktestandes noch übermittelt werden, bleibt ein nachträglicher Ablauf der Überliegefrist genau wie nachfolgende Tilgungen unberücksichtigt (vgl. auch BVerwG, B.v. 6.11.2012 – 3 B 5/12 -, juris Rn. 4 zu § 29 Abs. 8 StVG a.F.). Auch im Fahreignungs-Bewertungssystem greift das Verwertungsverbot in Bezug auf eine Fahrerlaubnisentziehung nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG nur, bevor acht Punkte erreicht sind, ist also lediglich für das Feststellen des Punktestandes maßgeblich. Es ist nicht ersichtlich, dass der Gesetzgeber mit der Einführung des Mehrfachtäter-Punktsystems und der Änderung des § 29 Abs. 7 Satz 1 StVG, der nunmehr anstatt der Tilgung die Löschung als maßgeblich für die Unverwertbarkeit benennt, insoweit Änderungen herbeiführen wollte. Vielmehr diente die Änderung insoweit lediglich der Klarstellung (BT-Drs. 17/12636 S. 46 ff). Allein diese Gesetzesauslegung wird im Übrigen der unwiderleglichen Vermutung des § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG, wonach der Inhaber einer Fahrerlaubnis als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen gilt, wenn sich acht oder mehr Punkte ergeben, gerecht.
c) Nicht zu folgen ist schließlich dem Einwand des Bevollmächtigten des Antragstellers, die Entziehung der Fahrerlaubnis sei vorliegend unverhältnismäßig, weil der Antragsteller nach altem Recht höchstens zwölf Punkte erreicht hätte. Hierbei wird zum einen verkannt, dass sowohl die Maßnahmestufen als auch die Punktebewertungen im bis zum 30. April 2014 geltenden Mehrfachtäter-Punktsystem von denjenigen des Fahreignungs-Bewertungssystems abweichen. So wären im Mehrfachtäter-Punktsystem die drei vom Antragsteller begangenen Geschwindigkeitsüberschreitungen jeweils mit drei Punkten zu bewerten gewesen. Zum anderen sind die Gesetzesänderung und damit auch die vorliegend in Rede stehende, auf deren Grundlage ergriffene Einzelfallmaßnahme zur Erreichung des damit verfolgten Zwecks, die Verkehrssicherheit zu stärken und ungeeignete Kraftfahrzeugführer auch tatsächlich vom Straßenverkehr auszuschließen (vgl. BT-Drs. 18/2775 S. 9f) geeignet, erforderlich und angemessen. Dieses Ziel ließe sich nur eingeschränkt erreichen, wenn die Neuregelung auf vor ihrem Inkrafttreten begangene, aber noch nicht rechtskräftig geahndete Verkehrsverstöße nicht anwendbar wäre. Die Grenze der Zumutbarkeit bleibt für die Betroffenen gewahrt. Ihre Erwartung, dass das der Gefahrenabwehr dienende Fahrerlaubnisrecht nach Begehung einer noch nicht rechtskräftig geahndeten Straftat oder Ordnungswidrigkeit nicht zu ihrem Nachteil geändert werde, genießt keinen besonderen verfassungsrechtlichen Schutz (vgl. auch BVerwG, U.v. 26.1.2017, a.a.O.).
2. Soweit der Antrag dahingehend auszulegen ist, dass der Antragsteller die Feststellung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage gegen die in Nummer 2 des streitgegenständlichen Bescheids verfügte Verpflichtung zur Ablieferung des Führerscheins begehrt, ist er zulässig und begründet. Der Antragsgegner berühmt sich der sofortigen Vollziehbarkeit des Bescheids auch hinsichtlich der Ablieferungsverpflichtung des Führerscheins. Bei einer solchen Sachlage ist ein Antrag auf Feststellung der aufschiebenden Wirkung der Klage als Sonderform des Rechtsschutzes nach § 80 Abs. 5 VwGO statthaft (Schmidt in Eyermann, VwGO, 14. Auflage 2014, § 80 Rn. 109).
Der Antrag ist auch begründet. Die aufschiebende Wirkung entfällt nur, wenn die sofortige Vollziehung durch Bundes- oder Landesgesetz ausdrücklich angeordnet ist (§ 80 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) oder wenn die Behörde die sofortige Vollziehbarkeit angeordnet hat (§ 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO). Beides ist vorliegend nicht der Fall. Insbesondere kann § 47 Abs. 1 Satz 2 FeV nicht so verstanden werden, dass er einen besonderen Fall des gesetzlichen Sofortvollzugs im Sinne von § 80 Abs. 2 Nr. 3 VwGO enthält, denn dafür wäre ein Gesetz im formellen Sinn erforderlich; dem genügt eine Verordnung wie die Fahrerlaubnis-Verordnung nicht (BayVGH, B.v. 22.9.2015 – 11 CS 15.1447 – juris). § 3 Abs. 2 Satz 3 StVG enthält keine § 47 Abs. 1 Satz 2 FeV entsprechende Regelung zur sofortigen Vollziehbarkeit der Ablieferungsverpflichtung. Die anhängige Anfechtungsklage hat daher insoweit aufschiebende Wirkung.
Das Gericht weist allerdings darauf hin, dass es dem Landratsamt unbenommen bleibt, die sofortige Vollziehung der Nummer 2 des Bescheids vom 17. Juli 2017 nachträglich anzuordnen. Des Weiteren wird darauf hingewiesen, dass die sechs-Monats-Frist des § 4 Abs. 10 Satz 1 StVG für die Wiedererteilung der Fahrerlaubnis mit der Ablieferung des Führerscheins beginnt (§ 4 Abs. 10 Satz 3 StVG).
3. Da der Antragsgegner nach dem soeben Ausgeführten nur zu einem geringen Teil unterlegen ist, ergibt sich die Kostenfolge aus §§ 154 Abs. 1, 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO. Die Streitwertfestsetzung folgt aus §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 GKG i.V.m. den Nrn. 1.5, 46.3 und 46.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit.


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