Verkehrsrecht

Obliegenheiten des Businsassen

Aktenzeichen  32 O 1988/16

Datum:
10.8.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 159070
Gerichtsart:
LG
Gerichtsort:
Ingolstadt
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:
ZPO § 3, § 91, § 709 S. 1, S. 2
SGB X § 116

 

Leitsatz

1. Der Umstand, dass sich ein im Bus Fahrender schuldhaft keinen sicheren Halt im Fahrzeug verschafft hat, obwohl dies ohne Weiteres möglich gewesen wäre, führt zu dessen alleiniger Haftung bzw. schließt eine Haftung auf Beklagtenseite aus (Anschluss KG BeckRS 9998, 37696). (Rn. 23) (redaktioneller Leitsatz)
2. Es besteht grundsätzlich keine Verpflichtung eines Busfahrers, sich vor dem Anfahren zu vergewissern, ob der Geschädigte einen Sitzplatz oder sonst Halt im Fahrzeuginneren gefunden hat (Anschluss BGH BeckRS 1992, 00043). (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Klägerin hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
III. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages.
Beschluss
Der Streitwert wird auf 185.126,19 € festgesetzt.

Gründe

Die zulässige Klage erweist sich als unbegründet. So ist die Kammer überzeugt, dass sich der Geschädigte S2. trotz Anfahrens des Linienbusses keinen Halt im Fahrzeuginneren verschafft hat (I. 1.) und dass der Fußgänger, der die Fahrbahn unmittelbar vor dem Bus überquerte, zuvor an der Mittellinie stehengeblieben war, ohne Anzeichen dafür, plötzlich loszulaufen (I. 2.). Eine Haftung der Beklagten für den Schaden des Zeugen S2. scheidet damit aus (I. 3.).
I.
1. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme steht fest, dass sich der bei der Klägerin versicherte Zeuge M2. S2. nach dem Einsteigen in den Linienbus keinen festen Halt verschafft hat. Dies bestätigt zum einen der Zeuge B., welcher schilderte, zusammen mit dem Geschädigten S2. an der Bushaltestelle „…-Forum“ in den Linienbus eingestiegen zu sein. Dies glaublich an einer der hinteren Türen. Während er (der Zeuge B.) gerade im Begriff gewesen sei, sich zu setzen, sei der Geschädigte S2. noch in der Mitte des Busses mit der Entwertung seines Fahrscheines beschäftigt gewesen.
Eben dies ergibt sich aus den in Augenschein genommenen Videosequenzen, insbesondere der Videosequenz Anlage B 1 und dem ersten Video der Anlage B 5. Daraus ist ersichtlich, wie der Geschädigte S2. trotz bereits angefahrenen und in Bewegung befindlichen Busses mit dem Rücken zur Fahrtrichtung in der Mitte des Linienbusses steht und damit beschäftigt ist, Dinge aus seinem Geldbeutel zu holen bzw. hineinzustecken, mutmaßlich den Fahrschein. Dabei lehnt sich der Geschädigte lediglich mit dem Bauchbereich leicht nach vorne gegen die im Bus befindliche Fahrscheinstempeleinrichtung. Beide Hände des Geschädigten befinden sich jedoch am Geldbeutel. Er hält sich nirgends fest, weder an Halteeinrichtungen des Busses, Sitzlehnen oder sonst. Auch hat er beispielsweise nicht einen Arm um eine Haltestange gelegt, um so die Hände frei für seinen Geldbeutel zu haben. Er steht vielmehr locker gegen den Stempelautomaten gelehnt in der Busmitte, obwohl der Bus die Haltestelle verlässt und bereits auf der Fahrbahn fährt. Er war nicht dabei, sich gerade zu setzen.
Aus der Videoaufzeichnung ergibt sich weiter, dass bei dem Geschädigten S2. keinerlei körperliche Behinderungen erkennbar sind, insbesondere führt er keine Hilfsmittel wie etwa Krücken, Rollstuhl, Rollator oder Ähnliches mit sich.
Ebenso ist aus der Videoaufzeichnung zu erkennen, wie eine Person vor dem Bus über die Straße läuft und der Bus stark abbremst, sodass der Geschädigte rücklings zu Sturz kommt und bis nach vorne in den Bereich des Busfahrers rutscht. Dabei überquert der Fußgänger die Fahrbahn vor dem Bus so knapp, dass er selbst aus der Innenraumkamera in der Busmitte noch in kurzem Abstand vor der Frontscheibe des Busses zu sehen ist, und zwar während der Geschädigte gerade im Sturzgeschehen nach vorne befangen ist.
Zusammenfassend lassen die Videoaufzeichnungen der Kameras im Businneren keinen Zweifel, dass der Geschädigte S2. sich keinen festen Halt im Fahrzeuginneren verschafft hat, obwohl der Bus bereits angefahren und in Bewegung war. Körperliche Behinderungen des Geschädigten sind, selbst wenn sie vorhanden sein sollten, nicht erkennbar.
2. Zur Überzeugung der Kammer steht weiter fest, dass sich ein Fußgänger aus Sicht des Beklagten zu 1) von links kommend über die Gegenfahrspuren bewegt hatte und zunächst auf Höhe der Mittellinie zwischen den Richtungsfahrspuren stehen geblieben war.
Insoweit verkennt die Kammer nicht, dass hier der schriftsätzliche Vortrag der Beklagten in der Klageerwiderung und die Angaben des Beklagten zu 1) bei seiner polizeilichen Vernehmung im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren im Widerspruch zu dem stehen, was der Beklagte zu 1) im Rahmen der mündlichen Verhandlung vom 20.07.2017 angab. So findet sich in der Klageerwiderung der schriftsätzliche Vortrag, der Fußgänger sei etwa auf Höhe der Fahrbahnmitte stehen geblieben, weshalb der Beklagte zu 1) davon ausgegangen sei, der Fußgänger würde den restlichen Fahrbahnteil vor seinem herannahenden Bus nicht weiter überqueren. Dies deckt sich mit dem, was der Beklagte zu 1) im Rahmen seiner polizeilichen Zeugenvernehmung vom 23.05.2012 um 6.21 Uhr und damit nur kurze Zeit nach dem Sturzgeschehen angab. Soweit der Beklagte zu 1) nunmehr in der mündlichen Verhandlung vom 20.07.2017 ausführte, nicht zu wissen, wo der Fußgänger urplötzlich hergekommen sei, und dass er diesen erstmals mit hängendem Kopf und langsamem „Null-Bock“-Schritt beim Betreten seiner Richtungsfahrspur wahrgenommen habe, steht dies hierzu in Widerspruch.
Die Kammer kann insoweit dahingestellt sein lassen, ob dieser Widerspruch auf den Zeitablauf zum Unfallgeschehen am 23.05.2012 zurückzuführen ist, oder letztlich im Zusammenhang mit dem schriftsätzlichen Klägervortrag steht, der Fußgänger habe sich durchgehend in Bewegung befunden, was den Beklagten zu 1) zu der – irrigen – Annahme verleitet haben könnte, dieser Umstand sei für ihn günstiger als ein an der Mittellinie stehender und wartender Fußgänger.
Denn jedenfalls steht eine Einlassung des Beklagten zu 1), wie er sie in seiner polizeilichen Vernehmung vom 23.05.2012 angegeben hat, im Einklang mit den Angaben des Zeugen V. Dieser berichtete konstant bei seiner polizeilichen Vernehmung vom 26.05.2012 als auch erneut in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer, den Fußgänger bemerkt zu haben, als dieser in der Fahrbahnmitte stand. Bei der polizeilichen Vernehmung gab der Zeuge an, niemals damit gerechnet zu haben, dass der Fußgänger die Fahrbahn überquere. Wenn der Zeuge V. in der mündlichen Verhandlung nunmehr nicht mehr zu 100% sicher war, ob der Fußgänger stand oder ging, so ist dies ohne Weiteres mit dem erheblichen Zeitablauf zu erklären. So betont der Zeuge auch, dass seine damaligen Angaben bei der Polizei sicherlich aktueller gewesen wären, als sein heutiges, infolge des Zeitablaufs inzwischen etwas getrübtes Gedächtnis. Dies ist für die Kammer ohne Weiteres nachvollziehbar. Insbesondere nachdem sich insoweit die Angaben des Beklagten zu 1) und des Zeugen V. bei ihren polizeilichen Vernehmungen unmittelbar nach bzw. am Tag nach dem Unfallereignis hinsichtlich des Verhaltens des Fußgängers decken. So hat die Kammer zusammenfassend keine Zweifel, dass der Fußgänger tatsächlich bis zur Fahrbahnmarkierung in der Fahrbahnmitte gegangen und dort stehengeblieben war. Dort machte er zunächst keine Anstalten, seinen Weg über den weiteren, vom Beklagten zu 1) befahrenen Fahrstreifen fortzusetzen.
Eine weitere Beweisaufnahme zum Verhalten des Fußgängers und dessen Folgen für den Beklagten zu 1) durch Einholung eines Sachverständigengutachtens ist dabei weder geboten noch möglich. Dem Beweisangebot der Klägerseite im Schriftsatz vom 24.05.2017 (Bl. 58 d.A.) war mithin nicht nachzugehen: Zum einen fehlen insoweit die erforderlichen konkreten Anknüpfungspunkte für einen Sachverständigen, namentlich der genaue Standort des Fußgängers, dessen Geschwindigkeit beim Gehen, seine Entfernung zum herannahenden Omnibus, etc. Diese Umstände konnten durch die erfolgte Beweisaufnahme nicht genau geklärt werden und können auch von einem Sachverständigen nicht festgestellt werden. Vielmehr ist die Kammer – wie dargelegt – aufgrund des Ergebnisses der Beweisaufnahme überzeugt, dass der Fußgänger bis zur Fahrbahnmitte lief und dort stehen blieb. Wie dieser Umstand im Hinblick auf das weitere Fahrverhalten und etwaige Verhaltensaufforderungen für den Beklagten zu 1) zu werten ist, ist dagegen eine Frage rechtlicher Würdigung, welche der Kammer obliegt.
Zusammenfassend ist die Kammer überzeugt, dass der Fußgänger in der Fahrbahnmitte stehen blieb, ohne dass es für den Beklagten zu 1) – oder den Zeugen V. – irgendwelche Anzeichen gab, dass der Fußgänger plötzlich und direkt vor dem Bus auf die Fahrbahn treten würde. Der Entschluss des Fußgängers, doch noch loszulaufen, obwohl er die Fahrbahn ohne Vollbremsung des Busses nicht unversehrt hätte überqueren können, ist dabei nachvollziehbar. Er beruht zur Überzeugung der Kammer auf einer alkoholbedingten Fehleinschätzung des Abstandes durch den Fußgänger. So berichteten der Beklagte zu 1) in Übereinstimmung mit dem Zeugen B. von einer deutlichen Alkoholisierung des Fußgängers, welche sie anhand dessen „Alkoholfahne“ feststellten. Dagegen gab es keine (sichtbaren) Anhaltspunkte dafür, dass der Fußgänger aus Sicht des Beklagten zu 1) schon auf der Straße als alkoholisiert aufgefallen wäre bzw. hätte auffallen müssen.
3. Aufgrund dieser Feststellungen scheidet eine Haftung der Beklagten aus:
a) Zunäschst steht nachgewiesenermaßen fest, dass sich der Geschädigte S2. im Businneren keinen sicheren Halt verschaffte, obwohl der Bus bereits angefahren und in Bewegung war. Hierzu wäre der am 23.09.1976 geborene Geschädigte S2. ohne Weiteres in der Lage gewesen. Insbesondere hielt sich der Geschädigte nicht an den Halteeinrichtungen im Businneren fest, sondern stand mehr oder weniger freihändig mit beiden Händen am Geldbeutel in der Busmitte, damit beschäftigt, Gegenstände in seinen Geldbeutel zu stecken oder daraus hervorzuholen. Dieses Fehlverhalten des Geschädigten wiegt so erheblich, dass es eine Betriebsgefahr des Omnibusses aufwiegt.
b) Dabei besteht insbesondere keine Verpflichtung des Beklagten zu 1), sich vor dem Anfahren zu vergewissern, ob der Geschädigte einen Sitzplatz oder sonst Halt im Fahrzeuginneren gefunden hat (BGH NJW 1993, 654). Anhaltspunkte für eine Geh-, Seh- oder sonstige Behinderung des Geschädigten sind nicht ersichtlich geschweige denn äußerlich erkennbar.
c) Der Umstand, dass sich der Geschädigte schuldhaft keinen sicheren Halt im Fahrzeug verschafft hat, obwohl dies ohne Weiteres möglich gewesen wäre, führt zu dessen alleiniger Haftung bzw. schließt eine Haftung auf Beklagtenseite aus (LG Wiesbaden NZV 2011, 201; KG NZV 2012, 182; AG Potsdam NZV 2014, 358). Dabei spielt keine Rolle, ob er seinen Fahrschein hätte entwerten müssen, da er sich auch dann zumindest mit einer Hand hätte festhalten können und müssen. So bestand insbesondere kein Grund, den Fahrschein erst im Bus aus dem Geldbeutel zu holen, bzw. ihn stehenderweise im Bus wieder dorthin zurück zu stecken. Dies hätte der Geschädigte auch im Sitzen tun können.
d) Ein Verschulden des Beklagten zu 1) liegt dabei nicht vor, insbesondere nicht im Zusammenhang mit dem Fußgänger. Dieser überquerte plötzlich, unerwartet und so knapp vor dem herannahenden Omnibus die Fahrbahn, dass der Beklagte zu 1) nur mit einer Vollbremsung ein Unfallgeschehen vermeiden konnte.
Da der Fußgänger nach den Feststellungen der Kammer bis zur Fahrbahnmitte gegangen, dort jedoch stehen geblieben und keine weiteren Anzeichen gemacht hatte, vor dem Bus weiter zu gehen, durfte der Beklagte zu 1) darauf vertrauen, dass der Fußgänger tatsächlich stehen bleiben würde. So ist es im innerstädtischen Bereich nicht ungewöhnlich, dass Fußgänger eine mehrspurige Fahrbahn dergestalt überqueren, dass sie zunächst die Fahrspuren der einen Fahrrichtung überqueren und in der Fahrbahnmitte warten, bis die Gegenfahrspur frei ist, um diese ebenfalls zu überqueren. Ein solches Verhalten alleine stellt noch keinen Anlass für Abbremsen, Hupen oder sonstige Maßnahmen dar, sofern sich der Fußgänger nicht auffällig verhält, etwa losläuft und wieder umkehrt, anderen Fußgängern nachrennt etc. Solches Verhalten konnte die Kammer in der Beweisaufnahme nicht feststellen. Zwar hätte der Beklagte abbremsen oder hupen müssen, wenn er den Fußgänger infolge dessen Alkoholisierung als Gefahr erkannt hätte. Die Alkoholisierung des Fußgängers, die offenbar Auslöser für dessen Fehlverhalten war, war für den Beklagten zu 1) aber nicht äußerlich ersichtlich. Erst im direkten Kontakt nach dem Unfall war Alkoholgeruch erkennbar. Ein Fehlverhalten des Beklagten zu 1) liegt zur Überzeugung der Kammer insoweit nicht vor. Insbesondere musste er nicht damit rechnen, dass der Fußgänger so knapp vor dem Omnibus die Fahrbahn überqueren würde, dass der Beklagte zu 1) einen Unfall nur noch mittels Vollbremsung vermeiden konnte.
Schließlich ist insoweit aus Sicht der Busfahrgäste zu beachten, dass gerade aufgrund Fehlverhaltens oder Rücksichtslosigkeit anderer Verkehrsteilnehmer jederzeit mit einer starken, auch einer Vollbremsung des Busses gerechnet werden muss. Eben dies ist Grund dafür, dass sich Fahrgäste zu jeder Zeit im Businneren einen sicheren Halt verschaffen müssen. Selbst wenn – wie dargelegt nicht – ein Fehlverhalten des Beklagten zu 1) im Zusammenhang mit dem Fußgänger vorläge, würde aus Sicht der Kammer das Fehlverhalten des sich nicht festhaltenden Geschädigten S2. so schwer wiegen, dass es selbst in diesem Fall nicht zu einer Haftung der Beklagten führen würde. Mithin war die Klage insgesamt abzuweisen.
II.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 ZPO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf § 709 S. 1 u. 2 ZPO, die Streitwertfestsetzung auf § 3 ZPO.


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