Verkehrsrecht

Wiedererteilung der Fahrerlaubnis – Verwertbarkeit eines (negativen) Fahreignungsgutachtens

Aktenzeichen  11 ZB 19.2357

Datum:
11.3.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 4532
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
StVG § 2 Abs. 9, § 65 Abs. 3 Nr. 2 S. 3
FeV § 14 Abs. 1 S. 1 Nr. 2, Abs. 2 Nr. 1

 

Leitsatz

1. Wenn eine Ordnungswidrigkeit im Zeitpunkt einer  Gutachtensanordnung im damaligen Verkehrszentralregister zu tilgen, die Tilgung jedoch wegen der Eintragung einer darauf beruhenden Fahrerlaubnisentziehung gehemmt war, kann eine Gutachtensanordnung auf beide Eintragungen gestützt werden. Selbst wenn die Gutachtensanordnung ggf. rechtswidrig gewesen ist, kann das vom Betroffenen vorgelegte Gutachten als neue Tatsache verwertet werden (vgl. BayVGH BeckRS 2018, 28753 Rn. 14 mwN).  (Rn. 14) (redaktioneller Leitsatz)
2. Der Verwertbarkeit eines (negativen) Fahreignungsgutachtens steht die spätere Tilgung einer Ordnungswidrigkeit aus dem Fahreignungsregister, die der Gutachtensanordnung neben der auf ihr beruhenden Fahrerlaubnisentziehung zugrunde lag, solange nicht entgegen, wie die von dem Gutachten nachträglich bestätigte und mit ihm im Zusammenhang stehende Fahrerlaubnisentziehung im Fahreignungsregister eingetragen ist. (Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

M 6 K 18.6290 2019-11-11 Urt VGMUENCHEN VG München

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Berufungszulassungsverfahrens.
III. Der Streitwert wird unter Abänderung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts vom 11. November 2019 für beide Rechtszüge auf jeweils 5.000,- Euro festgesetzt.
IV. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung der Prozessbevollmächtigten wird abgelehnt.

Gründe

I.
Der Kläger begehrt die Wiedererteilung der Fahrerlaubnis der Klassen A1 (79.03, 79.04), A (79.03, 79.04) und B sowie Prozesskostenhilfe und Beiordnung seiner Prozessbevollmächtigten für das Verfahren in zweiter Instanz.
Mit Bescheid vom 24. April 2012 hat ihm die Beklagte die Fahrerlaubnis entzogen. Zur Begründung führte sie aus, der Kläger habe am 19. August 2011, geahndet mit Bußgeldbescheid vom 19. Oktober 2011, rechtskräftig seit 9. Februar 2012, einmal unter dem Einfluss von Cannabis am Straßenverkehr teilgenommen und sei deshalb ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen. Der Kläger hat dagegen kein Rechtsmittel eingelegt.
Am 20. März 2014 beantragte der Kläger die Wiedererteilung der Fahrerlaubnis. Die Beklagte forderte ihn daraufhin am 12. Mai 2014 auf, binnen 13 Monaten ein medizinisch-psychologisches Gutachten vorzulegen. Das vorgelegte Gutachten der A. GmbH vom 27. Juni 2016 kommt zu dem Ergebnis, der Kläger sei ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen. Es sei zu erwarten, dass er Cannabis konsumiere, sodass dadurch die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen ausgeschlossen sei. Zwar habe er Drogenabstinenzbelege für 12 Monate beigebracht und angegeben, er habe letztmalig vor zwei Jahren Drogen konsumiert. Es bestünden jedoch erhebliche Mängel in der Aufarbeitung der Drogenproblematik. Eine positive Prognose sei nur möglich, wenn er einen konsequenten Drogenverzicht von ausreichender Dauer etabliert habe.
Mit Schreiben vom 25. Juli 2016 forderte die Beklagte den Kläger erneut auf, ein medizinisch-psychologisches Gutachten vorzulegen. Der Kläger entgegnete, die der Fahrerlaubnisentziehung zugrunde liegende Ordnungswidrigkeit sei am 9. Februar 2014 getilgt worden. Es sei nicht mehr zulässig, von ihm ein medizinisch-psychologisches Gutachten zu fordern. Das Gutachten aus dem Jahr 2016 stelle keine Tatsache dar, die Zweifel an seiner Fahreignung begründe.
Am 8. September 2017 ordnete die Beklagte erneut die Vorlage eines medizinisch-psychologischen Gutachtens an. Rechtsgrundlage sei § 14 Abs. 2 Nr. 1 FeV. Es sei u.a. zu klären, ob der Kläger trotz des gelegentlichen Cannabiskonsums sowie der bekannten Verkehrsteilnahme unter Cannabiseinfluss ein Kraftfahrzeug der Gruppe 1 sicher führen könne, ob insbesondere nicht (mehr) zu erwarten sei, dass er auch zukünftig ein Kraftfahrzeug unter Einfluss von Betäubungsmitteln oder deren Nachwirkungen führen werde, so dass dadurch die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen ausgeschlossen sei und ob das erforderlich Trennvermögen trotz weiteren Cannabiskonsums zuverlässig eingehalten werde oder ob eine Abstinenz erforderlich sei und diese auch eingehalten werde.
Da der Kläger sich weigerte, ein Gutachten vorzulegen, lehnte die Beklagte seinen Antrag auf Wiedererteilung der Fahrerlaubnis mit Bescheid vom 10. November 2017 ab. Ein Antrag nach § 123 VwGO beim Verwaltungsgericht München blieb erfolglos (B.v. 26.2.2018 – M 6 E 17.5921).
Den Widerspruch gegen den Bescheid vom 10. November 2017 wies die Regierung von Oberbayern mit Widerspruchsbescheid vom 20. Februar 2019 zurück.
Für die Klage gegen den Bescheid vom 10. November 2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 20. Februar 2019 hat das Verwaltungsgericht München dem Kläger mit Beschluss vom 11. November 2019 Prozesskostenhilfe bewilligt. Mit Urteil vom 11. November 2019 hat das Verwaltungsgericht die Klage abgewiesen. Zwar sei die Ordnungswidrigkeit schon lange getilgt. Die Entziehung der Fahrerlaubnis vom 24. April 2012 sei aber im Fahreignungsregister noch eingetragen. Deshalb dürfe auch das im Jahr 2016 vorgelegte medizinisch-psychologische Gutachten als neue Tatsache weiterhin verwertet werden, unabhängig davon, ob es zu Recht gefordert worden sei. Es sei noch nicht nach § 2 StVG aus den Akten zu entfernen. Daraus würden sich Fahreignungszweifel ergeben, die weiterhin aufzuklären seien. Der Kläger habe auch keinen Anspruch auf Erteilung einer Fahrerlaubnis ohne Vorlage eines Gutachtens, obwohl der Entziehungsbescheid vom 24. April 2012 rechtswidrig sei.
Dagegen wendet sich der Kläger mit seinem Antrag auf Zulassung der Berufung, dem die Beklagte entgegentritt. Der Kläger macht geltend, es bestünden ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils. Das Gutachten sei nicht verwertbar und müsse nach § 2 Abs. 9 StVG aus der Akte entfernt werden. Die Beklagte hätte in ihrer Entscheidung berücksichtigen müssen, dass der Entziehungsbescheid rechtswidrig und die Ordnungswidrigkeit getilgt sei.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten in beiden Instanzen und die vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.
II.
1. Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg. Aus der Antragsbegründung, auf die sich gemäß § 124a Abs. 5 Satz 2 VwGO die Prüfung im Zulassungsverfahren beschränkt (BayVerfGH, E.v. 14.2.2006 – Vf. 133-VI-04 – VerfGHE 59, 47/52; E.v. 23.9.2015 – Vf. 38-VI-14 – BayVBl 2016, 49 Rn. 52; Happ in Eyermann, VwGO, 15. Auflage 2019, § 124a Rn. 54), ergeben sich die geltend gemachten Zulassungsgründe nicht.
1. Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO liegen (nur) vor, wenn der Rechtsmittelführer einen tragenden Rechtssatz oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage stellt (stRspr, vgl. BVerfG, B.v. 9.6.2016 – 1 BvR 2453.12 – NVwZ 2016, 1243 Rn. 16; B.v. 18.6.2019 – 1 BvR 587.17 – DVBl 2019, 1400 Rn. 32 m.w.N.).
Soweit der Kläger geltend macht, das Gutachten aus dem Jahr 2016 sei nicht mehr verwertbar und müsse daher aus der Behördenakte entfernt werden, kann dies seinem Berufungszulassungsantrag nicht zum Erfolg verhelfen, denn das Gutachten ist nach § 2 Abs. 9 des Straßenverkehrsgesetzes vom 5. März 2003 (StVG, BGBl I S. 310), zuletzt geändert durch Gesetz vom 5. Dezember 2019 (BGBl I S. 2008), noch verwertbar.
Die Ordnungswidrigkeit vom 19. August 2011, rechtskräftig geahndet am 9. Februar 2012, war zum Zeitpunkt der Gutachtensanordnung vom 12. Mai 2014 nach den damals gültigen Vorschriften noch verwertbar. Zwar trifft es zu, dass Ordnungswidrigkeiten nach § 29 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1, Abs. 4 Nr. 3 StVG a.F. zwei Jahre nach Rechtskraft des Bußgeldbescheids zu tilgen waren. Die Tilgung war jedoch nach § 29 Abs. 6 Satz 1 StVG a.F. gehemmt, solange noch andere Eintragungen vorhanden waren. Dies war hier der Fall, da auch die Entziehung der Fahrerlaubnis vom 24. April 2012 nach § 28 Abs. 3 Nr. 6 StVG a.F. im damaligen Verkehrszentralregister einzutragen war. Die Gutachtensanordnung wurde auf diese Eintragungen gestützt und der Kläger hat das Gutachten auch beigebracht. Legt der Betreffende ein Gutachten vor, so kann dieses als neue Tatsache verwertet werden, selbst wenn die Gutachtensanordnung ggf. rechtswidrig gewesen ist (vgl. BayVGH, B.v. 7.11.2018 – 11 CS 18.435 – DAR 2019, 343 = juris Rn. 14 m.w.N.).
Es kann dabei offen bleiben, ob die Fahrerlaubnisentziehung vom 24. April 2012 rechtswidrig ist, weil eine Entziehung der Fahrerlaubnis bei erstmaligem Verstoß gegen das Trennungsgebot ohne weitere Aufklärung nicht zulässig ist (vgl. BVerwG, U.v. 11.4.2019 – 3 C 13.17 – Blutalkohol 56, 402 = juris Rn. 24 ff.), oder ob es sich bei dem Gutachten aus dem Jahr 2016 nur um eine nachträgliche Erkenntnis hinsichtlich der früheren Sachlage handelt, die bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Fahrerlaubnisentziehung heranzuziehen ist (vgl. Schenke, NVwZ 1986, 522, 529). Bei gebundenen Entscheidungen besteht regelmäßig kein Anspruch auf eine materiell richtige Begründung, sondern es kommt grundsätzlich nur auf die „Ergebnisrichtigkeit“ des Verwaltungsakts an (vgl. Riese in Schoch/Schneider/Bier, Verwaltungsgerichtsordnung, Stand Juli 2019, § 113 Rn. 34). Angesichts des vorgelegten negativen Gutachtens aus dem Jahr 2016, mit dem festgestellt wird, der Kläger habe bis zum Jahr 2014 Cannabis konsumiert und müsse Abstinenz einhalten, um fahrgeeignet zu sein, ist davon auszugehen, dass er auch im Jahr 2012 ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen war. Selbst wenn der Entziehungsbescheid rechtswidrig wäre, ist er bisher nicht nach Art. 48 BayVwVfG zurückgenommen worden und eine Rücknahme kommt auch nicht in Betracht, da im Rücknahmeermessen zu Lasten des Klägers zu berücksichtigen wäre, dass er nach dem Gutachten aus dem Jahr 2016 ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen war.
Dass die Ordnungswidrigkeit schon vor Erlass der Gutachtensanordnung am 12. Mai 2014 getilgt worden wäre, wenn es am 24. April 2012 nicht zur Entziehung der Fahrerlaubnis gekommen wäre, spielt daher keine Rolle.
Das Gutachten aus dem Jahr 2016 ist auch nicht deshalb nicht mehr verwertbar, weil die Ordnungswidrigkeit aus dem Jahr 2011 nunmehr nach der Übergangsregelung des § 65 Abs. 3 Nr. 2 Satz 3 StVG am 9. Februar 2017 aus dem Fahreignungsregister getilgt worden ist. Zwar sind nach § 2 Abs. 9 Satz 2 StVG Registerauskünfte, Führungszeugnisse, Gutachten und Gesundheitszeugnisse spätestens nach zehn Jahren zu vernichten, es sei denn, mit ihnen im Zusammenhang stehende Eintragungen im Fahreignungsregister oder im Zentralen Fahrerlaubnisregister sind nach den Bestimmungen für diese Register zu einem früheren oder späteren Zeitpunkt zu tilgen oder zu löschen. In diesem Fall ist nach § 2 Abs. 9 Satz 3 StVG für die Vernichtung oder Löschung der frühere oder spätere Zeitpunkt maßgeblich. Im vorliegenden Fall ist die Entziehung der Fahrerlaubnis vom 24. April 2012 weiterhin im Fahreignungsregister eingetragen und angesichts des Gutachtens aus dem Jahr 2016 materiell rechtmäßig. Das Gutachten steht mit der Fahrerlaubnisentziehung im Zusammenhang und ist daher nach § 2 Abs. 9 Satz 3 StVG noch verwertbar, solange die Entziehung im Fahreignungsregister eingetragen ist.
Soweit der Kläger auf die Entscheidung des Senats vom 24. November 2016 (11 CS 16.1795 – nicht veröffentlicht) verweist, sind die Fallkonstellationen nicht vergleichbar. Der dortige Kläger hatte kein negatives Gutachten vorgelegt, das weiterhin Berücksichtigung finden konnte, sondern weigerte sich im Entziehungsverfahren nach Tilgung der der Gutachtensanordnung zugrundeliegenden Ordnungswidrigkeit, das geforderte Gutachten vorzulegen.
Sollte der Kläger bereit sein, erneut eine Begutachtung durchführen zu lassen, ist bei der Formulierung der Frage und der Schilderung des Sachverhalts in einer neuen Gutachtensanordnung aber darauf zu achten, dass dabei nicht mehr verwertbare Umstände nicht erwähnt werden. Bei der Übersendung der Unterlagen an den Gutachter ist darüber hinaus sicherzustellen, dass nicht verwertbare Aktenbestandteile nach § 11 Abs. 6 Satz 4 FeV i.V.m. § 2 Abs. 9 und Abs. 12 Satz 2 StVG entfernt oder geschwärzt werden (vgl. BayVGH, B.v. 6.10.2016 – 11 CS 16.1523 – juris Rn. 23; OVG MV, B.v. 22.5.2013 – 1 M 23/12 – VRS 127, 269 = juris Rn. 25).
2. Die Berufung ist auch nicht wegen besonderer tatsächlicher oder rechtlicher Schwierigkeiten der Rechtssache (§ 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) zuzulassen. Dazu müsste das Verfahren das normale Maß erheblich übersteigende Schwierigkeiten aufweisen. Solche Schwierigkeiten werden mit der Antragsbegründung nicht aufgezeigt und liegen auch nicht vor.
3. Dem Kläger kann für das Verfahren in zweiter Instanz keine Prozesskostenhilfe bewilligt und seine Prozessbevollmächtigte beigeordnet werden, denn die Klage hat in der zweiten Instanz keine hinreichenden Aussichten auf Erfolg nach § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1, § 121 Abs. 1 ZPO (s.o. Nr. 1).
4. Als unterlegener Rechtsmittelführer hat der Kläger die Kosten des Verfahrens zu tragen (§ 154 Abs. 2 VwGO). Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47, § 52 Abs. 1 GKG und der Empfehlung in Nr. 46.3 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (abgedruckt in Kopp/Schenke, VwGO, 25. Aufl. 2019, Anh. § 164 Rn. 14). Die Fahrerlaubnisklassen A1 und A wirken sich nicht streitwerterhöhend aus, weil sie mit den Schlüsselzahlen 79.03 und 79.04 der Anlage 9 zur FeV (Abschnitt B.I. Nr. 126 und 127: Begrenzung auf dreirädrige Fahrzeuge und Fahrzeugkombinationen) eingeschränkt sind (vgl. BayVGH, B.v. 30.1.2014 – 11 CS 13.2324 – juris Rn. 21 ff.). Die Befugnis zur Änderung des Streitwertbeschlusses in der Rechtsmittelinstanz von Amts wegen folgt aus § 63 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 GKG.
5. Dieser Beschluss, mit dem die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig wird (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO), ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).


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