Aktenzeichen 10 U 726/16
VVG VVG § 115 Abs. 1 S. 1 Nr. 1
StVO StVO § 1 Abs. 2, § 3 Abs. 1 S. 4, § 9 Abs. 5
Leitsatz
Kommt es bei einem Verkehrsunfall zur Kollision zwischen einem Lastzug, der von einer Landstraße aus rückwärts über die Gegenfahrbahn in einen Feldweg einbiegt, ohne feststellbar das Warnblinklicht zu betätigen und ohne sonstige Sicherungsmaßnahmen vorzunehmen, mit einem Pkw, dessen Fahrer entweder gegen das Sichtfahrgebot verstößt oder dem ein deutlicher Reaktionsverzug zur Last fällt, rechtfertigen die beiderseitigen Mitverursachungsbeiträge eine hälftige Haftungsverteilung (Einzelfallentscheidung). (redaktioneller Leitsatz)
Verfahrensgang
82 O 728/15 2016-01-14 Endurteil LGLANDSHUT LG Landshut
Tenor
1. Auf die Berufung der Beklagten vom 17.02.2016 wird das Endurteil des LG Landshut vom 14.01.2016 (Az.: 82 O 728/15) abgeändert und wie folgt neugefasst:
I.
Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 5.095,19 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit 01.04.2015 sowie vorprozessuale Rechtsanwaltskosten in Höhe von 480,20 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit 01.04.2015 zu bezahlen.
II.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
III.
Die Kosten des Rechtsstreits (erster Instanz) werden gegeneinander aufgehoben.
2. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
3. Die Kosten des Berufungsverfahrens werden gegeneinander aufgehoben.
4. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
5. Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
A. Von einer Darstellung der tatsächlichen Feststellungen wird abgesehen (§§ 540 II, 313 a I 1 ZPO i. V. m. § 26 Nr. 8 EGZPO).
B. I. Die statthafte, sowie form- und fristgerecht eingelegte und begründete, somit zulässige Berufung der Beklagten hat in der Sache teilweise Erfolg.
1.) Der Kläger hat gegen die Beklagte Anspruch auf Zahlung von 5.095,19 € aus § 7 I StVG i. V. m. § 115 I 1 Nr. 1 VVG.
Entgegen der vom Landgericht angenommenen Verteilung haftet die Beklagte dem Grunde nach lediglich zu 50%, da sowohl der klägerischen Fahrerin wie dem Fahrer des bei der Beklagten versicherten Lkws auch im Lichte der Betriebsgefahren der beteiligten Fahrzeuge gleich schwerwiegende Verursachungsbeiträge zur Last liegen (§ 17 I, II StVG).
a) Der Fahrer des Beklagten-Lkws ist mit seinem Lkw und Anhänger von einer Landstraße aus im 90 Grad-Winkel über die Gegenfahrbahn hinweg in einen relativ engen Feldweg rückwärts eingebogen. Dabei hätte er gemäß § 9 V StVO jegliche Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausschließen müssen. Dies wäre auch nach den überzeugenden Bekundungen des Sachverständigen Dipl.-Ing. (FH) R. im Lichte der Dämmerung nur dadurch möglich gewesen, dass das Fahrmanöver durch Einschalten des Warnblinklichts und durch Aufstellen von Warndreiecken jeweils auf beiden Straßenseiten (oder durch das Aufstellen eines Warndreiecks auf einer Seite und Warnung seitens des Beifahrers auf der einen Straßenseite) abgesichert wird (§ 9 V 2. Hs StVO). Wie vom Landgericht zutreffend festgestellt, konnte die Beklagte eine Betätigung des Warnblinklichts nicht nachweisen. Unstreitig wurde kein Warndreieck aufgestellt. Dem zur Folge ergab sich für den Beklagten-Fahrer eine Vermeidbarkeit des streitgegenständlichen Verkehrsunfalls, indem er, wenn er schon nicht davon Abstand nahm, überhaupt dieses gefährliche Fahrmanöver durchzuführen, es zumindest nur mit entsprechender Absicherung gemacht hätte (vgl. S. 7 des Protokolls der Sitzung vom 07.10.2016 = Bl. 132 d. A.).
b) Entgegen der Auffassung des Erstgerichts ist der Beklagten aufgrund der in der Berufungsinstanz ergänzend durchgeführten Beweisaufnahme, insb. dem vom Senat erstmals erholten lichttechnischen Gutachten des Sachverständigen R., der Beklagten der Nachweis gelungen, dass auch der klägerischen Fahrerin ein wesentlicher Verursachungsbeitrag zur Last zu legen ist, nämlich entweder ein Verstoß gegen die Verpflichtung gem. § 3 I 4 StVO, nur so zu schnell zu fahren, dass innerhalb der übersehbaren Strecke gehalten werden kann (Sichtfahrgebot), oder ein deutlicher Reaktionsverzug, was einen Verstoß gegen § 1 II StVO darstellt. Jedenfalls hätte die klägerische Fahrerin bei Beachtung der erforderlichen Sorgfalt das rangierende Lkw-Gespann bei Einhaltung der Sichtgeschwindigkeit so frühzeitig erkennen können, dass ein Anhalten problemlos möglich gewesen wäre.
Unstreitig ereignete sich der Unfall gegen 07.25 Uhr (vgl. Protokoll vom 07.10.2016, S. 3 = 128 d. A.). Der Senat geht davon aus, dass mit dem Wort „gegen“ ein Spielraum von Plusminus fünf Minuten verbunden ist. Ausweislich der Ausführungen des o.g. Sachverständigen begann die sog. zivile Dämmerung am 20.01.2015 am Unfallort um 07.18 Uhr, verbunden mit einer Beleuchtungsstärke von 2 lux. Um 07.25 Uhr betrug die Beleuchtungsstärke dann 7 bis 10 lux. Die klägerische Fahrerin näherte sich mit Abblendlicht dem Unfallort an, wie sie glaubhaft bekundet hat. Die Sichtweite, bezogen auf dunkle Objekte, betrug für sie dabei gem. den Ausführungen des o.g. Sachverständigen um 07.25 Uhr ca. 45 bis 55 m, die Sichtgeschwindigkeit ca. 64 bis 89 km/h (letztere nur bei günstigsten Bedingungen; vgl. auch die Anlage A8 zum Protokoll der Sitzung vom 07.10.2016). Der Beklagten-Anhänger war insbesondere aufgrund der Ausrüstung der Rungen des Aufbaus mit retroreflektierendem Material selbst bei Dunkelheit deutlich erkennbar (vgl. auch die Lichtbilder gem. Anlage A5 zum Protokoll der Sitzung vom 07.10.2016).
Nicht sicher konnte die Ausgangsgeschwindigkeit des klägerischen Pkws geklärt werden. Die klägerische Fahrerin hat hierzu im Rahmen ihrer Zeugenvernehmung in der Sitzung vom 07.10.2016 bekundet, sie wisse nicht, wie schnell sie gefahren sei, sie sei an dem Morgen jedoch nie schneller als 80 km/h gewesen; nach der ersten Wahrnehmung des „entgegenkommenden“ Fahrzeugs habe sie die Geschwindigkeit verringert (vgl. S. 4/5 des Sitzungsprotokolls = Bl. 129/130 d. A.). Gem. den Berechnungen des o.g. Sachverständigen betrug die Kollisionsgeschwindigkeit des klägerischen Pkws ca. 50 bis 60 km/h. Sollte die klägerische Fahrerin noch gebremst haben, woran sie selbst sich allerdings nicht erinnern konnte, wie sie in ihrer o.g. Zeugenvernehmung bekundet hat (vgl. S. 4 des Sitzungsprotokolls = Bl. 129 d. A.), betrug ihre Ausgangsgeschwindigkeit, abermals gem. den Feststellungen des o.g. Sachverständigen, wahrscheinlich ca. 70 bis 80 km/h, anderenfalls ca. 50 bis 60 km/h.
Immer ist jedenfalls von einem erheblichen Verkehrsverstoß der klägerischen Fahrerin auszugehen:
(1) Geht man von einer Ausgangsgeschwindigkeit von 50 bis 60 km/h aus, so hätte die klägerische Fahrerin zwar nicht gegen das Sichtfahrgebot verstoßen. Sie hätte jedoch gem. den Berechnungen des Sachverständigen R. selbst bei einer verlängerten Reaktionszeit von 1,2 Sekunden bei einer Vollbremsung (7,5 bis 9,5 m/sec²) den Pkw nicht nur vor dem Anhänger, sondern sogar noch vor dem Lkw zum Stehen bringen können.
(2) Bei einer Ausgangsgeschwindigkeit von 89 km/h, welche der Sachverständige in technischer Sicht nicht ausschließen konnte, wäre gem. seinen Berechnungen zwar ein Reaktionsverzug nicht nachweisbar. In diesem Fall hätte sich jedoch aufgrund der Kollision gezeigt, dass die Geschwindigkeit nicht der tatsächlichen Sichtweite gerecht wurde.
(3) Selbst wenn – wie die Klageseite behauptet – unterstellt würde, der Unfall habe sich bei völliger Dunkelheit (also noch vor 07.18 Uhr, als die zivile Dämmerung einsetzte) ereignet, so läge der klägerischen Fahrerin gem. den Ausführungen des o.g. Sachverständigen ebenfalls in jedem Fall ein Reaktionsverzug und /oder Überschreiten der Sichtgeschwindigkeit zur Last (vgl. S. 9 des o.g. Sitzungsprotokolls = Bl. 134 d. A.).
c) Die abschließend gem. § 17 I, II StVG gebotene Abwägung der jeweiligen Verursachungsbeiträge führt zu dem Ergebnis einer hälftigen Haftungsverteilung: Beide Unfallgegner haben nicht nur objektive Verursachungsbeiträge geliefert, sondern haben dies auch jeweils schuldhaft (fahrlässig) getan. Grundsätzlich wiegen zwar Verstöße gegen § 9 V StVO, wie hier vom Beklagten-Fahrer begangen, regelmäßig schwerer als Verstöße des Unfallgegners gegen das Gebot des Fahrens auf Sicht bzw. des Fahrens mit der erforderlichen Aufmerksamkeit. Vorliegend erreicht aber das als besonders eklatant zu bezeichnende Versagen der klägerischen Fahrerin das Maß des auf Beklagtenseite vorliegenden Verschuldens. Zulasten der klägerischen Fahrerin spricht nämlich weiter, dass ihr entgegen ihrer Schilderung der Beklagten-Lkw tatsächlich nicht entgegengefahren ist. Vielmehr stand dieser bereits geraume Zeit vor dem Unfall bzw. rangierte rückwärts. Wie bereits der vom Erstgericht beauftragte Sachverständige Dipl.-Ing. (FH) H. überzeugend ausgeführt hat, hätte die klägerische Fahrerin erkennen können, dass ihr der Lkw nicht entgegenkam (vgl. S. 17 des entsprechenden Gutachtens = Bl. 61 d. A.). Darüber hinaus befand sich keineswegs nur der Anhänger, sondern auch der Beklagten-Lkw selbst, zum Unfallzeitpunkt auf der Gegenfahrbahn, und zwar ausweislich der Feststellungen des Sachverständigen R. mit der linken Fahrzeuglängsseite zu etwa 60 bis 70 cm, wobei es für die klägerische Fahrerin gem. den Ausführungen des Sachverständigen schon aus einer Entfernung von 100 bis 150 m erkennbar war, dass sich ein entgegenkommendes größeres Fahrzeug zum Teil auf ihrer Fahrbahnseite befindet. Nachdem die Breite des Fahrstreifens in Fahrtrichtung des klägerischen Pkws ohnehin nur ca. 2,50 m betrug (vgl. die Anlage A1 zum Protokoll der Sitzung vom 07.10.2016), verhielt es sich nicht etwa so, dass die klägerische Fahrerin den Lkw ohne weiteres hätte passieren können, hätte es den Anhänger nicht gegeben. Vielmehr musste sie nach rechts ausweichen und bei einer Breite des klägerischen Pkw von 1,71 m zuzüglich linker Außenspiegel (vgl. dazu auch S. 18 das o.g. Gutachtens des Sachverständigen H. = Bl. 62 d. A.) sogar etwas die Fahrbahn verlassen, was sie selbst im Rahmen ihrer o.g. Zeugenvernehmung als „Umschiffen“ bezeichnet hat (vgl. S. 4 des o.g. Sitzungsprotokolls = Bl. 129 d. A.). Auch diese räumlichen Verhältnisse hätten die klägerische Fahrerin dazu veranlassen müssen, bereits früher ihre Fahrweise dem erkennbaren Hindernis anzupassen, wodurch der Unfall für sie zu vermeiden gewesen wäre. Da der querstehende Lkw wegen der reflektierenden Rungen des Anhängers in der Dämmerung deutlich als solcher sichtbar war, hat sich die höhere Betriebsgefahr des Lkw-Gespanns beim Unfallgeschehen nicht zum Nachteil der Klageseite ausgewirkt.
2.) Bezüglich der Haftung der Beklagten der Höhe nach kann auf die – insoweit in der Berufung nicht angegriffenen – Ausführungen des Erstgerichts Bezug genommen werden.
3.) Der Kläger hat gegen die Beklagte weiterhin Anspruch auf Zahlung vorprozessualer Rechtsanwaltskosten in Höhe von 480,20 € (netto) aus § 7 I StVG i. V. m. § 115 I 1 Nr. 1 VVG. Dieser Anspruch berechnet sich aus einer 1,3 Geschäftsgebühr in Höhe von 460,20 € zuzüglich einer Nebenkostenpauschale in Höhe von 20,00 €. Umsatzsteuer, welche im Übrigen auch vom Kläger nicht in seiner Berechnung dieser Schadensposition berücksichtigt worden ist (vgl. S. 4 der Klageschrift = Bl. 4 d. A.), war nicht zu addieren, weil der Kläger als eingetragener Kaufmann zum Vorsteuerabzug berechtigt ist (vgl. auch Palandt/Grüneberg, BGB, 75. Aufl., § 249, Rdnr. 54).
4.) Der Zinsanspruch folgt aus §§ 286 I, 288 I BGB bzw. §§ 291, 288 I BGB.
II. Die Kostenentscheidungen beruhen jeweils auf § 92 I ZPO. Sie entsprechen dem jeweiligen teilweisen Obsiegen und teilweisen Unterliegen der Parteien, gemessen am jeweiligen Streitwert.
III. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Nr. 10 S. 1 ZPO, 711, 713 ZPO i. V. m. § 26 Nr. 8 EGZPO.
IV. Die Revision war nicht zuzulassen. Gründe, die die Zulassung der Revision gemäß § 543 II 1 ZPO rechtfertigen würden, sind nicht gegeben. Mit Rücksicht darauf, dass die Entscheidung einen Einzelfall betrifft, ohne von der höchst- oder obergerichtlichen Rechtsprechung abzuweichen, kommt der Rechtssache weder grundsätzliche Bedeutung zu, noch erfordern die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts.