Versicherungsrecht

Intransparenz von Klauseln einer Betriebsschließungsversicherung trotz Aufzählung meldepflichtiger Krankheiten

Aktenzeichen  12 O 11163/20

Datum:
30.3.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 5919
Gerichtsart:
LG
Gerichtsort:
München I
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:
IfSG § 6, § 7, § 28, § 32
BGB § 307 Abs. 1 S. 2
AVB-BSV § 2 Nr. 2

 

Leitsatz

1. Es ist zwar jeder Versicherung selbst überlassen, wie sie ihre vertraglichen Leistungen in den Versicherungsbedingungen beschreibt. Versicherungen sind auch nicht verpflichtet Betriebsschließungsversicherungen „dynamisch“ anzulegen oder Versicherungsschutz für Pandemien zu gewähren. Treu und Glauben gebieten jedoch, dass Klauseln in Allgemeinen Versicherungsbedingungen die wirtschaftlichen Nachteile und Belastungen so weit erkennen lassen, wie dies nach den Umständen gefordert werden kann.
2. Weder die Belehrungen nach § 42 IfSG noch nach § 4 Lebensmittelhygiene-Verordnung (LMHV) vermitteln den typischen Versicherungsnehmern einer solchen Versicherung Kenntnis über die in §§ 6 und 7 IfSG enthaltenen Bestimmungen. Daher kann entsprechendes Wissen auch nicht vorausgesetzt werden. Es kann zudem nicht erwartet werden, dass die Versicherungsnehmer den Text der Auflistung in den Versicherungsbedingungen Wort für Wort mit dem IfSG vergleichen, wobei sie sich den Text selbst besorgen müssen.
3. Den Versicherungsnehmern muss in den Bedingungen der Betriebsschließungsversicherungen deutlich gemacht werden, dass der Versicherungsschutz in Bezug auf Betriebsschließungen nach dem IfSG Lücken aufweist, um Ihnen die Möglichkeit zu geben, nach einem anderen Versicherungsprodukt zu suchen, den Versicherungsschutz entsprechend anzupassen oder anderweitig Vorsorge zu treffen. Dies wird in den vorliegenden Versicherungsbedingungen jedoch durch die gewählten Formulierungen nicht geleistet, weil die Lückenhaftigkeit verschleiert wird.
4. § 2 Nr. 2 der besonderen Bedingungen für die Betriebsschließungsversicherungen ist mithin gemäß § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB intransparent und damit unwirksam.
5. Wird während der Zeit der behördlich angeordneten Schließung der Präsenzgastronomie Außerhausverkauf betrieben, ist der Betrieb nicht geschlossen und es besteht kein Versicherungsschutz nach der Betriebsschließungsversicherung.
1. Eine Versicherungsbedingung, die im Falle einer Betriebsschließung wegen aufgezählter meldepflichtiger, im Infektionsschutzgesetz namentlich genannter, das Sars-Cov-2 Virus nicht umfassender Krankheiten Deckung verspricht, ist unwirksam.  (Rn. 32 – 36) (redaktioneller Leitsatz)
2. Ein Gastronomiebetrieb ist im Sinne der Betriebsschließungsversicherung nicht geschlossen, wenn er mit Außerhausverkäufen 50 bis 70 % des früheren Umsatzes erzielt. (Rn. 47 – 48) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Klägerin hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
3. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.
Der Streitwert wird bis zum 14.02.2021 auf 40.592,69 € und danach auf 57.179,11 € festgesetzt.

Gründe

Die zulässige Klage ist nicht begründet.
Das Coronavirus ist zwar von den Versicherungsbedingungen erfasst. Der Betrieb der Klägerin war aber nicht geschlossen. Die Klägerin hat während der Dauer der behördlich angeordneten Betriebsschließungen Umsatz durch Außerhausverkauf getätigt.
I.
1. Die Betriebsschließung wegen der Coronapandemie ist nach den Allgemeinen Versicherungsbedingungen der Beklagten vom Versicherungsumfang erfasst. Dies ergibt sich aus der Auslegung des Versicherungsscheins und der Versicherungsbedingungen der Beklagten.
a) Allgemeine Versicherungsbedingungen sind nach ständiger Rechtsprechung entsprechend der Verständnismöglichkeiten des durchschnittlichen Versicherungsnehmers ohne versicherungsrechtliche Spezialkenntnisse auszulegen, der die Allgemeinen Versicherungsbedingungen aufmerksam liest und vollständig unter Abwägung der Interessen der beteiligten Kreise und unter Berücksichtigung des erkennbaren Sinnzusammenhanges würdigt. Dabei kommt es auf den betreffenden Versicherungszweig an. Spricht der Versicherungsvertrag üblicherweise einen bestimmten Personenkreis an, so kommt es auf die Verständigungsmöglichkeiten und Interessen der Mitglieder dieses Personenkreises an. Maßgeblich für die Auslegung ist in erster Linie der Klauselwortlaut. Die vom Versicherer verfolgten Zwecke sind maßgeblich, sofern sie in den AVB Ausdruck gefunden haben, sodass sie dem aufmerksamen und verständigen Durchschnittsversicherungsnehmer erkennbar sind. Maßgeblich ist der Zeitpunkt des Vertragsschlusses. (BGH, Urteil vom 22.01.2020, Az: IV ZR 125/18, ständige Rechtsprechung).
b) Betriebsschließungsversicherungen werden von gewerblich tätigen Versicherungsnehmern abgeschlossen, insbesondere von Betrieben, die mit der Lebensmittelherstellung oder -verarbeitung zu tun haben, aber auch mit der Betreuung von Menschen (vgl. § 1 Abs. 2 Satz 2 IfSG). Bei solchen Unternehmen besteht die Gefahr, dass eine Behörde den Betrieb aufgrund von Vorschriften des IfSG schließt. Bei den Inhabern handelt es sich damit um geschäftserfahrene und gewerblich tätige Personen. Diese Personen sind gemäß §§ 43,42 IfSG zwar vom Gesundheitsamt bezüglich der Tätigkeitsverbote zu belehren, die bestehen, wenn diese Personen an bestimmten in § 42 IfSG aufgezählten Krankheiten oder Krankheitserregern leiden oder dessen verdächtig sind. In § 42 IfSG sind jedoch nicht alle Krankheiten und Krankheitserreger genannt, die in §§ 6 und 7 IfSG enthalten sind. Es gibt auch keine Auffangtatbestände. Auch die Hygieneanforderungen gemäß § 4 Lebensmittelhygiene-Verordnung (LMHV), die den in diesem Gewerbe tätigen Personen bekannt sein müssen, vermitteln ein derartiges Wissen nicht.
2. Für die Vertragsbestimmungen der Beklagten bedeutet dies Folgendes:
a) Der Versicherungsschein nimmt zunächst seinem Wortlaut nach auf die „meldepflichtigen Infektionskrankheiten oder Krankheitserreger nach dem Infektionsschutzgesetz“ Bezug, ohne eine Einschränkung gegenüber dem Geltungsbereich des Infektionsschutzgesetzes vorzunehmen. Darüber hinaus enthält der Versicherungsschein noch den nicht näher erläuterten Satz „Versicherte Gefahr gemäß Erläuterung: (BS)“. „BS“ ist nach der Legende im Versicherungsschein die Abkürzung für „Betriebsschließung“. Die Klägerin stellt infrage, ob die Beklagte nicht durch einen eindeutigeren Verweis auf ihre besonderen Bedingungen zur Betriebsschließungsversicherung hätte sicherstellen müssen, dass der Versicherungsnehmer realisiert, dass die Beklagte nur nach Maßgabe dieser Bedingungen, also nicht für jeden Fall der Betriebsschließungen nach dem IfSG einstehen möchte. Jedoch hat die Beklagte gemäß der Eingangsdefinition im Versicherungsschein den Bezug zu ihren besonderen Versicherungsbedingungen hergestellt, sodass der für sich genommen etwas unverständliche oben angegebene Satz für die Auslegung ohne Belang ist. Der verständige Versicherungsnehmer wird zur Beschreibung des Versicherungsumfangs im Detail auch die besonderen Versicherungsbedingungen zur Betriebsschließung zurate ziehen.
Nach § 2 Nr. 1 der besonderen Bedingungen leistet die Beklagte Entschädigung, „wenn die zuständige Behörde aufgrund des Gesetzes zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen beim Auftreten meldepflichtiger Krankheiten oder Krankheitserreger (siehe Nr. 2)“ den versicherten Betrieb schließt. In Nr. 2. heißt es dann, dass „meldepflichtigen Krankheiten und Krankheitserreger im Sinne dieser Zusatzbedingungen“ „die folgenden im Infektionsschutzgesetz in den §§ 6 und 7 namentlich genannten Krankheiten und Krankheitserreger“ sind.
Die Formulierung ist zwar etwas umständlich, weil sie suggeriert, dass es Krankheiten und Krankheitserreger gibt, die nach den Versicherungsbedingungen meldepflichtig seien, was tatsächlich nicht der Fall ist. Beim aufmerksamen Lesen wird dem Versicherungsnehmer einer solchen Versicherung jedoch deutlich gemacht, dass der Versicherungsschutz nur für die nachfolgend aufgelisteten Krankheiten und Krankheitserreger gelten soll. Damit kann man allein dem Wortlaut der Bestimmungen nicht entnehmen, dass das Coronavirus zu den versicherten Risiken gehört.
b) § 2 Nr. 2 besonderen Bedingungen für die Betriebsschließungsversicherung ist unter Berücksichtigung des § 2 Nr. 1 besonderen Bedingungen und der generellen Risikobeschreibung im Versicherungsschein jedoch intransparent und damit nach § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB unwirksam.
Allgemeine Versicherungsbedingungen sind so zu gestalten, dass die Rechte und Pflichten des Versicherungsnehmers möglichst klar und durchschaubar dargestellt werden. Dabei kommt es nicht nur darauf an, dass die Klausel in ihrer Formulierung für den durchschnittlichen Versicherungsnehmer verständlich ist. Vielmehr gebieten Treu und Glauben auch, dass die Klauseln die wirtschaftlichen Nachteile und Belastungen so weit erkennen lassen, wie dies nach den Umständen gefordert werden kann (st. Rspr., z.B.: BGH, Urteil vom 09.05.2001, Az.: IV ZR 121/00; Palandt, 79. Aufl., § 307 BGB Rn. 21 m.w.N.). Wird der Versicherungsschutz durch eine AVB-Klausel eingeschränkt, so muss dem Versicherungsnehmer klar und deutlich vor Augen geführt werden, in welchem Umfang Versicherungsschutz trotz der Klausel besteht (BGH, r + s 2013, 601 Rn. 9; r + s 2013, 382 Rn. 40, 41; r + s 2001, 124). Der durchschnittliche Versicherungsnehmer braucht nicht mit Lücken im Versicherungsschutz zu rechnen, ohne dass die Versicherungsbedingungen ihm dies hinreichend verdeutlichen (BGH, Urteil vom 10.04.2019, Az.: IV ZR 59/18, Quelle: juris, Rn. 21).
Diese Verpflichtung der Versicherung nach der Rechtsprechung des BGH wurde von der Beklagten hier nicht genügend beachtet:
aa) Dem Versicherungsnehmer wird hier Ertragsausfallersatz bei Betriebsschließungen nach dem IfSG versprochen. Auf die Vorschriften des IfSG wird schon im Versicherungsschein Bezug genommen. Auch § 2 Nr. 1 der besonderen Bedingungen enthält keine diesbezügliche Einschränkung mit Ausnahme der Verweisung auf Nr. 2. In dieser Bestimmung wird auf die „in den §§ 6 und 7 namentlich genannten Krankheiten und Krankheitserreger“ Bezug genommen, ohne darauf hinzuweisen, dass in §§ 6 und 7 IfSG noch weitere Tatbestände genannt sind, die in der nachfolgenden Aufzählung nicht enthalten sind. Dem Text der AVB ist nicht zu entnehmen, dass sich die Auflistung der Krankheiten und Krankheitserreger sich nicht mit dem Inhalt des §§ 6 und 7 IfSG deckt. Denn es fehlen die im IfSG enthaltenen Öffnungsklauseln oder Auffangtatbestände, nach denen „das Auftreten bedrohlicher übertragbaren Erkrankungen“ (§ 6 Nr. 5 IfSG) oder eines Krankheitserregers, mit Hinweis „auf eine schwerwiegende Gefahr für die Allgemeinheit“ (§ 7 Abs. 2 IfSG) ebenfalls namentlich (d. h. mit dem Namen der betroffenen Person, § 9 IfSG) zu melden sind. Diese Öffnungsklauseln ermöglichen es den Behörden auch bei neu auftretenden bedrohlichen Krankheiten und Erregern den Betrieb zu schließen, auch wenn sie (die Krankheit oder der Erreger) noch nicht namentlich in §§ 6 und 7 IfSG aufgelistet ist. Dies ist eine wirtschaftlich bedeutsame Regelung, deren Fehlen in der Aufzählung in § 2 Nr. 2 der besonderen Bedingungen dem Versicherungsnehmer beim Studium der AVB verborgen bleibt. Die Auflistung der Krankheiten und Krankheitserreger wurde seit Einführung des IfSG am 01.01.2001 mehrfach geändert. Auslöser waren jeweils neu aufgetretene Krankheiten und Krankheitserreger, wegen derer die Gesundheitsbehörden bereits vorher nach diesen Öffnungsklauseln Maßnahmen nach dem IfSG ergreifen konnten. Von einer vollständigen und redlichen Information des Versicherungsnehmers durch die AVB kann damit nicht die Rede sein.
bb) Von dem typischen Versicherungsnehmer einer solchen Versicherung kann auch nicht erwartet werden, dass er den Text der Auflistung Wort für Wort mit dem IfSG vergleicht, wobei er sich den Text noch selbst besorgen muss (BGH, Urteil vom 27.01.2010, Az: IV ZR 50/09, Quelle: juris Rn. 13). Wie oben angegeben, ist Gastwirten auch kraft ihrer Hygienefortbildungen nach § 42 IfSG oder der Lebensmittelhygiene-Verordnung der hier maßgebliche Inhalt des Infektionsschutzgesetzes gerade nicht bekannt. Eine Klausel, die nur durch den Vergleich mit einer gesetzlichen Vorschrift in ihrer Tragweite erkennbar ist, die aber dem durchschnittlichen Versicherungsnehmer dieser Versicherung nicht bekannt ist, ist intransparent (Schleswig-Holsteinisches Oberlandesgericht, Urteil vom 27.03.1995, Az: 4 RE-Miet 1/93; Quelle: juris, Rn. 18; so auch angedeutet in BGH, Urteil vom 21.07.2010, AZ: XII ZR 189/08, Quelle: juris Rn. 29 ff.). Die wahre Bedeutung der Aufzählung wird in § 2 der besonderen Bedingungen geradezu versteckt. Auch dies ist ein Verstoß gegen das Transparenzgebot (OLG München, Urteil vom 08.08.2008, Az 25 U 5188/07; Quelle: juris, Rn. 32). Der Versicherungsnehmer kann den Wortlaut des § 2 Nr. 2 der besonderen Bedingungen mangels Kenntnis des Infektionsschutzgesetzes nämlich durchaus auch so verstehen, dass darin die §§ 6 und 7 IfSG vollständig zitiert und wiedergegeben werden.
cc) Es ist zwar jeder Versicherung selbst überlassen, wie sie ihre vertraglichen Leistungen in den Versicherungsbedingungen beschreibt. Es ist insbesnodere auch in anderen Versicherungszweigen üblich und anerkannt, dass einleitend in den Versicherungsbestimmungen die den Versicherungsfall verursachenden Ereignisse plakativ benannt und in weiteren Bestimmungen näher definiert werden. Derartiges findet sich z. B. in der Wohngebäudeversicherung, in der die versicherten Gefahren zunächst kurz benannt („Sturm “) und in den nachfolgenden Bestimmungen der Umfang des Versicherungsschutzes näher definiert wird (“wetterbedingte Luftbewegung von mindestens Windstärke 8 nach Beaufort, …“). Diesen anderen Versicherungswerken ist gemeinsam, dass in der Einleitung überwiegend Begriffe aus der Alltagssprache verwendet werden, die eine gewisse Unschärfe beinhalten, sodass eine nähere Definition des Inhalts des Versicherungsumfangs erforderlich ist. Wo das legalerweise nicht der Fall ist, scheitert eine nähere Definition an der Zumutbarkeit, sodass der Verweis auf eine komplexe Gesetzeslage aus diesem Grund zulässig ist. Jedoch muss der Verwender zwischen mehreren möglichen Klauselfassungen diejenige wählen, bei der die kundenbelastende Wirkung einer Regelung nicht unterdrückt, sondern deutlich gemacht wird (vgl. dazu: BGH Urteil vom 10.07.1990, Az: XI ZR 275/89, Quelle: juris Rn. 18 und BGH Urteil vom 07.02.2019, Az: III ZR 38/18; Quelle: juris, Rn. 22 ff). Der Inhalt des Infektionsschutzgesetzes ist im Infektionsschutzgesetz selbst exakt definiert. Wenn nicht alles versichert werden soll, was sich aus dem Infektionsschutzgesetz ergibt, kann dies in einfachen und klaren Worten zum Ausdruck gebracht werden, zum Beispiel durch eine Negativliste oder durch Hinzusetzen eindeutig einschränkender Formulierungen. Eine klarere Ausdrucksweise ist demnach möglich und zumutbar.
dd) Es wird darauf hingewiesen, dass hier nicht die Auffassung vertreten wird, dass Betriebsschließungsversicherungen „dynamische“ Versicherungen seien, bzw. sein müssten, weil sich der Inhalt des Infektionsschutzgesetzes fortlaufend ändert oder dass Versicherungen verpflichtet seien, auch bei Pandemien Versicherungsschutz zu gewähren. Das ist nicht so. Den Versicherungsnehmern muss in den Bedingungen der Versicherungen jedoch deutlich gemacht werden, dass in Bezug auf Betriebsschließungen nach dem IfSG der Versicherungsschutz Lücken aufweist, um ihnen die Möglichkeit zu geben, nach einem anderen Versicherungsprodukt zu suchen, den Versicherungsschutz entsprechend anzupassen oder anderweitig Vorsorge zu treffen. Genau dies wird in den vorliegenden Versicherungsbedingungen jedoch durch die gewählten Formulierungen nicht geleistet, weil die Lückenhaftigkeit verschleiert wird.
ee) Zwar sind bei der Auslegung von Versicherungsbedingungen auch die wirtschaftlichen Belange der Versicherung und der vom Versicherer verfolgte Zweck zu berücksichtigen, dies jedoch nur, wenn dies in den Allgemeinen Versicherungsbedingungen Ausdruck gefunden hat. Die Beklagte beruft sich darauf, dass die regelmäßig vereinbarte Jahresprämie im Verhältnis zur Versicherungsleistung sehr gering sei, sodass der Versicherungsnehmer habe erkennen können, dass der Versicherungsschutz nicht bestehe, wenn nicht sein eigener Betrieb betroffen ist. Jedoch ist zu berücksichtigen, dass das Auftreten derart ansteckender Erreger wie das Coronavirus äußerst selten ist. Ein Versicherungsnehmer, der sich über die Relation zwischen Versicherungsbeitrag und Versicherungssumme Gedanken macht, wird davon ausgehen, dass Versicherungsmathematiker das Risiko kalkuliert haben. Auf der anderen Seite ist für die Beklagte offensichtlich, dass es für einen von einer Schließung nach dem IfSG betroffenen Betrieb keinen Unterschied macht, ob die Ursache der Maßnahme in seinem Betrieb selbst liegt oder nicht.
ff) Ebenso wird bezweifelt, dass die von der Beklagtenseite zitierten vielen Entscheidungen für die gegenteilige Auffassung tatsächlich die herrschende Meinung in der Rechtsprechung wiedergeben. Jedenfalls wurden hier von den bisher bei der 12. Zivilkammer des Landgerichts München I eingegangenen 88 Verfahren zu diesem Themenkomplex bisher nur drei durch Endurteil entschieden. Alle übrigen Verfahren endeten mit Klagerücknahme nach vergleichsweise Einigung der Parteien oder wurden auf Antrag der beklagten Versicherungen an die Kammern für Handelssachen abgegeben.
Es bleibt festzuhalten, dass § 2 Nr. 2 (08) wegen Intransparenz unwirksam ist. Der Versicherungsschutz bestimmt sich demnach allein nach § 2 Nr. 1 a) (08). Dieser verweist auf das IfSG generell, ohne eine bestimmte Gesetzesfassung zur Grundlage des Versicherungsschutzes zu machen.
2. Die übrigen Voraussetzungen für eine Entschädigungspflicht durch die Beklagte für die Betriebsschließungen im ab März bzw. ab November 2020 liegen hier vor, mit Ausnahme der vollständigen Schließung.
a) Die Schließung der Präsenzgastronomie wurde von dem zuständigen Bayerischen Staatsministeriums für Gesundheit und Pflege gemäß §§ 28 Abs. 1, 32 Satz 1 IfSG in Verbindung mit § 65 Satz 2 Nr. 2 BayZustV bzw. § § 6, 7 IfSG und Art. 3 Abs. 1 Nr. 1 GDVG angeordnet. Die Betriebsschließung beruhte zunächst auf der Allgemeinverfügung des Bayerischen Staatsministeriums für Gesundheit und Pflege vom 20.03.2020, später auf der Verordnung vom 24.03.2020, welche im Folgenden durch weitere Verordnungen aufrechterhalten wurde und im Herbst auf der Verordnung vom 30.10.2020 bzw. der Verordnung vom 30.11.2020.
Nach dem Text der Versicherungsbedingungen kommt es nicht darauf an, in welcher Rechtsform die Anordnung der Schließung vorgenommen wird oder ob sie rechtmäßig war. Der Versicherungsnehmer muss sich – wie jeder andere – grundsätzlich an Gesetze und Verordnungen halten. Diese sind selbst im Falle von Mängeln oder bei Rechtswidrigkeit nicht automatisch unwirksam und damit grundsätzlich zu befolgen. Es ist dem Versicherungsnehmer im Regelfall auch nicht zumutbar, vor der Geltendmachung von Versicherungsleistungen zur Schadensminderung vor den Verwaltungsgerichten gegen eine behördliche Anordnung vorzugehen.
b) Die Anordnung erging auch aufgrund des Infektionsschutzgesetzes Die Maßnahme wurde in der Allgemeinverfügung und den nachfolgenden Verordnungen auf Vorschriften des IfSG gestützt, konkret auf § 28 bzw. § 32 IfSG i.V.m. der Verordnung des Bundesministeriums für Gesundheit vom 30.01.2020, mit der die Meldepflicht nach § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und § 7 Abs. 1 Satz 1 des IfSG auf das neuartige Coronavirus ausgedehnt wurde. Nach dem Bayerischen Verwaltungsgericht München, (Beschluss vom 20.03.2020, Az.: M 26 E 20.1209) und Bayerischen Verwaltungsgerichtshof (Beschluss vom 30.03.2020, Az.: 20 NE 20.632) ist § 32 IfSG die richtige Rechtsgrundlage.
c) Die Anordnung richtete sich auch gegen den Betrieb der Klägerin.
Nach dem Wortlaut der Bedingungen ist nicht erforderlich, dass der Betrieb selbst betroffen sein muss. Die Maßnahme muss lediglich aufgrund des Infektionsschutzgesetzes erlassen worden sein.
Etwas anderes ergibt sich auch nicht daraus, dass die übrigen Bestimmungen in den Allgemeinen Versicherungsbedingungen der Beklagten Bezug auf den versicherten Betrieb nehmen (Tätigkeitsverbote für sämtliche Betriebsangehörige, Desinfektion der Betriebsräume, Verwertung oder Vernichtung von Vorräten und Waren, Beschäftigungsverbote für Mitarbeiter oder Einleitung von Ermittlungsverfahren nach dem IfSG, usw.). Denn diese Versicherungsgegenstände werden neben der Betriebsschließung als eigener Versicherungsgegenstand genannt.
3. Der Betrieb war der Klägerin war jedoch nicht geschlossen.
In der mündlichen Verhandlung vom 21.01.2021 erklärte der Geschäftsführer der Klägerin, dass er ab dem 21.03.2020 in kürzester Zeit einen Außerhausverkauf installiert habe, nämlich schon ab dem 22.03.2020. Demzufolge hätte er im März 2020 50% des Umsatzes des Vorjahres erzielt und im April 70%. Auch aus den von der Klagepartei übergebenen Erfassungsberichten für die Monate März und April 2020 ist ersichtlich, dass in der fraglichen Zeit ein entsprechender Umsatz getätigt wurde. Für den Zeitraum ab November 2021 ergibt sich dasselbe aus den betriebswirtschaftlichen Auswertungen, die für das gesamte Jahr 2020 vorgelegt wurden.
Damit lag nach den vorliegenden Umständen des Einzelfalls gerade keine Betriebsschließung, sondern nur eine Betriebseinschränkung vor. Es kommt nicht darauf an, dass die Klägerin vor den entsprechenden behördlichen Anordnungen nahezu keinen Gewinn durch Außerhausverkauf erzielte, denn aufgrund der Anordnungen stellte sie ihren Geschäftsbetrieb um, was dem ersten Anschein nach belegt, dass sie es unter wirtschaftlichen Aspekten konnte. Der Betrieb war mithin nicht geschlossen.
Damit stehen der Klägerin letztendlich keine Ansprüche aus den behördlichen Anordnungen im Frühjahr und Herbst 2020 zu. Auf die Bewertung der vorgelegten Beweise zum Ertragsausfall kommt es nicht an. (Maßgeblich wäre der tatsächlich in den entsprechenden Monaten erzielte Gewinn oder verbliebene Verlust gewesen, in Relation zu dem Gewinn vergleichbarer Monate in den Vorjahren, wobei betriebswirtschaftliche Auswertungen einen Sachvortrag hierzu grundsätzlich nicht vollständig ersetzen können.)
4. Aus dem Vorgenannten ergibt sich, dass die Beklagte auch nicht mit geschuldeten Leistungen in Verzug war, sodass die Klägerin auch keine Zinsen und Rechtsanwaltskosten geltend machen kann.
Die Klage war letztendlich insgesamt abzuweisen.
II.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 ZPO.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar gemäß § 709 ZPO.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 3 ZPO, §§ 43, 48 GKG.


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