Versicherungsrecht

Wahrung rechtlichen Gehörs bei Erhebung von Einwendungen gegen ein schriftliches Sachverständigengutachten

Aktenzeichen  8 U 2845/20

Datum:
22.2.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 2223
Gerichtsart:
OLG
Gerichtsort:
Nürnberg
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:
ZPO § 411 Abs. 4 S. 2, § 538 Abs. 2 S. 1 Nr. 1
VVG § 172 Abs. 3
GG Art. 103 Abs. 1
BB-BUZ § 2 Abs. 1, Abs. 4

 

Leitsatz

Hat eine Partei fristgerecht Einwendungen und Fragen zu einem schriftlichen Sachverständigengutachten geäußert, ohne die Ladung des Sachverständigen zu beantragen, muss sich das Gericht hiermit auseinandersetzen und deutlich machen, warum es den Einwendungen und Fragen nicht nachgegangen ist. Anderenfalls wird der Anspruch der Partei auf rechtliches Gehör verletzt und es liegt ein wesentlicher Verfahrensmangel im Sinne des § 538 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO vor.   (Rn. 25 – 26)
Wendet ein berufsunfähiger Versicherungsnehmer zu von dem Versicherer aufgezeigte Verweisungsstellen ein, die Entfernung und das erzielbare Einkommen seien nicht zumutbar, muss ein von ihm angebotener berufskundlicher Beweis erhoben werden.  (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

31 O 1774/17 2020-08-05 Urt LGREGENSBURG LG Regensburg

Tenor

1. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Landgerichts Regensburg vom 05.08.2020, Az. 31 O 1774/17, aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Berufung, an das Landgericht zurückverwiesen.
2. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Parteien dürfen die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des auf Grund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die jeweils andere Partei vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Beschluss
Der Streitwert wird für das Berufungsverfahren auf 116.164,95 € festgesetzt.

Gründe

I.
Die Parteien streiten über Leistungen aus einer Berufsunfähigkeits-Zusatzversicherung, die der Kläger seit August 1995 bei der Beklagten unterhält (Anlage K 1) und die im Falle einer mindestens 50%-igen Berufsunfähigkeit die Zahlung einer monatlichen Rente nebst Überschussbeteiligung von 1.510,59 € bis längstens Juli 2029 sowie die Befreiung von der Beitragszahlungspflicht für Haupt- und Zusatzversicherung bis längsten Juli 2034 vorsieht (Anlage K 2). Dem Vertrag liegen die Versicherungsbedingungen der Beklagten für die Berufsunfähigkeits-Zusatzversicherung (im Folgenden: BB-BUZ; Anlage K 3) zugrunde. Die Prämie für Haupt- und Zusatzversicherung beträgt seit 01.08.2015 monatlich 172,96 €.
Der Kläger macht geltend, er sei seit August 2015 in seiner bislang ausgeübten Vollzeittätigkeit als Postzusteller bedingungsgemäß berufsunfähig. Er leide an einer verminderten Belastbarkeit der Hüfte, einem rezidivierenden LWS-Syndrom, Sensibilitätsstörungen in der linken Hand, zunehmender nervlicher Erschöpfung sowie Magen-Darm-Beschwerden.
Die Beklagte lehnte eine Leistungspflicht mit Schreiben vom 30.11.2015 ab (Anlage K 5).
Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird ergänzend auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils Bezug genommen.
Der Kläger hat in erster Instanz beantragt,
1. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 45.455,85 € zu bezahlen nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus 6.734,20 € seit 30.11.2015,
aus 1.683,55 € seit 02.12.2015,
aus 1.683,55 € seit 02.01.2016,
aus 1.683,55 € seit 02.02.2016,
aus 1.683,55 € seit 02.03.2016,
aus 1.683,55 € seit 02.04.2016,
aus 1.683,55 € seit 02.05.2016,
aus 1.683,55 € seit 02.06.2016,
aus 1.683,55 € seit 02.07.2016,
aus 1.683,55 € seit 02.08.2016,
aus 1.683,55 € seit 02.09.2016,
aus 1.683,55 € seit 02.10.2016,
aus 1.683,55 € seit 02.11.2016,
aus 1.683,55 € seit 02.12.2016,
aus 1.683,55 € seit 02.01.2017,
aus 1.683,55 € seit 02.02.2017,
aus 1.683,55 € seit 02.03.2017,
aus 1.683,55 € seit 02.04.2017,
aus 1.683,55 € seit 02.05.2017,
aus 1.683,55 € seit 02.06.2017,
aus 1.683,55 € seit 02.07.2017,
aus 1.683,55 € seit 02.08.2017,
aus 1.683,55 € seit 02.09.2017,
aus 1.683,55 € seit 02.10.2017.
Für die nach Klageerhebung fällig gewordene Versicherungsleistung schuldet die Beklagte ab dem 2. eines jeweiligen Monats Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz.
2. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger monatlich 1.510,59 € zu bezahlen, bis längstens 31.07.2029, und ihn von der Beitragszahlungspflicht vom Versicherungsvertrag mit der Nr. … freizustellen, bis längstens 31.07.2034.
3. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger außergerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von 2.085,95 € zu bezahlen nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Das Landgericht hat die Klage nach Beweisaufnahme mit Endurteil vom 05.08.2020 vollständig abgewiesen. Es hat dabei im Wesentlichen darauf abgestellt, dass der Kläger in seiner bislang ausgeübten Tätigkeit als Postzusteller zwar berufsunfähig sei, da er insbesondere schwere Gegenstände nicht mehr heben und tragen könne. Der Kläger müsse sich jedoch gemäß § 2 Abs. 1 und 4 BB-BUZ auf eine andere Tätigkeit verweisen lassen. Es sei ihm möglich und zumutbar, eine Tätigkeit als Mitarbeiter in der Poststelle einer öffentlichen Behörde auszuüben. Dass hierfür ein Arbeitsmarkt existiert, habe die Beklagte ausreichend dargelegt. Die Verweisungstätigkeit sei weder mit einer Einkommenseinbuße noch mit einer geringeren sozialen Wertschätzung verbunden.
Dieses Urteil wurde den Prozessbevollmächtigten des Klägers am 11.08.2020 zugestellt. Die hiergegen gerichtete Berufung ging am 19.08.2020 beim Oberlandesgericht Nürnberg ein. Das Rechtsmittel wurde innerhalb verlängerter Frist mit einem am 13.11.2020 eingegangenen Schriftsatz begründet.
Der Kläger macht in zweiter Instanz insbesondere geltend, das Landgericht habe den Sachvortrag und die Beweisangebote des Klägers übergangen. Stattdessen habe es den unsubstantiierten und bestrittenen Vortrag der Beklagten, wonach im Verweisungsberuf die Lebensstellung gewahrt werde und ein zumutbares Einkommen erzielt werden könne, zur Grundlage seiner Entscheidung gemacht. Durch eine Beweisaufnahme wäre hingegen festgestellt worden, dass ein die Lebensstellung des Klägers wahrendes Nettoeinkommen im Verweisungsberuf nicht zu erzielen sei.
Der Kläger beantragt im Berufungsrechtszug,
das Urteil des Landgerichts Regensburg vom 05.08.2020, Az.: 31 O 1774/17, abzuändern und nach den in erster Instanz gestellten Klageanträgen zu erkennen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie verteidigt das angefochtene Urteil mit ihrer Erwiderung vom 15.12.2020 (Bl. 278 ff. d.A.).
Mit Schriftsatz vom 05.01.2021 hat der Kläger außerdem beantragt, die Sache an das Landgericht Regensburg zurückzuverweisen (Bl. 289 d.A.).
Nach Zustimmung der Parteien hat der Senat mit Beschluss vom 11.01.2021 angeordnet, dass eine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung im schriftlichen Verfahren ergeht (Bl. 292 d.A.).
II.
Die zulässige Berufung des Klägers hat vorläufigen Erfolg. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Landgericht.
1. Das Urteil beruht auf einem entscheidungserheblichen Rechtsfehler (§ 513 Abs. 1 ZPO). Infolgedessen bestehen durchgreifende Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der in erster Instanz getroffenen Feststellungen, welche eine ergänzende Beweisaufnahme gebieten (§ 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO).
Denn das Landgericht hat maßgeblichen Sachvortrag und Beweisanträge des Klägers entweder übergangen oder für unerheblich gehalten, ohne die hierfür ausschlaggebenden Aspekte in den Entscheidungsgründen seines Urteils oder an anderer Stelle darzulegen. Beides stellt eine Verletzung des klägerischen Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) und damit einen Verfahrensfehler dar (vgl. hierzu bspw. BGH, Beschluss vom 07.07.2020 – VI ZR 212/19, juris Rn. 10 m.w.N.).
a) Das Landgericht hat nach Zeugeneinvernahme und Einholung mehrerer schriftlicher Gutachten des Sachverständigen Dr. D. festgestellt, dass der Kläger infolge ärztlich nachgewiesener Krankheit voraussichtlich dauerhaft zu mindestens 50% außerstande sei, seinen versicherten Beruf als Postzusteller auszuüben (LGU 6-8). Diese Feststellungen greift keine der Parteien im Berufungsrechtszug an und sie begegnen im Übrigen auch keinen Bedenken. Die körperlich-medizinischen Voraussetzungen der §§ 1 Abs. 1, 2 Abs. 1 BB-BUZ stehen damit bindend fest (§ 318 ZPO).
b) Die Parteien haben in § 2 Abs. 1 und 4 BB-BUZ allerdings die Möglichkeit der abstrakten Verweisung vereinbart. Bedingungsgemäße Berufsunfähigkeit liegt demnach nur dann vor, wenn der Versicherungsnehmer auch keine andere Tätigkeit ausüben kann, zu der er aufgrund seiner Kenntnisse und Fähigkeiten in der Lage ist und die seiner bisherigen Lebensstellung entspricht (vgl. auch § 172 Abs. 3 VVG).
aa) Der Beweis dieser weiteren Anspruchsvoraussetzung obliegt nach allgemeinen Grundsätzen dem Kläger als Versicherungsnehmer (vgl. BeckOK-VVG/Mangen, § 172 Rn. 93 [Stand: 09.11. 2020]). Jedoch traf zunächst die Beklagte als Versicherer eine sekundäre Darlegungslast (sog. Aufzeigelast). Sie hatte daher mögliche Vergleichsberufe, auf die sie den Kläger verweisen will, bezüglich der sie jeweils prägenden Merkmale (insbes. erforderliche Vorbildung, übliche Arbeitsbedingungen, etwaig erforderliche Fähigkeiten oder körperliche Kräfte und übliche Entlohnung) näher zu konkretisieren (vgl. BGH, Urteil vom 29.06.1994 – IV ZR 120/93, NJW-RR 1995, 21; Senatsurteil vom 26.02.2015 – 8 U 266/13, NJW-RR 2015, 869 Rn. 22). Sodann hatte der Kläger vorzutragen und zu beweisen, dass er nicht auf eine derartige Tätigkeit verwiesen werden kann.
bb) Die Beklagte ist ihrer sekundären Darlegungslast mit Schriftsatz vom 17.03.2019 nachgekommen. Hierzu hatte der Kläger mit Schriftsatz vom 11.04.2019 Stellung genommen und – wenn auch unter insoweit fehlerhafter Verwahrung gegen die Beweislast – Beweis angetreten, namentlich durch Einholung eines Sachverständigengutachtens.
Dem ist die Vorinstanz mit Beweisbeschluss vom 16.05.2019 nachgegangen und hat ein schriftliches Gutachten der Sachverständigen H. in Auftrag gegeben. Zu dem am 22.08.2019 erstatteten Gutachten hat der Kläger innerhalb der gemäß § 411 Abs. 4 Satz 2 ZPO vom Landgericht gesetzten und sodann antragsgemäß verlängerten Frist mit Schriftsatz vom 26.09.2019 Stellung genommen. Darin hat er unter Vorlage von Bezügemitteilungen (Anlagen K 30 und K 31) zu seinem in gesunden Tagen zuletzt erzielten Einkommen vorgetragen sowie konkrete Vorhalte und Fragen an die Sachverständige H. formuliert.
Es folgte die Terminsverfügung des Landgerichts vom 14.10.2019, in der allerdings keine sonstigen Bestimmungen enthalten waren, namentlich nicht die Ladung der Sachverständigen angeordnet worden ist. In dem Termin vom 05.02.2020 hat das Landgericht zwar auf die Feststellungen der Sachverständigen H. Bezug genommen, ist aber ausweislich des Sitzungsprotokolls nicht auf die fristgemäß erhobenen Einwendungen und Fragen des Klägers eingegangen. In dem abschließenden Termin vom 05.08.2020 hat der Einzelrichter mit den Parteivertretern dann nur noch erörtert, dass „weitere Erklärungen im Hinblick auf die bisherige Durchführung des Verfahrens nicht mehr geboten“ seien. Eine Begründung oder Erläuterung dieser Sichtweise ist nicht aktenkundig.
Die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils halten zum schriftlichen Gutachten der Sachverständigen vom 22.08.2019 lediglich fest, dass die grundsätzliche Möglichkeit der abstrakten Verweisung des Klägers durch dieses Gutachten belegt sei. Danach seien Arbeitsplätze in der Poststelle von Behörden des öffentlichen Dienstes in nicht unerheblicher Zahl vorhanden. Eine solche Tätigkeit sei dem Kläger möglich und für ihn geeignet (LGU 8/9).
cc) Der Tatrichter hat substantielle Einwendungen einer Partei gegen das Gutachten eines gerichtlichen Sachverständigen zu berücksichtigen (vgl. BGH, Beschluss vom 17.05.2017 – VII ZR 36/15, NJW 2017, 3661 Rn. 11). Er hat solchen Einwendungen, wenn sie nicht von vornherein widerlegbar sind, grundsätzlich nachzugehen (vgl. BGH, Urteil vom 19.10.1999 – X ZR 26/97, juris Rn. 27). Jedenfalls müssen die Entscheidungsgründe erkennen lassen, dass die erhobenen Einwendungen der Überzeugung des Gerichts nicht entgegenstehen bzw. der beweispflichtigen Partei nicht zum erforderlichen Nachweis verhelfen (§ 286 Abs. 1 Satz 2 ZPO). Hat eine Partei innerhalb der nach § 411 Abs. 4 Satz 2 ZPO gesetzten Frist konkrete Fragen an den Sachverständigen gerichtet, so muss der Tatrichter deutlich machen, warum diesen Fragen nicht nachzugehen war, bspw. weil sie nicht das Beweisthema oder das Fachgebiet des Sachverständigen betrafen. An alledem fehlt es im vorliegenden Fall. Der Senat vermag nicht nachzuvollziehen, aus welchen Umständen das Landgericht zu dem Schluss gekommen ist, dass die Einwendungen und Fragen des Klägers gänzlich unerheblich seien. Indem das Landgericht somit den Vortrag des Klägers übergangen hat, wurde dessen Verfahrensgrundrecht auf rechtliches Gehör gemäß Art. 103 Abs. 1 GG verletzt (vgl. OLG Frankfurt, NJW-RR 2007, 19, 20; BeckOK-ZPO/Scheuch, § 411 Rn. 27 [Stand: 01.12.2020]).
Dieser Verfahrensfehler ist auch entscheidungserheblich. Es kann nicht von vornherein ausgeschlossen werden, dass das Landgericht bei Berücksichtigung der Einwendungen und Ergänzungsfragen sowie ggf. nach Einholung eines weiteren (mündlichen oder schriftlichen) Sachverständigengutachtens zu einem anderen Ergebnis bezüglich der grundsätzlichen Möglichkeit der Verweisung des Klägers auf eine Tätigkeit in der Poststelle einer öffentlichen Behörde gelangt wäre.
dd) Bereits mit Schriftsatz vom 21.01.2020 hatte sich der Kläger außerdem zu den vorgelegten Stellenanzeigen geäußert, im Hinblick auf die Entfernung zum Wohnort und die Einkommensmöglichkeiten Zweifel an der Wahrung der Lebensstellung angemeldet und auch insoweit Beweis durch ein berufskundliches Sachverständigengutachten angetreten. Gleiches gilt für die weiteren – nach Hinweis des Landgerichts – mit Schriftsatz vom 26.02.2020 „zur Akte gegebenen“ Stellenangebote, zu denen der Kläger mit Schriftsatz vom 18.03.2020 Stellung genommen hat.
Das Landgericht hat hierzu in den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils ausgeführt, die Beklagte habe „eine Mehrzahl von Stellen aus dem Bereich Regensburg und Straubing dargestellt“ (LGU 9). Dies betreffe namentlich die Stellen als Mitarbeiter der Poststelle der S. und bei der M. GmbH. Diese Stellen seien dem Kläger zumutbar und mit einem monatlichen Verdienst von mehr als 2.000,00 € verbunden (LGU 10).
Mit den diesbezüglich vom Kläger erhobenen Einwendungen hat sich das Landgericht wiederum nicht beschäftigt. Entsprechende Ausführungen in den Entscheidungsgründen fehlen. Insbesondere hat die Vorinstanz dem Kläger die Möglichkeit des ihm obliegenden Beweises abgeschnitten, dass es die ihm von der Beklagten angesonnene Tätigkeit auf dem Arbeitsmarkt überhaupt nicht oder nur in völlig unbedeutendem Umfang gibt (vgl. BGH, Urteil vom 23.06.1999 – IV ZR 211/98, NJW-RR 1999, 1471, 1472 m.w.N.) bzw. dass die aufgezeigten Stellen nicht der bisherigen Lebensstellung des Klägers entsprechen.
Indem das Landgericht den Sachvortrag des Klägers und die damit verbundenen Beweisangebote übergangen hat, wurde wiederum in entscheidungserheblicher Weise der Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt (Art. 103 Abs. 1 GG).
2. Die Sache ist gemäß § 538 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO auf Antrag des Klägers an das Landgericht zurückzuverweisen.
a) Es ist eine weitere Verhandlung erforderlich. Der Prozess ist weder zur Entscheidung reif noch kann die Entscheidungsreife mit vertretbarem Aufwand herbeigeführt werden. Vielmehr ist eine umfangreiche oder aufwändige weitere Beweisaufnahme notwendig.
Denn zum einen wird den mit Schriftsatz vom 26.09.2019 erhobenen Einwendungen und Ergänzungsfragen betreffend das Gutachten der Sachverständigen H. in geeigneter Weise nachzugehen sein. Anschließend ist ggf. weiterer Beweis zum Vorhandensein eines signifikanten Arbeitsmarktes („Mitarbeiter in der Poststelle einer Behörde des öffentlichen Dienstes“) zu erheben – unter Berücksichtigung der gegen die bisherigen Stellenangebote vorgebrachten Bedenken.
b) § 538 Abs. 2 ZPO räumt dem Berufungsgericht ein Ermessen ein („darf“; vgl. auch BGH, Urteil vom 01.02.2010 – II ZR 209/08, NJW-RR 2010, 1048 Rn. 16). Der Senat hat im Rahmen der erforderlichen Abwägung folgendes berücksichtigt:
Würde der Senat die zuvor skizzierte Beweisaufnahme gemäß § 538 Abs. 1 ZPO selbst durchführen, wäre hiermit keine bedeutsame Zeitersparnis verbunden. Auch entstehen durch eine solche Beweisaufnahme keine zusätzlichen Kosten, die ohne eine Zurückverweisung vermieden werden könnten. Darüber hinaus ginge den Parteien eine Tatsacheninstanz verloren und die Möglichkeiten der Rechtsmittelkontrolle würden verkürzt. Diese Aspekte erscheinen in ihrer Gesamtschau so wesentlich, dass die möglichen zusätzlichen Kosten eines nochmaligen Berufungsverfahrens nach vollständigem Abschluss der ersten Instanz dahinter zurücktreten.
c) Für das weitere Verfahren weist der Senat auf folgendes hin:
aa) Die bisherige Lebensstellung ist wesentlich durch das erzielte Einkommen geprägt. Der bisherige Beruf und die Verweisungstätigkeit können über das Brutto- oder das Nettoeinkommen miteinander verglichen werden (vgl. BGH, Urteil vom 08.02.2012 − IV ZR 287/10, NJW-RR 2012, 811 Rn. 16). Vorzugswürdig erscheint der Nettovergleich, weil er die tatsächliche Lebensstellung besser widerspiegelt (vgl. BeckOK-VVG/Mangen, aaO. Rn. 71; Langheid/Rixecker, VVG, 6. Aufl., § 172 Rn. 61). Eine feste Grenze für eine nicht mehr hinnehmbare Einkommenseinbuße existiert nicht. Dies wird in der Regel aber erst ab einer Minderung von 20% in Betracht kommen (vgl. OLG Celle, NJW-RR 2017, 1112 Rn. 24 m.w.N.).
bb) Das Landgericht wird erforderlichenfalls Feststellungen darüber zu treffen haben, welche Strecke der Kläger zuletzt in gesunden Tagen zwischen seinem (damaligen) Wohnort und seiner Arbeitsstelle zurückgelegt hat. Maßgeblich ist dabei der Stützpunkt, an dem die täglichen Touren mit dem Zustellfahrzeug begannen und endeten. Eine Verweisungstätigkeit muss in vergleichbarer Entfernung zum (jetzigen) Wohnort bzw. bei einem vergleichbaren Maß an Mobilität verfügbar sein. Denn ein Umzug kann dem Kläger grundsätzlich nicht abverlangt werden. Nach der Rechtsprechung des Senats ist eine Wegstrecke von bis zu 40 km zwischen Wohnort und Arbeitsplatz in der Regel zumutbar (vgl. Senatsurteil vom 26.02.2015 – 8 U 266/13, NJW-RR 2015, 869 Rn. 28 f.).
3. Eine Neuvornahme des bisherigen erstinstanzlichen Verfahrens ist nicht erforderlich. Daher muss dieses nicht aufgehoben werden (vgl. Musielak/Voit/Ball, ZPO, 17. Aufl., § 538 Rn. 6). Vielmehr ist an die bereits erzielten Beweisergebnisse (Gutachten der Sachverständigen Dr. D. und H.) anzuknüpfen.
4. Ein Ausspruch über die Kosten des Berufungsverfahrens ist nicht verlasst. Hierüber ist in dem die erste Instanz abschließenden Urteil nach Maßgabe der §§ 91 ff. ZPO mitzuentscheiden.
5. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO. Eine solche Entscheidung ist zu treffen, obwohl das vorliegende Urteil keinen vollstreckungsfähigen Inhalt enthält (vgl. OLG München, Urteil vom 18.09.2002 – 27 U 1011/01, juris Rn. 75).
6. Die den Parteien obliegenden Darlegungen im Bereich der Berufsunfähigkeitsversicherung sowie die Voraussetzungen einer Zurückverweisung nach § 538 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO werfen im Streitfall keine höchstrichterlich noch ungeklärten Fragen auf. Die Revision gegen dieses Urteil ist daher nicht zuzulassen (§ 543 Abs. 2 ZPO).
7. Der Streitwert für das Berufungsverfahren ist gemäß §§ 47 Abs. 1 und 2, 48 Abs. 1 GKG festzusetzen. Für den Wert der Klage auf zukünftige Leistung ist gemäß § 9 ZPO das 42-fache der begehrten monatlichen Rente nebst Beitragsfreistellung zugrunde zu legen. Die vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten bleiben hingegen gemäß § 43 Abs. 1 GKG außer Ansatz.
8. Eine Niederschlagung der Gerichtskosten für das Berufungsverfahren nach § 21 Abs. 1 GKG kommt nicht in Betracht. Zwar kann eine unrichtige Sachbehandlung vorliegen, wenn das Rechtsmittelgericht wegen eines schweren Verfahrensfehlers die Sache zurückverweist (vgl. KG, BeckRS 1997, 10689; BeckOK-KostR/Dörndorfer, GKG, § 21 Rn. 3 [Stand: 01.09.2020]). Allerdings impliziert eine Entscheidung nach § 538 Abs. 2 ZPO nicht zugleich, dass auch ein eindeutiger, offen zu Tage tretender Verstoß gegen klare gesetzliche Regelungen vorliegt. Anderenfalls hätte bereits der Gesetzgeber im Falle der Aufhebung eines Urteils und der Zurückverweisung von einer Kostenerhebung für das Berufungsverfahren generell absehen müssen. Vor diesem Hintergrund ist zu sehen, dass das Landgericht das Verfahren durch eine umfangreiche Beweisaufnahme bereits in beträchtlichem Maße gefördert hat, ehe es – aus nicht ganz eindeutigen Motiven – eine weitere Beweisaufnahme für entbehrlich hielt.


Ähnliche Artikel


Nach oben