Verwaltungsrecht

Abschiebung nach Eheschließung mit einem deutschen Staatsangehörigen

Aktenzeichen  2 M 10/22

Datum:
15.2.2022
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
Oberverwaltungsgericht des Landes Sachsen-Anhalt 2. Senat
Dokumenttyp:
Beschluss
ECLI:
ECLI:DE:OVGST:2022:0215.2M10.22.00
Normen:
§ 5 Abs 1 Nr 2 AufenthG 2004
§ 5 Abs 2 AufenthG 2004
§ 28 Abs 1 S 1 Nr 1 AufenthG 2004
§ 60a Abs 2 S 1 AufenthG 2004
§ 39 S 1 Nr 5 AufenthV
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Spruchkörper:
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Leitsatz

1. Die Aussetzung der Abschiebung scheidet für die Dauer eines Aufenthaltsgenehmigungsverfahrens aus gesetzessystematischen Gründen grundsätzlich aus, wenn ein Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels ein Bleiberecht in Form einer Fiktion nach § 81 Abs. 3 oder 4 AufenthG (juris: AufenthG 2004) nicht ausgelöst hat und demzufolge ein nach Antragsablehnung gestellter Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO unzulässig ist.(Rn.9)
2. Bei der nach § 39 Satz 1 Nr. 5 AufenthV vorausgesetzten Aussetzung der Abschiebung muss es sich um eine solche handeln, die wegen anderer Abschiebungshindernisse als der Eheschließung erteilt worden ist.(Rn.10)
3. Mit dem verfassungsrechtlichen Schutz von Ehe und Familie nach Art. 6 GG ist es grundsätzlich vereinbar, den Ausländer auf die Einholung eines erforderlichen Visums zu verweisen.(Rn.15)

4.Der mit der Durchführung des Visumverfahrens üblicherweise einhergehende Zeitablauf ist von demjenigen, der die Einreise in die Bundesrepublik Deutschland begehrt, regelmäßig hinzunehmen.(Rn.15)

Verfahrensgang

vorgehend VG Magdeburg, 15. Dezember 2021, 2 B 233/21 MD, Beschluss

Tenor

Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
Die Antragstellerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf 2.500,00 € festgesetzt.

Gründe

I.
Die Antragstellerin ist peruanische Staatsangehörige. Sie reiste am 5. Februar 2021 ohne Visum in die Bundesrepublik Deutschland ein. Mit Schreiben vom 28. April 2021 bat der deutsche Staatsangehörige Herr Z. beim Antragsgegner um eine Aufenthaltserlaubnis für die Antragstellerin. Er und die Antragstellerin hätten sich auf Fuerteventura kennengelernt und dort über viele Jahre gelebt. Da sie coronabedingt keine Arbeit hätten, seien sie nach Deutschland gekommen, um dort eine neue Zukunft zu finden, zu heiraten und eine Familie zu gründen. Am 3. Mai 2021 beantragte die Antragstellerin beim Antragsgegner die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis mit der Begründung, dass sie beabsichtige, Herrn Z. zu heiraten. Herr Z. war zu diesem Zeitpunkt mit einer anderen Frau verheiratet; die Ehescheidung wurde am 1. Juni 2021 rechtskräftig. Am 24. September 2021 heirateten die Antragstellerin und Herr Z. in W-Stadt.
Bereits mit Bescheid vom 12. August 2021 hatte der Antragsgegner den Antrag der Antragstellerin auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis abgelehnt, die Antragstellerin zur Ausreise aus der Bundesrepublik Deutschland bis zum 1. September 2021 aufgefordert und ihr im Falle der Nichteinhaltung die Abschiebung nach Peru oder einen anderen aufnahmebereiten Staat angedroht. Für die Fall der Abschiebung wurde eine Sperrfrist von zwei Jahren festgelegt. Zur Begründung hieß es, dass die Tatbestandsvoraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug nach § 28 Abs. 1 Satz 1 AufenthG nicht erfüllt seien. Dabei machte der Antragsgegner u.a. geltend, dass die Antragstellerin nicht über die gemäß § 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG erforderlichen Deutschkenntnisse verfüge und die Voraussetzungen für die Einholung eines Aufenthaltstitels im Inland gemäß § 39 Satz 1 Nr. 3 AufenthV nicht vorlägen.
Gegen diesen Bescheid erhob die Antragstellerin Widerspruch, über den – soweit ersichtlich – noch nicht entschieden wurde.
Den Antrag der Antragstellerin auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutz hat das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 15. Dezember 2021 abgelehnt. Der Antrag sei als solcher auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO auszulegen. Er habe keinen Erfolg, weil die Antragstellerin einen Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht habe. Die Antragstellerin habe bislang nicht glaubhaft gemacht, sich zumindest auf einfache Art in deutscher Sprache verständigen zu können (§ 28 Abs. 1 Satz 5 i.V.m. § 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG). Unabhängig von der Ankündigung der Antragstellerin, die Prüfung für das Sprachzertifikat zu absolvieren, habe die Antragstellerin die Voraussetzung des § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG nicht erfüllt, da sie in der Absicht eines Daueraufenthalts ohne das erforderliche Visum in die Bundesrepublik Deutschland eingereist sei. Die Durchführung eines Visumverfahrens sei nicht gemäß § 39 AufenthV entbehrlich. § 39 Satz 1 Nr. 3 AufenthV greife nicht ein, weil sich die Antragstellerin aufgrund ihrer unerlaubten Einreise zum Zwecke des Daueraufenthalts nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten habe. Auch die Voraussetzungen des § 39 Satz 1 Nr. 5 AufenthV seien nicht erfüllt, weil die Antragstellerin und Herr Z. die Ehe nicht im Bundesgebiet, sondern in Österreich geschlossen hätten. Von dem Erfordernis der Einholung eines Visums sei auch nicht gemäß § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG abzusehen. Ein nach der 1. Alternative dieser Vorschrift erforderlicher strikter Rechtsanspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis liege nicht vor. Einem solchen Anspruch dürfte ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse gemäß § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG entgegenstehen. Die Antragstellerin habe sich voraussichtlich gemäß § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG strafbar gemacht. Sie sei bereits unrechtmäßig in die Bundesrepublik Deutschland eingereist und halte sich dort jedenfalls seit dem 4. Mai 2021 ohne das erforderliche Visum oder einen Aufenthaltstitel auf. Außerdem sei die Antragstellerin vollziehbar ausreisepflichtig, da sie unerlaubt eingereist und die ihr gesetzte Ausreisefrist seit dem 2. September 2021 abgelaufen sei. Der Rechtsverstoß sei auch nicht geringfügig. Das Ausweisungsinteresse sei zumindest aus generalpräventiven Gründen noch hinreichend aktuell. Es lägen auch keine besonderen Umstände vor, die es ausnahmsweise als unzumutbar erscheinen ließen, das Visumverfahren nachzuholen. Insbesondere stünden weder Art. 6 GG noch Art. 8 EMRK der Abschiebung entgegen. Es sei mit dem verfassungsrechtlichen Schutz von Ehe und Familie grundsätzlich vereinbar, den Ausländer auf die Einholung eines erforderlichen Visums zu verweisen. Für individuelle Besonderheiten, die gegen die Zumutbarkeit einer vorübergehenden Trennung sprechen könnten, lägen keine Anhaltspunkte vor. Ein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG bestehe voraussichtlich ebenfalls nicht. Eine Abschiebung sei nicht rechtlich unmöglich. Art. 6 GG und Art 8 EMRK stünden – wie ausgeführt – nicht entgegen. Entsprechend scheide auch die Erteilung einer Duldung nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG aus.
II.
A. Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts hat keinen Erfolg. Die dargelegten Gründe, auf deren Prüfung der Senat gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, rechtfertigen keine Änderung der erstinstanzlichen Entscheidung.
Die Antragstellerin macht geltend: Sie habe bereits im erstinstanzlichen Verfahren darauf hingewiesen, dass sie einen A1-Deutschkurs absolviere, in Kürze die notwendige Sprachprüfung ablegen und das Zertifikat einreichen werde. Inzwischen habe sie die Prüfung auch abgelegt und warte nur noch auf die Auswertung des Ergebnisses, das sie in Kürze vorlegen werde. Nach Auffassung des Verwaltungsgerichts komme es hierauf aber gar nicht an, weil die allgemeinen Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aufgrund des fehlenden Visumverfahrens nicht vorlägen. Die Nachholung eines Visumverfahrens sei ihr unzumutbar, weil dies den Schutz der Ehe gemäß Art. 6 GG untergraben würde. Die Dauer eines solchen Verfahrens lasse sich nicht hinreichend abschätzen. Nach den Merkblättern der Deutschen Botschaft in Peru zum Ehegattennachzug müsse für die Antragstellung ein Termin zur persönlichen Vorsprache vereinbart werden, für den Wartefristen bis zu acht Wochen bestünden. Die Bearbeitungszeit könne mehrere Monate betragen. Da das Visum nicht ohne Zustimmung der zuständigen Ausländerbehörde erteilt werden könne, habe die Botschaft nur bedingt Einfluss auf die Bearbeitungsdauer. Die Dauer des Zustimmungsverfahrens beim Antragsgegner sei nicht kalkulierbar, da der Antragsgegner keine Anstalten gemacht habe, unverzüglich eine solche Zustimmung zu erteilen. Er habe auch nicht angekündigt, von der Vorabzustimmung nach § 31 Abs. 3 AufenthV Gebrauch zu machen. Eine zügige Bearbeitung sei auch nicht ersichtlich, weil der Antragsgegner auf dem Standpunkt stehe, dass ihr, der Antragstellerin, keine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden könne, da kein Grund vorliege, von der Regelvoraussetzung abzuweichen. Angesichts der Pandemiesituation sei auch unklar, ob es im Herbst zu Einreisestopps, Botschaftsschließungen und der Schließung von Flugrouten aus Drittstaaten kommen werde. Die Verweisung auf die Einholung des Visums sei mit dem verfassungsrechtlichen Schutz der Familie nach Art. 6 GG nicht vereinbar, da es sich um eine Trennung von unbestimmter Dauer handele. Es bedürfe einer an Sinn und Zweck der gesetzlichen Ermächtigung orientierten Ermessensentscheidung darüber, ob die Behörde von der Nachholung des Visumverfahrens absehe. Zu den Umständen, die bei der Entscheidung im Einzelfall zu berücksichtigen seien, gehöre nach Nr. 5.2.3. Satz 2 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz (AVwV-AufenthG) auch, dass ein Aufenthaltstitel aufgrund einer Ermessensreduzierung auf Null erteilt werden müsse, ohne dass ein unmittelbarer gesetzlicher Anspruch bestehe. Im vorliegenden Einzelfall sei zu berücksichtigen, dass sie bereits seit längerer Zeit mit Herrn Z. zusammen und nunmehr mit ihm verheiratet sei, die deutsche Sprache lerne und beabsichtige, eine Familie mit Herrn Z. zu gründen. Darüber hinaus könne sie sich auf § 39 Satz 1 Nr. 5 AufenthV berufen. Das Verwaltungsgericht verkenne, dass es nach dem Wortlaut der Norm nicht auf den Ort der Eheschließung (in W-Stadt), sondern auf den Ort der Begründung der Lebenspartnerschaft (im Bundesgebiet) ankomme.
Mit diesen Einwendungen dringt die Antragstellerin nicht durch.
1. Die Antragstellerin kann die Aussetzung der Abschiebung nicht im Hinblick auf den geltend gemachten Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG für den Familiennachzug zum Ehegatten beanspruchen.
a) Die Aussetzung der Abschiebung scheidet für die Dauer eines Aufenthaltsgenehmigungsverfahrens aus gesetzessystematischen Gründen grundsätzlich aus, wenn ein Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels – wie das Verwaltungsgericht im vorliegenden Fall zutreffend festgestellt hat – ein Bleiberecht in Form einer Fiktion nach § 81 Abs. 3 oder 4 AufenthG nicht ausgelöst hat und demzufolge ein nach Antragsablehnung gestellter Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO unzulässig ist. Die Erteilung einer Duldung widerspräche der in den genannten Vorschriften zum Ausdruck gekommenen gesetzlichen Wertung, für die Dauer eines Aufenthaltsgenehmigungsverfahrens nur unter bestimmten Voraussetzungen ein Bleiberecht zu gewähren. Eine einstweilige Anordnung wird in aller Regel auch im Hinblick auf den besonderen Versagungsgrund des § 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG nicht in Betracht kommen, dem – neben § 81 Abs. 3 und 4 AufenthG – die prinzipielle Wertung des Gesetzgebers zu entnehmen ist, dass visumspflichtige Ausländer ihre Ansprüche auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nur vom Ausland aus verfolgen und durchsetzen können; daraus folgt allerdings umgekehrt, dass in all den Fällen, in denen Ausnahmen vom Versagungsgrund des § 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG in Betracht kommen, grundsätzlich auch der Erlass einer einstweiligen Anordnung möglich sein muss. Gleiches gilt, wenn der Ausländer den Aufenthaltstitel gemäß § 39 AufenthV im Bundesgebiet einholen kann. Von dem Grundsatz, dass eine einstweilige Anordnung aus gesetzessystematischen Gründen ausscheidet, kann zur Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG eine Ausnahme geboten sein, wenn eine Aussetzung der Abschiebung notwendig ist, um die für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis erforderlichen und tatsächlich gegebenen tatbestandlichen Voraussetzungen für die Dauer des Aufenthaltserlaubniserteilungsverfahrens aufrecht zu erhalten und so sicherzustellen, dass eine aufenthaltsrechtliche Regelung einem möglicherweise Begünstigten zu Gute kommen kann (vgl. Beschluss des Senats vom 10. Juni 2021 – 2 M 65/21 – juris Rn. 11).
b) Entgegen der Ansicht der Antragstellerin greift die Ausnahmevorschrift des § 39 Satz 1 Nr. 5 AufenthV nicht zu ihren Gunsten ein. Dies ergibt sich schon aus dem Umstand, dass die Abschiebung der Antragstellerin nicht nach § 60a AufenthG ausgesetzt ist. Dabei kann dahinstehen, ob die Regelung verlangt, dass eine Duldung erteilt wurde, oder ob ein Rechtsanspruch auf Duldungserteilung ausreicht (vgl. hierzu BayVGH, Beschluss vom 30. Juli 2021 – 19 ZB 21.738 – juris Rn. 32). Denn die Antragstellerin ist im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (vgl. Beschluss des Senats vom 12. November 2018 – 2 M 96/18 – juris Rn. 29) nicht in Besitz einer Duldung und hat auch im Sinne des § 39 Satz 1 Nr. 5 AufenthV keinen Anspruch auf eine Duldungserteilung. Bei der nach dieser Vorschrift vorausgesetzten Aussetzung der Abschiebung muss es sich um eine solche handeln, die wegen anderer Abschiebungshindernisse als der Eheschließung erteilt worden ist (vgl. BayVGH, Beschluss vom 4. Mai 2020 – 10 ZB 20.266 – juris Rn. 10; OVG RhPf, Beschluss vom 13. Januar 2021 – 7 D 11208/20 – juris Rn. 14; NdsOVG, Beschluss vom 16. Oktober 2019 – 13 ME 299/19 – juris Rn. 16; HambOVG, Urteil vom 10. April 2014 – 4 Bf 19/13 – juris Rn. 62). Für einen Duldungsanspruch aus anderen Gründen als aufgrund der Schutzwirkungen der Ehe ist nichts ersichtlich.
Im Übrigen ist unter einem Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 39 Satz 1 Nr. 5 AufenthV grundsätzlich nur ein strikter Rechtsanspruch zu verstehen, der nur dann vorliegt, wenn alle zwingenden und regelhaften Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt sind und die Behörde kein Ermessen mehr auszuüben hat (BVerwG, Urteil vom 10. Dezember 2014 – 1 C 15.14 – juris Rn. 15; Beschluss des Senats vom 7. Januar 2022 – 2 M 137/21 – juris Rn. 38; Samel, in: Bergmann/Dienelt, AufenthG, 13. Aufl. 2020, § 5 Rn. 141). Zu den Voraussetzungen für einen Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gehört insbesondere die allgemeine Erteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG, wonach im Regelfall kein Ausweisungsinteresse vorliegen darf (vgl. Beschluss des Senats vom 7. Januar 2022 a.a.O. Rn. 22). Einen strikten Rechtsanspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels hat die Antragstellerin nicht. Das Verwaltungsgericht hat ausgeführt, dass ein solcher Rechtsanspruch (voraussichtlich) nicht bestehe, weil bei der Antragstellerin ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse gemäß § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG vorliege. Die Antragstellerin habe sich gemäß § 95 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG strafbar gemacht, da sie sich ohne einen erforderlichen Aufenthaltstitel im Bundesgebiet aufgehalten habe. Der Rechtsverstoß sei auch nicht geringfügig. Dem ist die Antragstellerin nicht entgegengetreten. Vor diesem Hintergrund kann dahinstehen, ob – wie das Verwaltungsgericht meint (ebenso BayVGH, Beschluss vom 11. März 2021 – 19 C 19.500 – juris Rn. 11) – die Entbehrlichkeit der Durchführung des Visumverfahrens aufgrund einer Eheschließung voraussetzt, dass die Ehe im Bundesgebiet geschlossen wurde.
c) Vom Erfordernis der Durchführung eines Visumverfahrens ist auch nicht gemäß § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG abzusehen. Die Voraussetzungen eines Anspruchs auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis sind bei der Antragstellerin nicht erfüllt und es ist der Antragstellerin auch nicht aufgrund besonderer Umstände des Einzelfalls unzumutbar, das Visumverfahren nachzuholen.
(1) Unter einem „Anspruch“ i.S. des § 5 Abs. 2 Satz 2 Alt. 1 AufenthG ist – wie bei § 39 Satz 1 Nr. 5 AufenthV – ein strikter Rechtsanspruch zu verstehen (vgl. BVerwG, Urteil vom 10. Dezember 2014 a.a.O.; BayVGH, Beschluss vom 18. September 2020 – 10 CE 20.1914, 10 CS 20,1915 – juris Rn. 31). Wie ausgeführt, besteht ein solcher Anspruch im Falle der Antragstellerin nicht, weil davon auszugehen ist, dass bei ihr ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse gemäß § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG vorliegt.
(2) Auch eine Unzumutbarkeit i.S. des § 5 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 AufenthG liegt nicht vor. Insbesondere ist es der Antragstellerin nicht im Hinblick auf den Schutz der Ehe nach Art. 6 Abs. 1 GG und das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens nach Art. 8 EMRK unzumutbar, das Visumverfahren nachzuholen.
Art. 6 GG gewährt keinen unmittelbaren Anspruch auf Aufenthalt. Allerdings verpflichtet die in Art. 6 Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 2 GG enthaltene wertentscheidende Grundsatznorm, nach welcher der Staat die Familie zu schützen und zu fördern hat, die Ausländerbehörde, bei der Entscheidung über aufenthaltsbeendende Maßnahmen die familiären Bindungen des den (weiteren) Aufenthalt begehrenden Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, pflichtgemäß, das heißt entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen, in ihren Erwägungen zur Geltung zu bringen. Dieser verfassungsrechtlichen Pflicht des Staates zum Schutz der Familie entspricht ein Anspruch des Trägers des Grundrechts aus Art. 6 GG darauf, dass die zuständigen Behörden und Gerichte bei der Entscheidung über das Aufenthaltsbegehren seine familiären Bindungen an im Bundesgebiet lebende Personen angemessen berücksichtigen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 5. Juni 2013 – 2 BvR 586/13 – juris Rn. 12 m.w.N.). Ausländerrechtliche Schutzwirkungen entfaltet Art. 6 GG allerdings nicht schon aufgrund formal-rechtlicher familiärer Bindungen. Entscheidend ist vielmehr die tatsächliche Verbundenheit zwischen den Familienmitgliedern (vgl. BVerfG, Beschluss vom 1. Dezember 2008 – 2 BvR 1830/08 – juris Rn. 28 m.w.N.). Mit dem verfassungsrechtlichen Schutz von Ehe und Familie nach Art. 6 GG ist es grundsätzlich vereinbar, den Ausländer auf die Einholung eines erforderlichen Visums zu verweisen. Das Visumverfahren bietet Gelegenheit, die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen zu überprüfen. Der mit der Durchführung des Visumverfahrens üblicherweise einhergehende Zeitablauf ist von demjenigen, der die Einreise in die Bundesrepublik Deutschland begehrt, regelmäßig hinzunehmen (BVerfG, Beschluss vom 10. Mai 2008 – 2 BvR 588/08 – juris Rn. 13). Etwas anderes gilt nur dann, wenn ein deutsches oder aufenthaltsberechtigtes Familienmitglied auf die Lebenshilfe des Ausländers angewiesen ist – selbst dann, wenn die von einem Familienmitglied tatsächliche erbrachte Lebenshilfe von anderen Personen erbracht werden kann (BVerfG, Beschluss vom 17. Mai 2011 – 2 BvR 1367/10 – juris Rn. 16) – oder wenn absehbar ist, dass die Ausreise zu einer Trennung der Ehegatten auf unabsehbare Zeit führen würde (vgl. zum Ganzen auch: Beschluss des Senats vom 10. Juni 2021 – 2 M 65/21 – juris Rn. 21).
Nach diesen Maßstäben erscheint die Durchführung des Visumverfahrens nicht im Hinblick auf die (voraussichtliche) Verfahrensdauer als unvereinbar mit dem Schutz von Ehe und Familie. In den Merkblättern der Deutschen Botschaft in Peru wird nach Angaben der Antragstellerin darauf hingewiesen, dass für den erforderlichen Termin zur persönlichen Vorsprache eine Wartezeit von „bis zu acht Wochen“ bestehen könne. Die Buchung dürfte über das elektronische Terminvereinbarungssystem (vgl. die Hinweise der Deutschen Botschaft Lima: https://service2.diplo.de/rktermin/extern/choose_realmList.do?locationCode=lima&request_locale=de, abgerufen am 7. Februar 2022) ohne weiteres bereits vor der Abreise nach Peru möglich sein (und hätte auch bereits vor Ablauf der in dem Bescheid vom 12. August 2021 gesetzten Ausreisefrist erfolgen können). Der Gefahr, dass wegen Unvollständigkeit der Unterlagen ein neuer Vorsprachetermin vereinbart werden muss, kann durch sorgfältige Vorbereitung begegnet werden, zumal in den Hinweisen auf der Internetseite der Deutschen Botschaft Lima genau aufgelistet ist, welche Unterlagen für das Visum zur Familienzusammenführung für Verheiratete benötigt werden (https://lima.diplo.de/pe-de/konsularservice/visa/-/2103676, abgerufen am 7. Februar 2022). Ein Hinweis darauf, dass die Bearbeitungszeit „mehrere Monate“ dauern könne, findet sich auf der von der Antragstellerin angegebenen Webseite der Deutschen Botschaft Lima nicht; für die Bearbeitung eines Visums zur Familienzusammenführung ausländischer Eltern zu einem deutschen Kind wird eine Bearbeitungszeit von 6 bis 8 Wochen angegeben (https://lima.diplo.de/pe-de/konsularservice/visa/-/2103686). Unabhängig davon ließe sich aus einem Hinweis auf eine Bearbeitungszeit von mehreren Monaten nicht darauf schließen, dass die Bearbeitung einen unabsehbaren oder besonders langen Zeitraum in Anspruch nehmen wird, der die Trennung als unzumutbar erscheinen ließe. Anhaltspunkte dafür, dass der Antragsgegner das Visumverfahren im Rahmen des Zustimmungsverfahrens nach § 31 AufenthV unnötig verzögern würde, sind nicht ersichtlich. Der Umstand, dass der Antragsgegner der Antragstellerin bislang keine Aufenthaltserlaubnis erteilt hat, ist nicht geeignet, dem Antragsgegner eine Verzögerungsabsicht zu unterstellen. Der längere Zeitraum zwischen der Stellung des Antrags auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis am 3. Mai 2021 und dem (ablehnenden) Bescheid vom 12. August 2021 ist im Wesentlichen darauf zurückzuführen, dass die Antragstellerin vom Antragsgegner gesetzte Termine zur Vorsprache nicht wahrgenommen hat. Die Antragstellerin ist zudem der an ihren Ehemann bei der Vorsprache am 22. Juni 2021 gerichteten Bitte nicht nachgekommen, weitere Unterlagen vorzulegen. Die Ablehnung des Antrags beruhte u.a. darauf, dass die Antragstellerin auch nach dem Vorbringen ihres Ehemannes bei der persönlichen Vorsprache am 22. Juni 2021 keine ausreichenden Sprachkenntnisse i.S.v. § 28 Abs. 1 Satz 3 i.V.m. § 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG vorweisen konnte. Auch aus dem Hinweis darauf, dass der Antragsgegner bislang keine Vorabzustimmung nach § 31 Abs. 3 AufenthV erteilt hat, lässt nicht auf eine unzumutbare Dauer des Visumverfahrens schließen. Soweit das OVG Bremen (Beschluss vom 26. April 2010 – 1 B 50/10 – juris Rn. 25) eine Pflicht der Ausländerbehörde zur Erteilung einer Vorabzustimmung angenommen hat, betrifft dies Fälle, in denen alle materiellen Voraussetzungen für die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis gegeben sind. Aus dem Verhalten des Antragsgegners lässt sich nicht entnehmen, dass er eine Vorabzustimmung ablehnen wird, wenn bei einer Nachholung des Visumverfahrens die Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis – auch im Hinblick auf die erforderlichen Sprachkenntnisse und die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen – erfüllt sein sollten oder von der Erfüllung im Rahmen einer Ermessensentscheidung abgesehen werden kann. Im Übrigen ist nicht ersichtlich, dass die Antragstellerin gegenüber dem Antragsgegner die Bereitschaft zur Nachholung des Visumverfahrens gezeigt und zur Verfahrensbeschleunigung eine Vorabzustimmung erbeten hätte (vgl. hierzu SächsOVG, Beschluss vom 11. Februar 2021 – 3 A 866/20 – juris Rn. 25; BayVGH, Beschluss vom 3. September 2019 – 10 C 19.1700 – juris Rn. 5).
Auch aus der Pandemiesituation ergeben sich keine Anhaltspunkte dafür, dass sich der Aufenthalt der Antragstellerin in Peru für das Visumverfahren unzumutbar verlängern wird. Wie sich aus dem bereits erwähnten Internetauftritt der Deutschen Botschaft Lima ergibt, werden Visaanträge offensichtlich weiterhin bearbeitet. Die 7-Tage-Inzidenz in Peru ist nach einem Höchststand Ende Januar 2022 derzeit rückläufig (https://www.corona-in-zahlen.de/weltweit/peru/, abgerufen am 7. Februar 2022). Der Flugverkehr zwischen Peru und Europa findet statt (https://www.auswaertiges-amt.de/de/ReiseUndSicherheit/perusicherheit/211938, abgerufen am 7. Februar 2022). Konkrete Hinweise darauf, dass sich dies in den nächsten Monaten ändern wird, hat die Antragstellerin nicht vorgetragen und sind auch unter Berücksichtigung der Pandemiesituation nicht ersichtlich.
2. Die Antragstellerin kann die Aussetzung der Abschiebung auch nicht im Hinblick auf ein rechtliches Abschiebungshindernis i.S. des § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG beanspruchen. Eine Abschiebung ist nicht aufgrund eines gebotenen Schutzes von Ehe und Familie aus Art. 6 GG und Art. 8 EMRK rechtlich unmöglich. Wie ausgeführt, hat die Antragstellerin nicht glaubhaft gemacht, dass die Durchführung des Visumverfahrens für sie und ihren Ehemann zu Belastungen führen wird, die sich unter Berücksichtigung des Schutzes von Ehe und Familie als unzumutbar erweisen.
B. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
C. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47, 52 Abs. 2, 53 Abs. 2 Nr. 1 GKG i.V.m. Nr. 1.5 und Nr. 8.3 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013. Nach der Rechtsprechung des Senats ist bei Streitigkeiten um eine vorübergehende Aussetzung der Abschiebung der halbe Auffangwert des § 52 Abs.2 GKG, mithin 2.500 €, zu Grunde zu legen (so auch Nr. 8.3 des Streitwertkatalogs). Das gilt auch dann, wenn der Abschiebungsschutz – wie in der Regel – im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes erstritten werden soll, weil in diesen Fällen regelmäßig von einer Vorwegnahme der Hauptsache auszugehen und deshalb eine weitere Reduzierung des Streitwerts nicht angemessen ist (vgl. Beschlüsse des Senats vom 28. April 2010 – 2 O 41/10 – juris Rn. 2 und vom 7. Januar 2022 – 2 M 137/21 – juris Rn. 42).
D. Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 i.V.m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).


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