Verwaltungsrecht

Anordnung der aufschiebenden Wirkung: Beachtliche Wahrscheinlichkeit einer befürchteten Genitalverstümmelung in Nigeria

Aktenzeichen  W 8 S 20.30486

Datum:
29.4.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 7917
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 80 Abs. 5
VwGO § 166
AsylG § 14a
AsylG § 30 Abs. 3 Nr. 7
AsylG § 36
ZPO § 114 S. 1
ZPO § 117 Abs. 2 S. 1
RL 2013/32/EU Art. 31 Abs. 8

 

Leitsatz

Tenor

I. Die aufschiebende Wirkung der Klage der Antragstellerin gegen die Abschiebungsandrohung im Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 9. April 2020 wird angeordnet.
II. Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das vorliegende Sofortverfahren wird abgelehnt.

Gründe

I.
Die am … 2019 in Deutschland geborene Antragstellerin ist nigerianische Staatsangehörige. Am 21. November 2019 wurde ein Asylantrag mit Eingang des Schreibens der Ausländerbehörde vom 11. November 2019 beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge aufgrund der Antragfiktion des § 14a Abs. 2 AsylG als gestellt erachtet. Die Antragstellerin ließ durch ihre Eltern zur Antragsbegründung vorbringen, ihr drohe im Falle einer Rückkehr nach Nigeria die Beschneidung.
Mit Bescheid vom 9. April 2020 lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge den Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Nr. 1), auf Asylanerkennung (Nr. 2) und auf subsidiären Schutz (Nr. 3) als offensichtlich unbegründet ab. Weiter stellte das Bundesamt fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 4). Die Antragstellerin wurde aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen. Bei Nichteinhaltung der Ausreisefrist wurde ihr die Abschiebung nach Nigeria oder einen anderen Staat angedroht (Nr. 5). Das Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde angeordnet und auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 6). Zur Begründung ist im Wesentlichen ausgeführt: Nach den vorliegenden Erkenntnissen sei zwar grundsätzlich davon auszugehen, dass die weibliche Genitalverstümmelung in Nigeria weit verbreitet sei, jedoch sei aufgrund der Schutzfähigkeit und Schutzwilligkeit des nigerianischen Staats sowie der inländischen Fluchtalternative davon auszugehen, dass eine beachtliche Wahrscheinlichkeit tatsächlich zu befürchtender Genitalverstümmelung bei der Antragstellerin nicht gegeben sei. Der Asylantrag werde gemäß § 30 Abs. 3 Nr. 7 AsylG als offensichtlich unbegründet abgelehnt. Der Asylantrag der Mutter sei mit Bescheid vom 18. Mai 2018 voll umfänglich abgelehnt worden; der Asylantrag des Vaters sei mit Bescheid vom 28. Mai 2018 als unzulässiger Folgeantrag abgelehnt worden. Beide Entscheidungen habe das Verwaltungsgericht mit Urteilen vom 5. November 2019 bestätigt.
Am 27. April 2020 ließ die Antragstellerin im Verfahren W 8 K 20.30485 Klage gegen den streitgegenständlichen Bescheid erheben und im vorliegenden Verfahren – neben Prozesskostenhilfe – beantragen,
die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die in Nr. 5 enthaltene Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung anzuordnen.
Zur Begründung ließ die Antragstellerin im Wesentlichen ausführen: Die Antragstellerin habe eigene Gründe vorgebracht. § 30 Abs. 3 Nr. 7 AsylG greife dann nicht, wenn für das Kind eigene Gründe, wie z.B. die Gefahr der geschlechtsspezifischen Verfolgung in Form von Genitalverstümmelung, geltend gemacht würden. Eine Ablehnung als offensichtlich unbegründet komme nicht in Betracht. Eine missbräuchliche Einleitung des Asylverfahrens sei nicht feststellbar. Schließlich sei § 30 Abs. 3 Nr. 7 AsylG auch nicht mit der Asylverfahrensrichtlinie 2013 vereinbar.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte (einschließlich der Akte der Hauptsache W 8 K 20.30485) und die beigezogenen Behördenakten Bezug genommen.
II.
Der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO ist zulässig und begründet.
Der Antrag, die kraft Gesetzes (§ 75 AsylG) ausgeschlossene aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung im streitgegenständlichen Bescheid der Antragsgegnerin nach § 80 Abs. 5 VwGO anzuordnen, ist zulässig, insbesondere wurde die Frist des § 36 Abs. 3 AsylG eingehalten.
Der Antrag ist begründet, da ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Bescheides bestehen (§ 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG). Konkret bestehen ernstliche Zweifel an der Offensichtlichkeitsentscheidung gemäß § 30 Abs. 3 Nr. 7 AsylG. Ernstliche Zweifel liegen vor, wenn erhebliche Gründe dafür sprechen, dass die infolge des Offensichtlichkeitsurteils des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge sofort vollziehbare Abschiebungsandrohung einer rechtlichen Prüfung wahrscheinlich nicht Stand hält (vgl. BVerfG, U.v. 14.5.1996 – 2 BvR 1516/93 – BVerfGE 94, 166).
Die Ablehnung der Anträge in Nrn. 1 bis 3 des angefochtenen Bescheides als offensichtlich unbegründet findet ihre Grundlage weder in der von der Antragsgegnerin der Entscheidung zugrunde gelegten Norm des § 30 Abs. 3 Nr. 7 AsylG noch in anderen Offensichtlichkeitstatbeständen des § 30 AsylG.
Nach § 30 Abs. 3 Nr. 7 AsylG ist ein unbegründeter Asylantrag als offensichtlich unbegründet abzulehnen, wenn er für einen nach diesem Gesetz handlungsunfähigen Ausländer gestellt wird oder – wie hier – nach § 14a AsylG als gestellt gilt, nachdem zuvor Asylanträge der Eltern oder des allein personenberechtigten Elternteils unanfechtbar abgelehnt worden sind. Diese Vorschrift soll zum einen eine als missbräuchlich anzusehende Asylbeantragung verhindern und dient weiter der Verfahrensbeschleunigung, wenn das Kind keine eigenen Gründe geltend macht (vgl. Heusch in BeckOK, AuslR, Kluth/ Heusch, 25. Edition, Stand: 1.3.2020, § 30 AsylG Rn. 52; Schröder in Hofmann, AuslR, 2. Aufl. 2016, § 30 AsylG Rn. 38).
Vorliegend liegen schon die Tatbestandsvoraussetzungen des § 30 Abs. 3 Nr. 7 AsylG nicht vor. Denn die Fiktion der Asylantragstellung mit Eingang der Anzeige seitens der Ausländerbehörde am 21. November 2019 beim Bundesamt erfolgte vor dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens der Eltern. Vor der (fingierten) Asylantragstellung des nachgeborenen Kindes muss für beide Asylanträge der Eltern die Unanfechtbarkeit vorliegen; Rechtskraft muss zuvor eingetreten sein (Heusch in BeckOK, AuslR, Kluth/ Heusch, 25. Edition, Stand: 1.3.2020, § 30 AsylG Rn. 52 mit Bezug auf VG Düsseldorf, B.v. 15.1.2018 – 1 L 6046/17.A; Funke-Kaiser/Fritz/Vormeier, GK-AsylG Lieferung 113, 1.10.2017, § 30 AsylG Rn. 140; Schröder in Hofmann, AuslR, 2. Aufl. 2016, § 30 AsylG Rn. 38). Die Vorschrift des § 30 Abs. 3 Nr. 7 AsylG greift erst, wenn der Asylantrag des Kindes zu einem Zeitpunkt gestellt wird bzw. als gestellt gilt, nachdem zuvor die Asylanträge der Eltern beide unanfechtbar abgelehnt wurden (VG Augsburg, U.v. 16.1.2020 – Au 9 K 19.30382 – juris; VG Minden, B.v. 30.8.2019 – 10 L 370/19.A – juris; VG Berlin, B.v. 15.3.2017 – 9 L 90.17 A – juris). Daran fehlt es hier. Die jeweils klageabweisenden Urteile des Verwaltungsgerichts Bayreuth betreffend die Mutter und den Vater der Antragstellerin datieren auf den 5. November 2019. Sie wurden zuletzt am 4. Dezember 2019 zugestellt, sodass die Rechtskraft/Unanfechtbarkeit am 4. Januar 2020 eintrat (1 Monat nach Zustellung) und damit weit nach dem hier maßgeblichen Datum der fingierten Antragstellung am 21. November 2019.
Darüber hinaus greift § 30 Abs. 3 Nr. 7 AsylG ausnahmsweise nicht ein, wenn das Kind eigene Gründe geltend macht. Denn die Norm beruht auf der Annahme, dass für die Kinder regelmäßig keine eigenen Asylgründe vorgebracht werden können, sodass im Asylverfahren der Eltern schon eine inhaltliche Überprüfung stattgefunden hat. Bevor das Bundesamt aber nach Nr. 7 vorgeht, hat es nach dem Willen des Gesetzgebers zunächst eigene Asylgründe des handlungsunfähigen Kindes zu prüfen. Verneint die Behörde eine eigene Verfolgung des Kindes, hat es zu prüfen, ob diese in materieller Hinsicht offensichtlich nicht vorliegt oder sonst eine Anwendung des § 30 AsylG gerechtfertigt ist. Nach Nr. 7 darf es dann nicht mehr vorgehen. Werden eigene Gründe des Kindes geltend gemacht und liegen für diese die Voraussetzungen für eine qualifizierte Ablehnung als offensichtlich unbegründet nicht vor, scheidet zwangsläufig auch eine Ablehnung nach § 30 Abs. 3 Nr. 7 AsylG aus (Heusch in BeckOK, AuslR, Kluth/Heusch, 25. Edition, Stand: 1.3.2020, § 30 AsylG Rn. 52; Marx, Kommentar zum AsylG, 10. Aufl. 2019, § 30 AsylG Rn. 65; Funke-Kaiser/Fritz/Vormeier, GK-AsylG Lieferung 113, 1.10.2017, § 30 AsylG Rn. 141; Schröder in Hofmann, AuslR, 2. Aufl. 2016, § 30 AsylG Rn. 39 sowie VG Augsburg, U.v. 16.1.2020 – Au 9 K 19.30382 – juris; VG Ansbach, B.v. 4.10.2018 – AN 9 S 18.31173 – juris; VG Würzburg, B.v. 28.8.2013 – W 6 S 13.30278 – juris). Die hier vorgebrachte Befürchtung einer Genitalverstümmelung der Antragstellerin ist ein solcher eigener Grund der Antragstellerin, der den Offensichtlichkeitsausspruch des § 30 Abs. 3 Nr. 7 AsylG ausschließt (so ausdrücklich Marx, Kommentar zum AsylG, 10. Aufl. 2019, § 30 AsylG Rn. 65; Schröder in Hofmann, AuslR, 2. Aufl. 2016, § 30 AsylG Rn. 39; VG Augsburg, U.v. 16.1.2020 – Au 9 K 19.30382 – juris Rn. 26; VG Ansbach, B.v. 4.10.2018 – AN 9 S 18.31173 – juris Rn. 15). Die befürchtete Genitalverstümmelung betrifft die Antragstellerin unmittelbar selbst in eigener Person und steht unabhängig neben den von ihren Eltern vorgebrachten Gründen.
Ohne dass es entscheidungserheblich darauf ankommt, ist weiter anzumerken, dass es gewichtige Argumente sowohl im Schrifttum als auch in der Rechtsprechung gibt, die die Vereinbarkeit des § 30 Abs. 3 Nr. 7 AsylG mit dem Europäischen Unionsrecht in Zweifel ziehen, weil der betreffende Offensichtlichkeitsgrund nicht in der Asylverfahrensrichtlinie 2013 (RL 2013/32/EU) genannt ist. Denn Art. 31 Abs. 8 RL 2013/32/EU enthält in seiner enumerativen Aufzählung keine rechtliche Grundlage, auf die sich eine nationale Vorschrift wie die des § 30 Abs. 3 Nr. 7 AsylG stützen lässt (vgl. Heusch in BeckOK, AuslR, Kluth/Heusch, 25. Edition, Stand: 1.3.2020, § 30 AsylG Rn. 52; Schröder in Hofmann, AuslR, 2. Aufl. 2016, § 30 AsylG Rn. 38; VG VG Augsburg, U.v. 16.1.2020 – Au 9 K 19.30382 – juris; VG Minden, B.v. 30.8.2019 – 10 L 370/19.A – juris; jeweils m.w.N.).
Die Offensichtlichkeitsentscheidung des Bundesamtes lässt sich auf der Basis des § 30 AsylG auch nicht sonst aufrechterhalten. Bezogen auf die von der Antragstellerin geltend gemachten Verfolgungsgründe, konkret die befürchtete Genitalverstümmelung, liegen keine Offensichtlichkeitsgründe des § 30 AsylG vor. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat im streitgegenständlichen Bescheid ausdrücklich ausgeführt, dass eine beachtliche Wahrscheinlichkeit der befürchteten Genitalverstümmelung nicht gegeben sei, weil zum einen von der Schutzfähigkeit und Schutzwilligkeit des nigerianischen Staates auszugehen sei und weil sich zum anderen die Antragstellerin in andere Teile Nigerias niederlassen könnte und so eine interne Aufenthaltsalternative bestünde. Das Bundesamt geht offenbar selbst nicht davon aus, dass insofern die Voraussetzungen des § 30 AsylG – abgesehen von § 30 Abs. 3 Nr. 7 AsylG – vorliegen. Denn grundsätzlich ist in Nigeria die Gefahr einer zwangsweisen Beschneidung nicht von vorneherein von der Hand zu weisen, weil – wie auch das Bundesamt im streitgegenständlichen Bescheid ausführt – nach den vorliegenden Erkenntnissen grundsätzlich davon auszugehen ist, dass die weibliche Genitalverstümmelung in allen bekannten Formen nach wie vor in Nigeria verbreitet ist. Aber selbst, wenn es der Antragstellerin möglich ist – wofür einiges sprechen könnte -, einer möglicherweise existierenden Gefahr der Beschneidung bei einer Rückkehr nach Nigeria aufgrund interner Schutzmöglichkeiten (z. B. inländische Aufenthaltsalternative) zu entgehen, rechtfertigt dies im Ergebnis nicht die qualifizierte Ablehnung des Asylantrages als offensichtlich unbegründet (ebenso im Ergebnis VG Augsburg, U.v. 16.1.2020 – Au 9 K 19.30382 – juris; vgl auch schon VG Würzburg, B.v. 30.8.2013 – W 6 S 13.30278 – juris).
Liegen nach alledem keine anderen Gründe für eine Offensichtlichkeitsentscheidung vor, bestehen an der ausgesprochenen Abschiebungsandrohung ernstliche Zweifel, sodass dem Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung stattzugeben war (vgl. VG Ansbach, B.v. 4.10.2018 – AN 9 S 18.31173 – juris; VG Berlin, B.v. 15.3.2017 – 9 L 90.17 A – juris)..
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.
Der Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung der Bevollmächtigten war für das vorliegende Sofortverfahren abzulehnen, weil die Antragstellerin bis heute keine Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse vorgelegt hat (§ 166 VwGO, § 114 ZPO, § 117 Abs. 2 Satz 1 ZPO).


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