Aktenzeichen M 11 K 16.33183
Leitsatz
Droht bei Rückkehr nach Somalia mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zum einen die Fortsetzung einer zwangsweise eingegangenen Ehe als solche als auch damit einhergehende Misshandlungen und Erniedrigungen, liegt eine geschlechtsspezifische Verfolgung iSd § 3a Abs. 1, Abs. 2 Nr. 6 AsylG und der Verfolgungsgrund des § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG vor. (Rn. 20 – 23) (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 07.09.2016 wird in Nr. 2 aufgehoben. Die Beklagte wird verpflichtet, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Die Kosten des Verfahrens werden gegeneinander aufgehoben.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Klägerin vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Gründe
Die Klage hat teilweise Erfolg.
Über die Klage konnte ohne mündliche Verhandlung entschieden werden, da die Beteiligten damit einverstanden sind (§ 101 Abs. 2 VwGO).
1. Die Klage ist im zulässigen Hauptantrag unbegründet.
Die Anerkennung als Asylberechtigter scheidet bereits deswegen aus, weil die Klägerin auf dem Landweg und damit aus einem sicheren Drittstaat (Italien) in das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland eingereist ist (Art. 16a Abs. 2 Satz 1 GG i. V. m. § 26a Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 AsylG).
2. Die Klage ist im zulässigen Hilfsantrag begründet.
Über den Hilfsantrag war zu entscheiden, da der Hauptantrag unbegründet ist (s.o.).
Für das Gericht ist hinsichtlich der Sach- und Rechtslage der Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung maßgeblich (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 Asylgesetz – AsylG). Insbesondere kommen das AsylG und das AufenthG in den durch das Gesetz zur Einführung beschleunigter Asylverfahren vom 11. März 2016 (BGBl I, S. 390), das Gesetz zur erleichterten Ausweisung von straffälligen Ausländern sowie zum erweiterten Ausschluss der Flüchtlingsanerkennung bei straffälligen Asylbewerbern vom 11. März 2016 (BGBl I, S. 394) und das Integrationsgesetz vom 31. Juli 2016 (BGBl I, S. 1939) geänderten Fassungen zur Anwendung.
Die auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gerichtete Klage ist zulässig und begründet. Die Beklagte ist verpflichtet, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen; der angefochtene Bescheid ist in Nummer 2, welche dieser Verpflichtung entgegensteht, aufzuheben (§ 113 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 5 Satz 1 VwGO).
Die Klägerin hat Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, weil ihr in Somalia seitens nichtstaatlicher Akteure im Sinne des § 3c Nr. 3 AsylG geschlechtsspezifische Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 i. V. § 3a Abs. 1, Abs. 2 Nr. 6 AsylG droht und die in § 3c Nummern 1 und 2 AsylG genannten Akteure erwiesenermaßen nicht in der Lage sind, ihr im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor dieser Verfolgung zu bieten.
Nach Ansicht des Gerichts droht der Klägerin, die als junge Frau zwangsverheiratet worden ist, mit hinreichender Wahrscheinlichkeit die Gefahr einer geschlechtsspezifischen Verfolgung im Sinne des § 3a Abs. 1, Abs. 2 Nr. 6 AsylG, die durch staatliche oder andere Stellen nicht abgewendet werden kann.
Nach dem Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschieberelevante Lage in Somalia vom 1. Januar 2017 ist die Lage von Frauen und Mädchen in Südsomalia weiterhin besonders prekär. Sie bleiben den besonderen Gefahren der Vergewaltigung, Verschleppung und der systematischen Versklavung ausgesetzt. Ein wirksamer Schutz gegen solche Übergriffe ist dem Lagebericht zufolge mangels staatlicher Autorität nicht gewährleistet. Erwachsene Frauen und viele minderjährige Mädchen werden zur Heirat gezwungen, häusliche Gewalt gegen Frauen ist weit verbreitet. Es gelten zudem die aus der Schari’a interpretierten Regeln des Zivil- und Strafrechts, die Frauen tendenziell benachteiligen bzw. einem übersteigerten paternalistischen Ansatz folgen. In Somaliland und Puntland ist die Lage für Frauen ebenfalls prekär. Auch dort ist sexuelle Gewalt, insbesondere in Form von Vergewaltigung bzw. Gruppenvergewaltigung an der Tagesordnung, insbesondere bei Binnenvertriebenen. Die Dunkelziffer ist hoch. (vgl. Home Office, Country and Information Guidance – Somalia: Women fearing gender-based harm and violence, Version 3.0, 02.08.2016, S. 22 ff.). Schließlich finden auch hier die tendenziell diskriminierenden, aus der Schari’a interpretierten Regelungen des Zivil- und Strafrechts Anwendung.
Einerseits droht der Klägerin die Gefahr geschlechtsspezifischer Verfolgung durch unter Zwang geheirateten Ehemann. Die Klägerin hat die durch ihn erlittenen Misshandlungen und Erniedrigungen im Rahmen der persönlichen Anhörung beim Bundesamt geschildert. Das Bundesamt hat im streitgegenständlichen Bescheid die Glaubwürdigkeit der Klägerin letztlich auch nicht in Abrede gestellt und ihren Vortrag sogar geglaubt, sondern lediglich gemeint, dass es im Falle der Klägerin an der Anknüpfung an einen der in § 3b AsylG genannten Verfolgungsgründe fehle. Diese rechtliche Bewertung ist jedoch unter den konkreten Umständen des vorliegenden Falles unzutreffend. Im Falle der Klägerin ist der Verfolgungsgrund des § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG verwirklicht. Die Klägerin ist Teil der „bestimmten sozialen Gruppe“ „Frauen“. § 3b Abs. 1 Nr. 4, 2. Halbsatz AsylG stellt ausdrücklich klar, dass die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe auch bei einer alleinigen Anknüpfung an das Geschlecht vorliegen kann. Als Verfolgungshandlungen drohen der Klägerin bei Rückkehr zum einen bereits die Fortsetzung der zwangsweise eingegangenen Ehe als solche als auch die damit einhergehenden Misshandlungen und Erniedrigungen, die die Klägerin bereits in der Vergangenheit durch ihren gewalttätigen Ehemann erlitten hat. Es ist auch mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass die Klägerin bei einer etwaigen Rückkehr von ihrem Ehemann gefunden wird. Insoweit ist zu berücksichtigen, dass die Klägerin, angesichts der sehr prekären Lebensverhältnisse in Somalia, insbesondere in ihrem Fall als Frau, im Falle einer Rückkehr nicht an einem beliebigen Ort unerkannt weiterleben kann, sondern gezwungen ist, sich unter Offenbarung ihrer Identität wieder in das dortige Clangefüge und die sonst herrschenden Strukturen einzufügen. Es ist deshalb hinreichend wahrscheinlich, dass im Falle ihrer Rückkehr in ihrem Umfeld wieder ins Bewusstsein rückt, dass die Klägerin vor den Misshandlungen durch ihren Ehemann geflohen ist.
Andererseits droht der Klägerin, selbst falls ihr Ehemann sie nicht finden sollte bzw. sie doch an einen anderen Ort gehen sollte, auch in diesem Falle die Gefahr einer geschlechtsspezifischen Verfolgung. An einem anderem Ort als dem, an dem ihrer Familie lebt, wäre die Klägerin eine alleinstehende und im wahrsten Sinne des Wortes auf sich alleine gestellte Frau. Den oben beschriebenen drohenden Gefahren geschlechtsspezifischer Verfolgung wäre sie in diesem Fall, ohne schützende Familienangehörige und Clanstrukturen, vollkommen schutzlos ausgesetzt.
Nach alledem ist der Klage stattzugeben.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 ff. ZPO.