Verwaltungsrecht

Aufenthaltsgewährung bei gut integrierten Jugendlichen und Heranwachsenden, Erfüllung der Passpflicht

Aktenzeichen  AN 11 K 21.01402

Datum:
20.6.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 14895
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Ansbach
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 25a Abs. 1
AufenthG § 60b Abs. 5 S. 1
AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 4

 

Leitsatz

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens. Das Urteil ist insoweit vorläufig vollstreckbar.
3. Der Kläger kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe der festgesetzten Kosten abwenden, wenn nicht der Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die zulässige Klage ist unbegründet.
Der streitgegenständliche Bescheid des Beklagten vom 7. Juli 2021 ist im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Erteilung der begehrten Aufenthaltserlaubnis nach § 25a Abs. 1 Aufenthaltsgesetz – AufenthG (§ 113 Abs. 5 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO).
1. Ein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25a Abs. 1 AufenthG scheitert bereits mangels Vorliegen der Erteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG.
Maßgeblicher Zeitpunkt für das Vorliegen der Voraussetzungen einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25a AufenthG ist der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung in der Tatsacheninstanz. Das gilt grundsätzlich auch für die Voraussetzung, dass ein Antragsteller ein „geduldeter Ausländer“ sein muss (vgl. BVerwG, U.v. 18.12.2019 – 1 C 34.18 – juris Rn. 23 zu § 25b AufenthG; BayVGH, B.v. 18.3.2021 – 19 CE 21.363 – juris Rn. 8 m.w.N.; Röcker in Bergmann/Dienelt, AuslR, 13. Aufl. 2020, § 25a AufenthG Rn. 9)
a) Nach § 25a Abs. 1 Satz 1 AufenthG soll einem jugendlichen oder heranwachsenden geduldeten Ausländer eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn er sich seit vier Jahren ununterbrochen erlaubt, geduldet oder mit einer Aufenthaltsgestattung im Bundesgebiet aufhält (Nr. 1), er im Bundesgebiet in der Regel seit vier Jahren erfolgreich eine Schule besucht oder einen anerkannten Schul- oder Berufsabschluss erworben hat (Nr. 2), der Antrag auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnis vor Vollendung des 21. Lebensjahres gestellt wird (Nr. 3), es gewährleistet erscheint, dass er sich auf Grund seiner bisherigen Ausbildung und Lebensverhältnisse in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland einfügen kann (Nr. 4) und keine konkreten Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der Ausländer sich nicht zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland bekennt (Nr. 5).
Solange sich der Jugendliche oder der Heranwachsende in einer schulischen oder beruflichen Ausbildung oder einem Hochschulstudium befindet, schließt die Inanspruchnahme öffentlicher Leistungen zur Sicherstellung des eigenen Lebensunterhalts die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis nicht aus (§ 25a Abs. 1 Satz 2 AufenthG). Die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis ist zu versagen, wenn die Abschiebung aufgrund eigener falscher Angaben des Ausländers oder aufgrund seiner Täuschung über seine Identität oder Staatsangehörigkeit ausgesetzt ist (§ 25a Abs. 1 Satz 3 AufenthG).
Nach der Gesetzesbegründung sollte mit § 25a AufenthG eine Bleiberechtsregelung geschaffen werden, um nachhaltige Integrationsleistungen, die trotz des fehlenden rechtmäßigen Aufenthalts von einem Geduldeten erbracht wurden, durch die Erteilung eines gesicherten Aufenthaltsstatus zu honorieren (vgl. BT-Drs. 18/4097 S. 1, 23; BayVGH, B.v. 20.1.2022 – 19 CE 21.2437 – juris Rn. 8).
Gemäß § 60b Abs. 5 Satz 1 AufenthG, der vorliegend Anwendung findet (§ 105 Abs. 1 AufenthG), werden die Zeiten, in denen dem Ausländer die Duldung mit dem Zusatz „für Personen mit ungeklärter Identität“ ausgestellt worden ist, nicht als Vorduldungszeiten angerechnet. Gemäß § 60b Abs. 4 AufenthG kann der Ausländer, der die zumutbaren Handlungen nach Absatz 2 Satz 1 und Absatz 3 Satz 1 unterlassen hat, diese jederzeit nachholen. In diesem Fall ist die Verletzung der Mitwirkungspflicht geheilt und dem Ausländer die Bescheinigung über die Duldung nach § 60a Absatz 4 ohne den Zusatz „für Personen mit ungeklärter Identität“ auszustellen. Absatz 5 Satz 1 bleibt unberührt (§ 60b Abs. 4 Satz 3 AufenthG).
Nach der Gesetzesbegründung werden nach dem neuen § 60b Abs. 5 Satz 1 AufenthG dem Ausländer die Zeiten, in denen er die Duldung mit dem Zusatz „für Personen mit ungeklärter Identität“ besaß, hinsichtlich der diversen Anrechnungsvorschriften nicht als Zeiten der Duldung angerechnet. Dies gilt für Ausländer, die Inhaber einer Duldung mit dem Zusatz „für Personen mit ungeklärter Identität“ sind, für Zeiten ab der Ausstellung dieser Bescheinigung, und für ehemalige Inhaber für die Zeiten ab der Ausstellung bis hin zur Ausstellung der Duldung ohne einen solchen Zusatz. Bedeutung hat die Nichtanrechnung beispielsweise im Hinblick auf die §§ 25a und 25b Aufenthaltsgesetz (vgl. BT-Drs. 19/10047 S. 39).
b) Der Kläger erfüllt im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung nicht die Voraussetzungen für die Erteilung der begehrten Aufenthaltserlaubnis. Die Voraussetzungen hierfür lagen im Übrigen auch weder zum Entscheidungszeitpunkt der Ausländerbehörde noch zum Zeitpunkt der Antragstellung im Mai 2021 vor.
aa) Einem Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25a Abs. 1 AufenthG steht bereits entgegen, dass die erforderliche allgemeine Erteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG wegen Nichterfüllung der Passpflicht nach § 3 AufenthG nicht vorliegt.
Neben den in § 25a AufenthG im Einzelnen aufgeführten besonderen Erteilungsvoraussetzungen müssen grundsätzlich auch die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen des § 5 Abs. 1 und 2 AufenthG erfüllt sein (vgl. BVerwG, U.v. 14.5.2013 – 1 C 17/12 – BVerwGE 146, 281; Röcker in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, § 25a AufenthG Rn. 4 m.w.N.)
Die vorliegend anzuwendende Regelerteilungsvoraussetzung der Erfüllung der Passpflicht (§ 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG) wird nur durch den Besitz eines anerkannten und gültigen Passes oder Passersatzes erfüllt (vgl. BayVGH, B.v. 14.4.2020 – 10 C 19.2214 – juris Rn. 4; Maor in BeckOK Ausländerrecht, Kluth/Heusch, Stand 1.4.2022, AufenthG § 5 Rn. 19), was beim Kläger nicht der Fall ist. Der Beklagte bestätigte in der mündlichen Verhandlung, dass für diesen nach wie vor kein aserbaidschanischer Reisepass vorgelegt wurde.
Dass hinsichtlich der Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG aufgrund atypischer Umstände des konkreten Einzelfalls ein Ausnahmefall vorliegt, bei dem das sonst ausschlaggebende Gewicht der gesetzlichen Regelung beseitigt wird, oder im Ermessenswege nach § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG von der Erteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG hätte abgesehen werden müssen, ist weder dargelegt noch sonst ersichtlich. Ein Ausnahmefall ist – nach den höchstrichterlichen Vorgaben – begrifflich dann anzunehmen, wenn aufgrund bedeutsamer besonderer Umstände ein atypischer Geschehensablauf vorliegt, der so gewichtig ist, dass er (im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung) das sonst die Regel begründende Gewicht beseitigt (vgl. BVerwG, U.v. 14.5.2013 – 1 C 17/12 – BVerwGE 146, 281, juris Rn. 26 und 29 ff.; Funke-Kaiser, GK-AufenthG, Stand: hier 10/2015, § 5 AufenthG, Rn. 21). Insbesondere bestehen vorliegend keine Anhaltspunkte, dass die Beantragung eines Reisepasses für den vollziehbar ausreisepflichtigen Kläger unzumutbar oder unmöglich sein könnte. Für eine Atypik ist vorliegend – bezogen auf den maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung – nichts ersichtlich. Der Kläger hat zwar nicht selbst getäuscht; einen aserbaidschanischen Reisepass hat er aber weder selbst beantragt noch durch seine Eltern beantragen lassen, obwohl diese mehrfach auf die ihnen obliegenden Mitwirkungspflichten hingewiesen wurden. Vielmehr teilte das LfAR mit o.g. Schreiben vom 26. November 2018 – nach Einleitung eines Verfahrens zur Passersatzpapierbeschaffung seitens der Ausländerbehörde – mit, dass der Kläger mit den von seinen Eltern gemachten Angaben nicht als Staatsangehöriger des angegebenen Herkunftslandes identifiziert werden könne. Es wird ergänzend Bezug genommen auf die zutreffende Begründung des angefochtenen Bescheids (§ 117 Abs. 5 VwGO).
Es ist bei dieser Sachlage auch nicht ermessensfehlerhaft, dass der Beklagte vorliegend von der Passpflicht nicht nach § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG abgesehen hat (§ 114 VwGO).
bb) Zudem ist auch im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung noch davon auszugehen, dass die erforderliche Regelerteilungsvoraussetzung der geklärten Identität nach § 5 Abs. 1 Nr. 1a AufenthG nicht erfüllt ist, wenngleich dies letztlich angesichts der dargelegten Nichterfüllung der Passpflicht – ebenso wie die Erfüllung der besonderen Erteilungsvoraussetzungen nach § 25a AufenthG – dahinstehen kann.
Durch die Regelung des § 5 Abs. 1 Nr. 1a AufenthG soll verhindert werden, dass Personen, die an der Klärung ihrer Identität nicht mitwirken, der Zugang zu einem Aufenthaltstitel geebnet wird (vgl. Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses, BT-Drs. 15/955, S. 7). Zudem bringt die ungeklärte Identität ebenso wie der Nichtbesitz eines Reisepasses ein erhebliches Risiko einer mangelnden Rückkehrberechtigung mit sich; der Ausländer ist unbeschadet der sich aus § 49 Abs. 2 AufenthG ergebenden Aufklärungspflicht darlegungs- und beweispflichtig (vgl. Hailbronner, Ausländerrecht, Stand: Oktober 2019, § 5 Rn. 23 ff.; Funke-Kaiser, GK-AufenthG, Stand: hier 10/2015, § 5 AufenthG, Rn. 21). Unterbleibt eine zumutbare Mitwirkung des Ausländers oder ist sie unzureichend, kann nicht von der Regelerteilungsvoraussetzung der Klärung der Identität abgegangen werden (vgl. BVerwG, U.v. 17.3.2004 – 1 C 1/03 – BVerwGE 120, 206). Die Regelerteilungsvoraussetzung geklärter Identität und Staatsangehörigkeit in § 5 Abs. 1 Nr. 1a AufenthG, mit der die Aufklärungspflicht der Ausländerbehörde (§ 49 Abs. 3 AufenthG) und eine entsprechende Mitwirkungspflicht des Ausländers (§ 49 Abs. 2 AufenthG) korrespondieren, ist Ausdruck des gewichtigen öffentlichen Interesses an der Individualisierung der Person, die einen Aufenthaltstitel begehrt. Im Gesetzgebungsverfahren kommt das sicherheitsrechtlich motivierte Anliegen der notwendigen Identifizierung des Ausländers vor der Legalisierung seines Aufenthalts deutlich zum Ausdruck (vgl. BVerwG, B.v. 7.5.2013 – 1 B 2/13 – juris Rn. 4).
Die Identität kann in aller Regel allein aufgrund des Passes oder Passersatzes festgestellt werden. Anhand eines Vergleichs der dortigen Eintragungen und ggf. gespeicherten biometrischen Daten (Lichtbild, Fingerabdruck) mit der persönlichen Erscheinung des Passinhabers lässt sich entscheiden, ob diese auf ihn zutreffen und damit dessen Identität hinreichend bestimmt ist. Für die Identitätsfeststellung können andere Dokumente (z.B. Geburtsurkunde) herangezogen werden (vgl. Samel in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, § 5 AufenthG Rn. 45). Die Identitätsfeststellung durch eine Urkunde setzt voraus, dass in dem der Urkundenausstellung vorausgehenden Verfahren auch die Richtigkeit der Verbindung zwischen Person und Name effektiv kontrolliert wird (vgl. Hailbronner, Ausländerrecht, § 5 AufenthG Rn. 24). Eine spätere Klärung entfaltet keine Rückwirkung i.S.d. materiell-rechtlichen Erteilungsvoraussetzungen (vgl. BVerwG, B.v. 6.3.2014 – 1 B 17.13 – juris Rn 8).
Ausgehend davon ist die Identität des Klägers nach wie vor ungeklärt; eine Identitätsfeststellung ist nicht erfolgt. Es wurden weder ein gültiges Ausweispapier noch gleich beweiskräftige Unterlagen bzw. Urkunden als Nachweis der Identität vorgelegt. Allein die zwischenzeitlich erfolgte Übermittlung einer Kopie der vorgenannten ID-Card, für die kein Original vorgelegt wurde, stellt keine zureichende Mitwirkung des Klägers dar. Die im Klageverfahren in Aussicht gestellte Vorlage des Ausweisdokumentes des Klägers beim Beklagten ist nicht erfolgt.
Die Frage ob einem Anspruch auf die begehrte Aufenthaltserlaubnis daneben die Nichterfüllung der besonderen Erteilungsvoraussetzungen – insbesondere § 25 a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und 4 AufenthG – entgegensteht, bedarf daher keiner weiteren Erörterung. Ungeachtet dessen ist entgegen der Ansicht des Klägers nicht bereits mit Erreichen eines Schulabschlusses von einer positiven Integrationsprognose auszugehen, da § 25a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG einen erfolgreichen Schulbesuch bzw. den Erwerb eines anerkannten Schulabschlusses kumulativ zu der positiven Integrationsprognose in § 25a Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG voraussetzt (vgl. BayVGH, B.v. 11.12.2017 – 10 ZB 17.1682 – juris Rn. 8). Gegen eine für den Kläger günstige Integrationsprognose spricht, dass er, obwohl er geltend macht, derzeit den (qualifizierten) Hauptschulabschluss abzulegen, bislang keine nennenswerten Anstrengungen für seine wirtschaftliche und soziale Integration unternommen hat, insbesondere wurden auch kein Ausbildungsplatzangebot bzw. Nachweise, dass sich der Kläger angesichts des erwarteten erfolgreichen Schulabschlusses um einen Ausbildungsplatz bemüht, vorgelegt.
Ein Aufenthaltstitel für andere Aufenthaltszwecke ist nicht streitgegenständlich (vgl. BayVGH, B.v. 12.2.2021 – 19 CE 21.6 – juris Rn 12; B.v. 18.3.2021 – 19 CE 21.363 – juris Rn. 11 zum sog. Trennungsprinzips).
2. Die Klage war demnach mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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