Verwaltungsrecht

Aufschiebende Wirkung der Klage, wenn keine offensichtliche Verfristung vorliegt; Bestandskraftvermerk gegenüber der Ausländerbehörde

Aktenzeichen  M 26 E 17.45694

Datum:
2.8.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO VwGO § 80 Abs. 5, § 123
AufenthG AufenthG § 11 Abs. 1
AsylG AsylG § 74 Abs. 1

 

Leitsatz

1. Wegen der möglichen Unrichtigkeit der Rechtsbehelfsbelehrung ist die Klage nicht offensichtlich verfristet bzw. unzulässig und hat aufschiebende Wirkung. (Rn. 16) (redaktioneller Leitsatz)
2. Zur Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes hat der Antragsteller gegenüber der Antragsgegnerin analog § 80 Abs. 5 S. 3 VwGO einen Anspruch darauf, die Wirkungen des jedenfalls derzeit so nicht haltbaren Bestandskraftvermerks des Bundesamtes gegnüber der Ausländerbehörde rückgängig zu machen. (Rn. 18) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Es wird festgestellt, dass die Klage des Antragstellers vom 12. Juli 2017 (Az. M 26 K 17.45693) gegen Nummer 5 des Bescheids des Bundesamtes für … vom 17. Januar 2017 im Zeitpunkt des vorliegenden Beschlusses aufschiebende Wirkung hat. Die Antragsgegnerin wird verpflichtet, der zuständigen zentralen Ausländerbehörde (Regierung von Oberbayern) sofort mitzuteilen, dass die Frage der Bestandskraft des Bescheides vom 17. Januar 2017 angesichts der anhängigen Klage M 26 K 17.45693 im Zeitpunkt der vorliegenden Eilentscheidung abweichend von der Abschlussmitteilung des Bundesamtes für … vom 14. Bzw. 19. Juni 2017 nicht feststeht.
II. Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

Gründe

I.
Der Antragsteller ist seinen eigenen Angaben zufolge afghanischer Staatsangehöriger, sunnitischen Glaubens, reiste am 7. Oktober 2015 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 26. Juli 2016 einen Asylantrag.
Mit Bescheid vom 17. Januar 2017 erkannte das Bundesamt für … (Bundesamt) dem Antragsteller die Flüchtlingseigenschaft nicht zu (Nr. 1 des Bescheids) und lehnte den Antrag auf Asylanerkennung ab (Nr. 2). Auch der subsidiäre Schutzstatus wurde nicht zuerkannt (Nr. 3). Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 des AufenthG lägen nicht vor (Nr. 4). Der Antragsteller wurde aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen; im Falle einer Klageerhebung ende die Ausreisefrist 30 Tage nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens. Sollte der Antragsteller die Ausreisefrist nicht einhalten, werde er nach Afghanistan oder in einen anderen Staat abgeschoben, in den er einreisen dürfe oder der zu seiner Rückübernahme verpflichtet sei (Nr. 5). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 6). Die dem Bescheid beigefügte Rechtsbehelfsbelehrung:enthielt den Hinweis, dass die Klage den Kläger, die Beklagte und den Gegenstand des Klagebegehrens bezeichnen und „in deutscher Sprache abgefasst“ sein müsse.
Ausweislich der bei den Akten befindlichen Postzustellungsurkunde waren sowohl eine Übergabe des Schriftstücks als auch die Einlegung in einen Briefkasten oder eine ähnliche Vorrichtung in der Gemeinschaftseinrichtung nicht möglich. Das Schriftstück sei daher bei der hierfür bestimmten Stelle, einer Postbankfiliale, niedergelegt worden. Die schriftliche Mitteilung über die Niederlegung sei dann in der bei gewöhnlichen Briefen üblichen Weise, nämlich im Hausbriefkasten, abgegeben worden. Der Antragsteller holte den Bescheid nicht ab, weshalb der Umschlag am 12. Mai 2017 wieder beim Bundesamt einging.
Mit Schreiben vom 14. Juni und 19. Juni 2017 teilte das Bundesamt der Ausländerbehörde mit, dass der Asylantrag des Antragstellers nun unanfechtbar abgelehnt worden sei. Bestandskraft sei am 23. Februar 2017 eingetreten, da der Bescheid am 8. Februar 2017 als zugestellt gelte. Die Abschiebungsandrohung sei am 26. März 2017 vollziehbar geworden.
Mit Schreiben vom 21. Juni 2017 teilte die Regierung von Oberbayern dem Bundesamt mit, dass die ausländerrechtliche Zuständigkeit wieder auf die zentrale Ausländerbehörde übergegangen sei.
Am 12. Juli 2017 ließ der Antragsteller Klage gegen den Bescheid des Bundesamts vom 17. Januar 2017 erheben. Zugleich beantragt er im gegenständlichen Verfahren:
Die Antragsgegnerin wird verpflichtet, gegenüber der zuständigen Ausländerbehörde zu erklären, dass diese dem Antragsteller weiterhin eine Gestattung ausstellen muss und diesen bis zur rechtskräftigen Entscheidung über seine Klage nicht nach Afghanistan abschieben darf.
Zur Begründung wird im Wesentlichen ausgeführt, der Antragsteller habe den Bescheid nicht erhalten. Die Post werde in der Gemeinschaftsunterkunft, in der ca. 300 bis 400 Personen leben, nicht einzeln ausgeteilt. Es gebe einen für alle Bewohner zugänglichen Behälter an der Wand, in dem die Post für alle Bewohner lande und auf den jeder Bewohner zu jeder Zeit Zugriff habe. Einen Hausbriefkasten gebe es nicht, daher sei die Feststellung in der Postzustellungsurkunde hinsichtlich der Einlegung der Benachrichtigungskarte in den Briefkasten unzutreffend. Erst am 3. Juli 2017 habe der Antragsteller auf die Nachfrage einer Sozialarbeiterin bei der zentralen Ausländerbehörde hin erfahren, dass schon vor fünf Monaten ein asylbescheid ergangen sei. Der Bevollmächtigte des Antragstellers habe den Bescheid sodann am 10. Juli 2017 vom Bundesamt erhalten. Es werde daher Wiedereinsetzung in die Klagefrist beantragt.
Das Bundesamt hat die Behördenakten vorgelegt, aber keinen Antrag gestellt.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten sowie die Behördenakte der Antragsgegnerin Bezug genommen.
II.
Der Antrag hat Erfolg.
Der Antrag, im Wege der einstweiligen Anordnung gemäß § 123 VwGO die Antragsgegnerin zu verpflichten, gegenüber der Ausländerbehörde zu erklären, dass diese den Antragsteller bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die Klage nicht nach Afghanistan abschieben darf, war gemäß § 88 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – im wohlverstandenen Interesse des Antragstellers zunächst dahingehend auszulegen, dass die Feststellung begehrt wird, dass der Klage vom 12. Juli 2017 aufschiebende Wirkung zukommt (§ 80 Abs. 5 VwGO analog; vgl. unten 1.) sowie das Bundesamt gemäß § 80 Abs. 5 Satz 3 VwGO analog zu verpflichten, die Wirkungen der Schreiben des Bundesamtes vom 14. Und 19. Juni 2017 rückgängig zu machen (s.u. 2.).
1. Der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO analog ist zulässig und begründet.
Aus § 123 Abs. 5 VwGO ergibt sich der Vorrang eines Verfahrens nach § 80 Abs. 5 VwGO, soweit es um den vorläufigen Rechtschutz hinsichtlich der Vollstreckbarkeit eines Verwaltungsakts geht. Dabei ist anerkannt, dass es auf die Fassung des gestellten Antrags nicht ankommt (§ 88 VwGO). Das Gericht muss je nach erkennbarem Ziel des Rechtsschutzbegehrens einen unter Bezugnahme auf § 80 Abs. 5 gestellten Antrag in einen solchen nach § 123 VwGO umdeuten, wenn der Sache nach nur ein solcher in Betracht kommt, sowie umgekehrt. Da bezüglich der in Nr. 5 des angefochtenen Bescheides enthaltenen Abschiebungsandrohung im Klageverfahren von einer Anfechtungsklage auszugehen ist (vgl. § 80 Abs. 1 VwGO), kommt grundsätzlich ein Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung in Betracht. Allerdings hat vorliegend die Klage bereits kraft Gesetzes aufschiebende Wirkung (§ 75 Abs. 1 i.V.m. § 38 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 80 Abs. 1 VwGO).
§ 80 Abs. 1 VwGO sieht für den Suspensiveffekt eines Widerspruchs oder einer Anfechtungsklage neben der Einlegung bzw. Erhebung keine weiteren Tatbestandsvoraussetzungen vor. Folglich entfalten diese Rechtsbehelfe nach der herrschenden Meinung grundsätzlich auch dann aufschiebende Wirkung, wenn sie unzulässig und/oder unbegründet sind. Denn dies – also die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs – zu klären ist Aufgabe des Verwaltungs- bzw. Klageverfahrens. Neben den in § 80 Abs. 2 VwGO normierten Fallgruppen lassen die weit überwiegende Rechtsprechung und die herrschende Lehre, welchen sich die erkennende Einzelrichterin (§ 76 Abs. 4 Satz 1 AsylG) vorliegend anschließt, eine Durchbrechung dieses Grundsatzes nur zu, wenn der gewählte Rechtsbehelf offensichtlich unzulässig ist (so bspw. BayVGH, B. v. 16. Juli 2002 – 10 CS 02.1548 – juris; vgl. zu den insoweit vertretenen Ansichten auch Eyermann, VwGO, Kommentar, 14. Auflage 2014, § 80 Rn. 13).
Trotz (deutlichem) Ablauf der Frist des § 74 Abs. 1 AsylG ist die in der Hauptsache erhobene Klage aber vorliegend jedenfalls nicht offensichtlich verfristet bzw. unzulässig. Denn es ist fraglich, ob die im Bescheid vom 8. Dezember 2016 enthaltene Rechtsbehelfsbelehrung:richtig ist oder ob wegen deren (möglicherweise vorliegenden) Unrichtigkeit als Klagefrist nicht vielmehr die Jahresfrist des § 58 Abs. 2 VwGO greift, welche ohne weiteres eingehalten ist. Zur (Un-)Richtigkeit der Rechtsbehelfsbelehrung:aufgrund der darin verwendeten Formulierung „in deutscher Sprache abgefasst“ werden innerhalb der deutschen Verwaltungsgerichtsbarkeit kontroverse Auffassungen vertreten (unrichtige Rechtsbehelfsbelehrung: VGH BW, U.v. 18.04.2017 – 9 S 333/17; VG Düsseldorf, GB v. 20.3.2017 – 5 K 3863/17.A; GB v. 28.06.2016 – 22 K 4119/15.A; VG Gelsenkirchen, U.v. 10.2.2017 – 3a K 4163/16.A; VG Hannover, B.v. 15.9.2016 – 3 B 4870/16; a.A. richtige Rechtsbehelfsbelehrung: VG Berlin, U.v. 24.1.2017 – 21 K 346.16 A; VG Düsseldorf, B.v. 1.3.2017 – 19 L 257/17.A; VG Gelsenkirchen, B.v. 15.11.2016 – 14a L 2496/16.A). Der Sache nach braucht dies aber im vorliegenden Eilverfahren nicht entschieden zu werden. Denn schon angesichts der o.g. Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg kann jedenfalls derzeit keine Rede davon sein, dass die Rechtsbehelfsbelehrung:offensichtlich richtig und damit die Klage offensichtlich unzulässig ist. Ausschließlich darauf, also auf das Kriterium der Offensichtlichkeit, kommt es aber bzgl. eines etwaigen Ausschlusses der aufschiebenden Wirkung an. Stattdessen verbleibt es vor diesem Hintergrund beim Grundsatz des § 80 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 75 Abs. 1 Var. 1, § 38 Abs. 1 AsylG, die Hauptsacheklage M 26 K 17.45693 hat aufschiebende Wirkung.
Nachdem die Antragsgegnerin ausweislich des in den Akten vorhandenen Bestandskraftvermerks aber vom nicht Eintritt der aufschiebenden Wirkung ausgeht, kann das Gericht in entsprechender Anwendung von § 80 Abs. 5 VwGO feststellen, dass der Hauptsacherechtsbehelf aufschiebende Wirkung hat (Kopp/Schenke, VwGO, 23. Auflage 2017, § 80, Rn. 181 mit umfassenden Nachweisen zur Rechtsprechung).
2. Zur Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes hat der Antragsteller gegenüber der Antragsgegnerin gemäß § 80 Abs. 5 Satz 3 VwGO analog auch einen Anspruch darauf, die Wirkungen der jedenfalls derzeit (im Zeitpunkt der vorliegenden Entscheidung) so nicht haltbaren Abschlussmitteilung des Bundesamtes vom 14. Bzw. 19. Juni 2017 rückgängig zu machen (vgl. dazu VG München, B. v. 26.4.2017 – M 17 S. 17.37173 – juris; VG München, B.v. 7.4.2017 – M 24 S. 17.35690 – bisher nicht veröffentlicht). Da den vorgelegten Akten des Bundesamts nicht zu entnehmen ist, dass die Abschlussmitteilung angesichts der erhobenen Klage inzwischen aufgehoben wurde, ist eine bevorstehende Vollstreckung nicht auszuschließen.
3. Die Antragsgegnerin hat gemäß § 154 Abs. 1 VwGO die Kosten des (gemäß § 83b AsylG gerichtskostenfreien) Eilverfahrens zu tragen.
4. Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).

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