Verwaltungsrecht

Erfolgreicher Antrag auf Zulassung der Berufung wegen Gehörsverstoßes durch Verwendung nicht ordnungsgemäß in den Prozess eingeführter Erkenntnismittel (Äthiopien)

Aktenzeichen  8 ZB 19.30971

Datum:
27.3.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 7240
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
GG Art. 103 Abs. 1
AsylG § 78 Abs. 3 Nr. 3
VwGO § 108 Abs. 2, § 138 Nr. 3

 

Leitsatz

1 Im gerichtlichen Asylverfahren besteht grundsätzlich die Pflicht des Gerichts, die Erkenntnismittel, auf die es seine Entscheidung zu stützen beabsichtigt, in einer Weise zu bezeichnen und in das Verfahren einzuführen, die es den Verfahrensbeteiligten ermöglicht, diese zur Kenntnis zu nehmen und sich zu ihnen zu äußern; dafür reicht es grundsätzlich aus, dass das Gericht den Beteiligten eine Liste der betreffenden Erkenntnismittel übersendet (Anschluss an VGH BW BeckRS 2017, 104758). (redaktioneller Leitsatz)
2 Infolge der grundlegenden Änderung der politischen Verhältnisse in Äthiopien seit April 2018 müssen Personen wegen ihrer Mitgliedschaft in einer in Deutschland exilpolitisch tätigen Organisation, die einer der in Äthiopien bis Sommer 2018 als Terrororganisation eingestuften Organisation nahesteht, oder wegen einer exilpolitischen Tätigkeit für eine solche Organisation bei ihrer Rückkehr nach Äthiopien grundsätzlich nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgungsmaßnahmen befürchten (Fortführung von BayVGH BeckRS 2019, 2276). (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

RO 2 K 17.33030 2019-01-30 Urt VGREGENSBURG VG Regensburg

Tenor

Die Berufung wird zugelassen.

Gründe

Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung hat Erfolg.
1. Die Berufung ist wegen eines Verfahrensmangels im Sinne von § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i.V.m. § 138 Nr. 3 VwGO zuzulassen.
Der geltend gemachte Verfahrensmangel der Versagung des rechtlichen Gehörs (§ 108 Abs. 2 VwGO, Art. 103 Abs. 1 GG, Art. 91 Abs. 1 BV) liegt vor. Das rechtliche Gehör als prozessuales Grundrecht gebietet, dass ein Urteil nur auf solche Tatsachen und Beweismittel – einschließlich Presseberichte und Behördenauskünfte – gestützt werden darf, die von einem Verfahrensbeteiligten oder dem Gericht im Einzelnen bezeichnet zum Gegenstand des Verfahrens gemacht wurden und zu denen sich die Beteiligten äußern konnten (vgl. BVerfG, B.v. 3.11.1959 – 1 BvR 13/59 – BVerfGE 10,177/182 = juris Rn. 14; B.v. 18.6.1985 – 2 BvR 414/84 – BVerfGE 70, 180, 189 = juris Rn. 27; Berlit in GK-AsylG, Stand März 2018, § 78 Rn. 322). Diese Pflicht besteht unabhängig davon, dass offenkundige Tatsachen gemäß § 291 ZPO keines Beweises bedürfen. Die Frage, ob Beweis erhoben werden muss, ist von der Frage zu trennen, ob eine Tatsache verwertet werden darf bzw. ob und wie diese in den Prozess einzuführen ist (vgl. BVerfG, B.v. 3.11.1959 – 1 BvR 13/59 – BVerfGE 10,177/183 = juris Rn. 15; Greger in Zöller, ZPO, 32. Aufl. 2018, § 291 Rn. 4). Die Verpflichtung zur sach- und zweckgerichteten Gehörsgewährung kann auch nicht mit der Erwägung verneint werden, das Urteil beruhe auf einer wertenden Erkenntnis und auf einer Überzeugungsbildung, die keines Nachweises und keiner weiteren Darlegung bedürfe; denn nur bei Offenlegung der Erkenntnisquellen über die der Entscheidungsfindung zugrunde gelegten tatsächlichen Umstände wird den Beteiligten eine effektive Prozessführung ermöglicht und die Gelegenheit eröffnet, durch Vortrag und Anträge auf die Zusammensetzung des Quellenmaterials Einfluss zu nehmen.
Hieraus folgt im gerichtlichen Asylverfahren grundsätzlich die Pflicht des Gerichts, die Erkenntnismittel, auf die es seine Entscheidung zu stützen beabsichtigt, in einer Weise zu bezeichnen und in das Verfahren einzuführen, die es den Verfahrensbeteiligten ermöglicht, diese zur Kenntnis zu nehmen und sich zu ihnen zu äußern (vgl. VGH BW, B.v. 9.3.2017 – A 12 S 235/17 – juris Rn. 6; NdsOVG, B.v. 8.7.2014 – 13 LA 16/14 – InfAuslR 2014, 458 = juris Rn. 4). Lediglich auf offenkundige Tatsachen, die allen Beteiligten gegenwärtig sind und von denen sie wissen, dass sie für die Entscheidung erheblich sein können, darf die Entscheidung auch ohne ausdrücklichen Hinweis gestützt werden. Für eine ordnungsgemäße Einführung in das Verfahren reicht es dabei grundsätzlich aus, dass das Gericht den Beteiligten eine Liste der betreffenden Erkenntnismittel übersendet (vgl. VGH BW, B.v. 9.3.2017 – A 12 S 235/17 – juris Rn. 6; NdsOVG, B.v. 8.7.2014 – 13 LA 16/14 – InfAuslR 2014, 458).
Gemessen an diesen Grundsätzen ist hier ein Gehörsverstoß gegeben. Ein Teil der vom Gericht entscheidungstragend verwendeten Erkenntnismittel sind nicht ordnungsgemäß in den Prozess eingeführt worden. Das Verwaltungsgericht hat in seiner Entscheidung darauf abgestellt, dass unter Berücksichtigung der Ereignisse im Jahr 2018 in Äthiopien nicht davon auszugehen ist, dass eine Verfolgung von nicht herausgehoben politisch tätigen Personen beachtlich wahrscheinlich wäre (Urteilsabdruck S. 9). Bei der anschließenden Darstellung der diese Einschätzung des Gerichts stützenden Entwicklungen des Jahres 2018 werden vor allem Presseberichte der BBC, des Portals africanews und jeune afrique bzw. ein facebook-Account zitiert. Diese Pressemeldungen waren weder in der zusammen mit der Terminsladung übersandten Auskunftsliste Äthiopien (Stand: 22.10.2018) enthalten noch auf andere Weise zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht worden. Es ist nicht ersichtlich, dass diese Informationen allen Beteiligten gegenwärtig gewesen sind und dass sie sich der Entscheidungserheblichkeit bewusst waren. Die vom Verwaltungsgericht getroffenen Feststellungen zur aktuellen politischen Lage in Äthiopien ergeben sich auch nicht aus anderen – vom Gericht in das Verfahren eingeführten – Erkenntnismitteln. Dies ist der Entscheidung selbst zu entnehmen, indem dort „zu den meisten der im Folgenden mit Primärquellen zitierten Entwicklungen“ auf das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Äthiopien, BFA Österreich vom 8. Januar 2019 und auf den Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 17. Oktober 2018 verwiesen wird (vgl. Urteilsabdruck S. 9). Das Urteil beruht auch auf dem dargestellten Verstoß, da nicht ausgeschlossen werden kann, dass der Kläger ohne ihn im Einzelnen noch spezifiziert vorgetragen und gegebenenfalls weiteren Beweis angetreten hätte.
2. Der Senat erwägt, nach § 130 a VwGO die Berufung entsprechend seiner im beigefügten Urteil vom 13. Februar 2019 – 8 B 17.31645 – niedergelegten Rechtsprechung zurückzuweisen. Nach einhelliger Auffassung des Senats müssen infolge der grundlegenden Änderung der politischen Verhältnisse in Äthiopien seit April 2018 Personen – wie der Kläger – wegen ihrer Mitgliedschaft in einer in Deutschland exilpolitisch tätigen Organisation, die – wie die TBOJ/UOSG – einer der in Äthiopien bis Sommer 2018 als Terrororganisation eingestuften Organisation nahesteht, oder wegen einer exilpolitischen Tätigkeit für eine solche Organisation bei ihrer Rückkehr nach Äthiopien grundsätzlich nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgungsmaßnahmen befürchten (vgl. Leitsatz und Rn. 43 des Urteilsabdrucks).
Die Beteiligten können sich dazu binnen vier Wochen ab Zugang der Berufungsbegründung äußern. Auf die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 12. September 2018 – 1 B 50.18 u.a. – juris Rn. 21 ff. wird hingewiesen.
3. Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.


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