Verwaltungsrecht

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Aktenzeichen  B 1 S 20.897

Datum:
27.10.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 40884
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Bayreuth
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
StVG § 4 Abs. 5 S. 1 Nr. 3
StVG § 29 Abs. 6, Abs. 7
VwGO § 80 Abs. 5

 

Leitsatz

Tenor

1. Die Anordnung der sofortigen Vollziehung der Ziffer 2 des Bescheids in Ziffer 4 wird aufgehoben.
Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt.
2. Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.
3. Der Streitwert wird auf 5.000,00 EUR festgesetzt.

Gründe

I.
Der Antragsteller wendet sich gegen die Entziehung seiner Fahrerlaubnis.
Das Fahreignungsregister ergibt folgende Eintragungen:
Tattag
Entscheidung
Rechtskraft
Speicherung
Tilgungsreife
Ahndung
1
07.01.2016
18.02.2016
08.03.2016
16.03.2016
08.09.2018
1 P.
2
14.04.2017
13.06.2017
01.07.2017
18.07.2017
01.01.2020
1 P.
3
06.11.2017
01.02.2018
17.02.2018
21.03.2018
17.08.2020
1 P.
4
14.11.2017
07.02.2018
27.02.2018
28.02.2018
27.08.2020
1 P.
5
27.01.2018
06.04.2018
25.04.2018
11.05.2018
25.10.2020
1 P.
6
18.09.2018
12.11.2018
29.11.2018
14.12.2018
29.05.2021
1 P.
7
20.07.2019
27.09.2019
04.10.2019
08.10.2019
04.04.2022
1 P.
8
17.10.2019
17.04.2020
02.05.2020
02.07.2020
02.05.2025
2 P.
Mit Schreiben vom 9. Mai 2018 wurde der Antragsteller zu einem Punktestand von vier Punkten ermahnt und auf die Möglichkeit eines Fahreignungsseminars mit Punktabzug hingewiesen. Es wurde auf die Verstöße Nrn. 1-4 Bezug genommen.
Mit Schreiben vom 5. November 2019 wurde der Antragsteller zu einem Punktestand von sechs Punkten ermahnt und auf die Möglichkeit eines Fahreignungsseminars ohne Punktabzug und den Entzug der Fahrerlaubnis bei 8 Punkten hingewiesen. Es wurde auf die Verstöße Nrn. 2-7 Bezug genommen.
Am 11. Januar 2020 wurde dem Antragsteller eine Teilnahmebescheinigung gemäß § 44 FeV ausgestellt.
Mit Schreiben vom 21. Juli 2020 leitete das Landratsamt … (im Folgenden Landratsamt) gemäß § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG das Verfahren zur Entziehung der Fahrerlaubnis ein. Dies wurde damit begründet, dass im Fahreignungsregister 8 Punkte eingetragen seien. Ein Punktabzug infolge des absolvierten Fahreignungsseminars sei nicht möglich, da § 4 Abs. 7 StVG voraussetze, dass im Zeitpunkt der Ausstellung der Teilnahmebescheinigung (11. Januar 2020) maximal 5 Punkte im Fahreignungsregister eingetragen sind, während es beim Antragsteller 8 Punkte gewesen seien. Dem Antragsteller wurde eine Frist bis zum 4. August 2020 zur Äußerung gegeben. Dem Bescheid hing eine Tabelle über die der Entziehung zugrundeliegenden Verstöße an.
Der Antragsteller äußerte sich nicht.
Mit Bescheid vom 20. August 2020, dem damaligen Bevollmächtigten zugestellt am 21. August 2020, entzog das Landratsamt dem Antragsteller die Fahrerlaubnis der Klassen B, BE, A, A1, A2, L und AM (Ziffer 1). Der Führerschein sei unverzüglich beim Landratsamt abzugeben (Ziffer 2). Unter Ziffer 3 wurde ein Zwangsgeld in Höhe von 300,00 EUR für den Fall der Nichtbefolgung von Ziffer 2 innerhalb einer Woche nach Zustellung des Bescheids angedroht. Unter Ziffer 4 wurde die sofortige Vollziehung der Ziffern 1 und 2 angeordnet. Dem Antragsteller wurden die Kosten des Verfahrens in Höhe einer Gebühr von 200,00 EUR und Auslagen in Höhe von 4,11 EUR auferlegt (Ziffer 5).
Dies begründete das Landratsamt damit, dass sich nach den Eintragungen im Fahreignungsregister acht Punkte ergeben und die Fahrerlaubnis daher zu entziehen sei.
Mit Schriftsatz seiner Bevollmächtigten vom 21. September 2020, eingegangen bei Gericht am selben Tag, erhob der Antragsteller gegen den Bescheid des Landratsamtes … vom 20. August 2020, …, Klage (B 1 K 20.898). Gleichzeitig beantragte er mit Schriftsatz vom selben Tag, eingegangen bei Gericht am selben Tag, die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid vom 20.08.2020, …, anzuordnen.
Der Antragsteller behauptet, auf seinen Führerschein zur Durchführung von teilweise zeitlich oder örtlich nicht langfristig planbaren Fahrten im Rahmen der beruflichen Tätigkeit dringend angewiesen zu sein, da er selbstständiger Geschäftsmann sei.
In der Klagebegründung, auf die verwiesen werde, trägt er vor, dass er hinsichtlich des letzten Verstoßes vom 17. Oktober 2019 von der Erteilung eines einmonatigen Fahrverbots gewusst, aber keine Kenntnis davon gehabt habe, wann dieses angetreten werden musste. Ihm sei nicht mitgeteilt worden, dass dieses sofort anzutreten gewesen sei. Den diesbezüglichen Strafbefehl habe er akzeptiert, ohne sich über die Folgen klar gewesen zu sein.
Der Antragsteller vertritt die Rechtsauffassung, der Bescheid sei rechtswidrig, weil die Punkteberechnung zu beanstanden sei. Unter Verweis auf die Begründung der Klage trägt er vor, dass zwar die Eintragung vom 8. März 2016 (Anm.: wohl Verstoß vom 7. Januar 2016 gemeint) zutreffend unberücksichtigt geblieben sei, aber die weiteren Eintragungen aufgrund von Verurteilungen auf Basis der StVO in der Fassung seit 2013 i.V.m. dem Bußgeldkatalog zustande gekommen seien. Die StVO-Novelle enthalte aber Formfehler, da das verfassungsmäßige Zitiergebot nicht beachtet worden sei, indem die Ermächtigungsnorm nicht zitiert worden sei. Soweit die StVO insoweit nichtig sei, sei eine Wiederaufnahme des Verfahrens möglich bzw. die Vollstreckung auszusetzen. Insbesondere müssten die Eintragungen vom 27. Februar 2018 (Anm.: Verstoß vom 14. November 2017), 25. April 2018 (Anm.: Verstoß vom 27. Januar 2018) und 4. Oktober 2019 (Anm.: Verstoß vom 20. Juli 2019) rückgängig gemacht werden. Sodann ergebe sich lediglich ein Punktestand von fünf Punkten zum Zeitpunkt des 17. Oktobers 2019. In der Folge hätte auch das Fahreignungsseminar den Abzug von einem Punkt zur Folge gehabt. Am 1. Januar 2020, 17. und 27. August 2020 seien weitere Punkte tilgungsreif gewesen.
Die Verwarnung vom 5. November 2019 sei ergangen, als bereits der Verstoß vom 17. Oktober 2019 bekannt gewesen sei, sodass die Verwarnung nicht mehr hätte erfolgen dürfen. Der Antragsteller habe auf die Mitteilung in der Verwarnung vertraut, sodass ein Fahreignungsseminar noch sinnvoll gewesen wäre.
Ein Abwarten auf den Ausgang des Hauptsacheverfahrens sei dem Antragsteller nicht zuzumuten. Sein Interesse an der aufschiebenden Wirkung überwiege, da er seit dem letzten Vorfall ein Fahreignungsseminar durchgeführt habe, mithin seine Fahreignung tendenziell verbessert habe und weitere Punkte tilgungsreif seien, der letzte Verstoß fährlässig gewesen sein dürfte, über ein Jahr zurückliege und keine weiteren Punkte hinzugekommen seien. Eine Zeit ohne Führerschein könne nicht nachgeholt werden.
Der Antragsgegner beantragt mit Schriftsatz vom 1. Oktober 2020 den Antrag abzulehnen.
Soweit die Bevollmächtigte des Antragstellers die Rechtsauffassung vertritt, der Punktestand habe sich zum Zeitpunkt des Bescheiderlasses auf lediglich 5 Punkte belaufen, da die Eintragungen aufgrund der Tat vom 14.11.2017, 27.1.2018 und 20.7.2019 wegen Nichtigkeit der Neufassung der StVO rückgängig zu machen seien, treffe dies nicht zu, weil selbst im Falle der Teilnichtigkeit von Änderungen der StVO die zugrundeliegenden relevanten Vorschriften zu den Geschwindigkeitsverstößen im maßgeblichen Zeitraum nicht geändert worden seien.
Der Punktabzug vom 1.1.2020 und weitere Tilgungen vom 17. und 27. August 2020 seien erst nach Begehung der letzten maßgeblichen Tat am 17. Oktober 2019 eingetreten, welcher gemäß § 4 Abs. 5 Satz 5 StVG maßgeblicher Zeitpunkt für die Entziehung sei. Diese letzte Tat sei am 2. Juli 2020 gespeichert worden und dürfe nach § 29 Abs. 6 Satz 3 Nr. 2 StVG für die Entziehung genutzt werden. Ein Punkteabbau durch das Fahreignungsseminar nach der Verwarnung sei nicht mehr möglich gewesen.
Die Prüfung der Behörde, ob die Maßnahme der vorangehenden Stufe bereits ergriffen worden ist, sei nach dem Kenntnisstand der Behörde bei der Bearbeitung zu beurteilen und beeinflusse das Entstehen von Punkten nicht. Auch würden Zuwiderhandlungen gemäß § 4 Abs. 5 Satz 6 Nr. 1 StVG unabhängig davon berücksichtigt, ob nach deren Begehung bereits Maßnahmen ergriffen worden seien. Jedenfalls sei die Verwarnung vom 5. November 2019 vor Kenntnis der letzten Tat am 17. Oktober 2019 erfolgt, da diese erst nach Rechtskraft am 2. Juli 2020 gespeichert worden sei und Punkte, von denen die Behörde erst nach einer etwaigen Verringerung i.S.d. § 4 Abs. 6 Satz 3 StVG Kenntnis erhält, auch wenn sie vor der Verringerung begangen worden sind, den Punktestand gemäß § 4 Abs. 6 Satz 4 StVG erhöhen würden.
Die Bevollmächtigte des Antragstellers erwidert, es treffe nicht zu, dass die mögliche Teilunwirksamkeit der StVO, Neufassung 2013, ohne Relevanz bleibe. Die Eintragung von Punkten richte sich nicht nach dem Verstoß, sondern der tatsächlichen Ahndung. Es werde beispielsweise kein Punkt eingetragen, wenn eine Verwarnung eingetragen werde (früher 3 Punkte). Aus diesem Grund sei auch die Höhe der Geldbußen bzw. seien festgesetzte Verwarnungen maßgeblich. Durch die StVO 2013 seien diverse Bußgelder mit der Folge angehoben worden, dass auch niederschwelliger bereits ein Punkt erteilt worden sei. Es sei daher nicht auszuschließen, dass der Punktestand ganz und gar unrichtig ist.
Im Hinblick auf die erfolgte Verwarnung vertrete sie die Rechtsauffassung, dass die Verwarnung ihren Warn- und Abmahneffekt nicht für vor der Verwarnung liegende, sondern nur für darauffolgende Verstöße erfüllen könne. Jedenfalls habe die Fahrerlaubnisbehörde unter Verweis auf die Rechtsprechung des OVG Magdeburg vom 18. August 2020 – M 49/20 – für die Frage, ob die Stufenfolge eingehalten wurde, einen tatsächlichen Zugang der Verwarnung zu beweisen. Dies betreffe zwar nicht die Frage des Zeitpunktes des Zugangs, jedoch sei eine erst nach dem zur letzten Stufe führenden Verstoß zugehende Verwarnung nicht geeignet die Stufenfolge einzuhalten. Würde die Stufenfolge unabhängig vom Zeitpunkt des Zugangs der Verwarnung und des zur Entziehung führenden Verstoßes als eingehalten angesehen werden, könne ebensogut überhaupt keine Verwarnung ergehen. Es sei aber zwingend, dass eine Verwarnung zugehe.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Behördenakten ergänzend Bezug genommen (§ 117 Abs. 3 Satz 2 VwGO entsprechend).
II.
Der Antrag ist hinsichtlich Ziffer 1 zulässig, aber unbegründet. Hinsichtlich Ziffer 2 hat der Antrag teilweise Erfolg. Hinsichtlich Ziffern 3, 4 und 5 ist der Antrag bereits unzulässig.
1. Die Unzulässigkeit des Antrags hinsichtlich Ziffern 3, 4 und 5 ergibt sich aus folgenden Gesichtspunkten:
a. Eine Klage gegen Ziffer 5 hat gemäß § 80 Abs. 1 Satz 1 VwGO aufschiebende Wirkung, sodass der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO nicht erforderlich ist. Die sofortige Vollziehung ist diesbezüglich nicht angeordnet.
b. Der Antrag gegen Ziffer 4 ist unzulässig, da es sich bei der Anordnung der sofortigen Vollziehung nicht um einen Verwaltungsakt handelt, der für einen Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO Voraussetzung ist.
c. Der Antrag gegen Ziffer 3 (Androhung eines Zwangsgeldes) ist unzulässig, da der Antragsteller der Verpflichtung zur Abgabe seines Führerscheins nachgekommen ist und sich die Zwangsgeldandrohung dadurch erledigt (vgl. BayVGH, B.v. 22.9.2015 – 11 CS 15.1447 – BeckRS 2015, 53539 Rn. 12). Es ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich, dass die Fahrerlaubnisbehörde das in Ziffer 3 des Bescheids angedrohte Zwangsgeld entgegen der Vorschrift des Art. 37 Abs. 4 Satz 1 Bayerisches Verwaltungszustellungs- und Vollstreckungsgesetz (VwZVG) gleichwohl noch beitreiben wird (vgl. VG München B.v. 27.4.2017 – 6 S 16.5923 – BeckRS 2017, 128048 Rn. 22).
Soweit die Anordnung der sofortigen Vollziehung der Ziffer 2 des Bescheids aufgehoben wird (dazu unter 2.a.), hat die gleichzeitig mit dem Antrag erhobene KIage gegen Ziffer 2 des Bescheids in der Folge aufschiebende Wirkung und die allgemeinen Vollstreckungsvoraussetzungen des Art. 19 Abs. 1 BayVwZVG liegen nicht mehr vor, sodass eine Beitreibung des Zwangsgeldes nicht droht.
2. Nach § 80 Abs. 5 VwGO kann das Gericht die aufschiebende Wirkung eines Rechtsbehelfs im Fall des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO ganz oder teilweise wiederherstellen bzw. im Fall des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr.1 bis 3 VwGO ganz oder teilweise anordnen.
Bei der Entscheidung hat das Gericht eine eigene Ermessensentscheidung zu treffen, bei der das Interesse der Allgemeinheit an der sofortigen Vollziehung gegen das Interesse des Betroffenen an der aufschiebenden Wirkung abzuwägen ist. Dabei sind auch die überschaubaren Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs zu berücksichtigen. Sind diese im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung offen, ist eine reine Interessenabwägung vorzunehmen. Das Gericht prüft im Fall des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO auch, ob die formellen Voraussetzungen für die Anordnung der sofortigen Vollziehung gegeben sind.
Bei Zugrundelegung dieser Maßstäbe ist der vorliegende Antrag überwiegend abzulehnen, da die Klage des Antragstellers nach summarischer Überprüfung aller Voraussicht nach ohne Erfolg bleiben wird. Das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung des angefochtenen Bescheids wiegt insoweit schwerer als das Interesse des Antragstellers an der Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage.
a. Die Anordnung der sofortigen Vollziehung ist nur teilweise rechtmäßig erfolgt. Nach § 80 Abs. 3 VwGO ist die Anordnung der sofortigen Vollziehung schriftlich zu begründen. Dabei hat die Behörde unter Würdigung des jeweiligen Einzelfalls darzulegen, warum sie abweichend vom Regelfall der aufschiebenden Wirkung, die Widerspruch und Klage grundsätzlich zukommt, die sofortige Vollziehbarkeit des Verwaltungsaktes angeordnet hat.
Eine Überprüfung der Anordnung hinsichtlich Ziffer 1 des Bescheids ist trotz der Ausführungen des Landratsamtes hierzu nicht angezeigt, da die aufschiebende Wirkung gemäß § 4 Abs. 9 StVG kraft Gesetzes entfällt. Die Anordnung der sofortigen Vollziehung geht daher ins Leere (vgl. BayVGH, B.v. 23.9.2019 – 11 CS 19.1550 – BeckRS 2019, 27590 Rn. 15).
Hinsichtlich Ziffer 2 des Bescheids entfällt die aufschiebende Wirkung nicht gemäß § 47 Abs. 1 Satz 1 und 2 FeV i.V.m. § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO, sodass die Anordnung der sofortigen Vollziehung diesbezüglich nicht ins Leere geht (vgl. BayVGH, B.v. 22.9.2015 – 11 CS 15.1447 – BeckRS 2015, 53539 Rn. 23). Die Begründung der Anordnung der sofortigen Vollziehung hinsichtlich Ziffer 2 genügt den formellen Anforderungen nicht.
An den Inhalt der Begründung sind im Fahrerlaubnisrecht zwar keine zu hohen Anforderungen zu stellen. Dies muss erst recht gelten, wenn – wie hier mit der Verpflichtung zur Abgabe des Führerscheins – lediglich ein Vollzugsakt bzw. eine Nebenverfügung zu einem kraft Gesetzes sofort vollziehbaren Verwaltungsakt – wie hier der Entziehung der Fahrerlaubnis gemäß § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG – inmitten steht. Vorliegend hat das Landratsamt aber zur sofortigen Vollziehung der Abgabeverpflichtung keine Ausführungen gemacht. Es beschränkt sich auf die Ausführungen, dass der sofortige Vollzug „dieses Bescheides“ im öffentlichen Interesse angeordnet werde. Denn es sei mit den Belangen der Verkehrssicherheit nicht zu vereinbaren, dass am öffentlichen Straßenverkehr Personen als Führer von Kraftfahrzeugen teilnehmen, obwohl sie sich hierzu als ungeeignet erwiesen hätten. Dieses von der Behörde wahrzunehmende Interesse am sofortigen Schutz der übrigen Verkehrsteilnehmer überwiege das Interesse des Antragstellers bis zu einem rechtskräftigen Abschluss des Entzugsverfahrens vorläufig weiter von der entzogenen Fahrerlaubnis Gebrauch machen zu können. Die weitere Teilnahme am öffentlichen Straßenverkehr sei deshalb mit sofortiger Wirkung zu verhindern. Es könne nicht zugelassen werden, dass durch das Einlegen von Rechtsbehelfen die Wirksamkeit der Fahrerlaubnisentziehung hinausgezögert und damit – jedenfalls vorläufig – eine weitere Teilnahme am Straßenverkehr ermöglicht werde, die zu einer Gefährdung führen könnte.
Damit wird deutlich, dass sich diese Begründung allein auf die (überflüssige) sofortige Vollziehung der Ziffer 1 des Bescheids bezieht, da ausschließlich die Gefahr des Führens eines Kraftfahrzeugs trotz fehlender Eignung thematisiert wurde. Wie das Landratsamt aber in seinem Bescheid auf Seite 2 ausführt, erlischt die Fahrerlaubnis mit der Entziehung unabhängig vom weiteren Besitz des Führerscheins. Warum der Antragsteller also seinen Führerschein nicht behalten darf bis zum rechtskräftigen Abschluss der Hauptsache wurde mit keinem Wort angesprochen. Insbesondere wurde die sofortige Vollziehung nicht etwa damit begründet, dass im Fall der kraft Gesetzes sofort vollziehbaren Entziehung der Fahrerlaubnis ein überwiegendes öffentliches Interesse an der Beseitigung des durch den Führerschein vermittelten Rechtsscheins besteht, wobei es nicht einmal einzelfallbezogener Erwägungen dergestalt bedurft hätte, dass in der Person des Antragstellers konkrete Anhaltspunkte für das Vortäuschen des Innehabens einer Fahrerlaubnis bestehen (vgl. VG München, B.v. 8.7.2020 – 6 S 20.2061 – BeckRS 2020, 20547 Rn. 22, 23).
Eine fehlende oder im Sinne von Abs. 3 unzureichende Begründung kann nicht durch eine Nachholung oder Nachbesserung geheilt werden. Vielmehr bleibt der Verwaltungsbehörde lediglich, die Vollziehbarkeitsanordnung erneut, mit gesetzeskonformer Begründung zu erlassen (vgl. Eyermann/Hoppe, 15. Aufl. 2019, VwGO § 80 Rn. 56).
Dagegen bestehen keine Bedenken gegen die Rechtmäßigkeit der Ablieferungspflicht in Ziffer 2 als solche, sodass die aufschiebende Wirkung gegen Ziffer 2 nicht aus diesem Grund wiederherzustellen war, sondern lediglich die Anordnung der sofortigen Vollziehung aufzuheben war. Nachdem dem Antragsteller die Fahrerlaubnis nach summarischer Prüfung zu Recht entzogen worden ist (dazu unter b.), ist die Abgabeverpflichtung als begleitende Anordnung nach § 47 Abs. 1 FeV geboten.
b. Nach summarischer Prüfung erweist sich die Entziehung der Fahrerlaubnis als rechtmäßig und verletzt den Antragsteller daher nicht in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
Die Stufen nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem wurden beachtet. Der Kläger wurde mit Schreiben vom 9. Mai 2018, zugestellt am 11. Mai 2018, ermahnt und auf die Möglichkeit des Fahreignungsseminars hingewiesen, § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1, Satz 2 StVG. Die Verwarnung samt den Hinweisen nach § 4 Abs. 5 Satz 2 StVG sowie § 4 Abs. 5 Satz 3 StVG erfolgte mit Schreiben vom 5. November 2019, zugestellt am 6. November 2019.
Der Kläger wurde am 21. Juli 2020 zur beabsichtigten Entziehung angehört. Als dritte Stufe wurde die Entziehung zutreffend angewendet.
aa. Herangezogen wurden von der Behörde die Verstöße vom 14. April 2017, 6. November 2017, 14. November 2017, 27. Januar 2018, 18. September 2018, 20. Juli 2019 und 17. Oktober 2019.
Die Berechnung der Punkteanzahl anhand einer Überprüfung der Richtigkeit der Punktebewertung erfolgt in eigener Verantwortung der Behörde anhand der rechtskräftigen Entscheidung über die Straftat oder Ordnungswidrigkeit ohne an die vom Kraftfahrtbundesamt mitgeteilte Punktanzahl gebunden zu sein. Dies gilt ebenso für die Gerichte (vgl. BVerwG, B.v. 15.12.2006 – 3 B 49/06 – juris Rn. 5).
Im maßgeblichen Zeitpunkt des 17. Oktober 2019 als letztem Tattag vor der Entziehung gemäß § 4 Abs. 5 Satz 5 StVG ergibt sich ein zutreffend berechneter Punktestand von acht Punkten.
Eine inhaltliche Überprüfung, ob der Antragsteller die Ordnungswidrigkeit / Straftat begangen hat, findet nicht statt. Die Fahrerlaubnisbehörde ist an die rechtskräftige Entscheidung gebunden, § 4 Abs. 5 Satz 4 StVG. Die Behauptung des Antragstellers, der letzte Verstoß vom 17. Oktober 2019 dürfte lediglich fahrlässig gewesen sein, bleibt daher unberücksichtigt.
Sein Einwand, die Verwarnung sei ergangen, nachdem bereits ein weiterer Verstoß am 17. Oktober 2019 begangen worden war und bewirke deshalb, dass das Stufensystem nicht ordnungsgemäß durchlaufen ist, verfängt nicht.
Nach § 4 Abs. 5 Satz 6 Nr. 1 StVG werden bei der Berechnung des Punktestandes im Zeitpunkt des letzten Tattags Zuwiderhandlungen unabhängig davon berücksichtigt, ob nach deren Begehung bereits Maßnahmen (insbesondere Verwarnung) ergriffen worden sind.
Der Antragsteller hat das Stufensystem durchlaufen, ohne dass eine Punktereduzierung eingetreten wäre. Die Fahrerlaubnisbehörde ermahnte ihn mit Schreiben vom 9. Mai 2018 bei einem angenommenen Stand von vier Punkten. Dass sich der Punktestand zu diesem Zeitpunkt bereits auf fünf Punkte erhöht hatte durch den Verstoß vom 27. Januar 2018 (rechtskräftig 25. April 2018), ist unschädlich, da auch bei fünf Punkten eine Ermahnung auszusprechen gewesen wäre und ein Punktabzug durch ein Fahreignungsseminar noch möglich gewesen wäre. Das Landratsamt hat im Übrigen die Mitteilung vom Kraftfahrtbundesamt vom 22. März 2018 am 9. April 2018 und damit vor Eintragung des letzten Verstoßes erhalten. Dieser wurde dem Kraftfahrtbundesamt erst am 9. Mai 2018 mitgeteilt und am 11. Mai 2018 – zwei Tage nach Erlass der Ermahnung – gespeichert, sodass eine Berücksichtigung seitens des Landratsamtes nicht mehr möglich war (vgl. BayVGH, B.v. 23.9.2019 – 11 CS 19.1550 – BeckRS 2019, 27590).
Der Antragsteller hat auch die zweite Stufe des Fahreignungssystems ordnungsgemäß durchlaufen. Die Fahrerlaubnisbehörde verwarnte ihn bei einem auf den Tattag 20. Juli 2019 bezogenen Schreiben vom 5. November 2019 nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 StVG. Der Punktestand verringerte sich dadurch nicht nach § 4 Abs. 6 Satz 3 Nr. 2 StVG mit Wirkung des Tags des Ausstellens der ergriffenen Verwarnung auf sieben Punkte. Zwar war die weitere Tat vom 17. Oktober 2019 beim Ausstellen der Verwarnung bereits begangen, aber nicht rechtskräftig und nicht eingetragen und dem Antragsgegner nach eigenen Angaben auch nicht bekannt, sodass dieser Verkehrsverstoß bei der Verwarnung noch keine Berücksichtigung finden konnte. Hierfür spricht auch die zwischen Begehung und Erlass der Verwarnung liegenden Zeitspanne von nur knapp drei Wochen. Im Übrigen führte die spätere Eintragung der Straftat, die der Antragsteller am 17. Oktober 2019 begangen hat, auch nicht zu einem höheren Punktestand am für die Verwarnung maßgeblichen Tattag 20. Juli 2019, sondern erst am 17. Oktober 2019.
Bei der Frage, ob dem Betreffenden eine Punkteverringerung nach § 4 Abs. 6 Satz 3 StVG zugutekommt, ist nach dem Gesetzeswortlaut des § 4 Abs. 6 Sätze 1 und 2 StVG nicht auf den Zeitpunkt der rechtskräftigen Ahndung oder Eintragung im Fahreignungsregister der letzten zu berücksichtigenden Zuwiderhandlung abzustellen, sondern es kommt allein darauf an, ob bei Ergreifen der weiteren Maßnahme die vorherige Maßnahme tatsächlich schon rechtmäßig ergriffen wurde. Vorliegend war – anders als im Urteil des BayVGH vom 11. August 2015 – 11 BV 15.909 – weder eine Entscheidung ergangen noch Rechtskraft eingetreten, sodass dies erst recht gelten muss. Diese Auslegung wird auch durch den Wortlaut des § 4 Abs. 6 Satz 4 StVG gestützt, der besagt, dass auch im Falle einer Verringerung der Punktezahl nach Satz 3 der Vorschrift Punkte für Zuwiderhandlungen, die vor der Verringerung nach Satz 3 begangen worden sind und von denen die nach Landesrecht zuständige Behörde erst nach der Verringerung Kenntnis erhält, den sich nach Satz 3 ergebenen Punktestand erhöhen (vgl. BayVGH, U.v. 11.8.2015 – 11 BV 15.909 – BeckRS 2015, 51328 Rn. 23 ff.) Maßgebend für die Rechtmäßigkeit einer Maßnahme nach § 4 Abs. 5 Satz 1 StVG und eine Verringerung des Punktestandes nach § 4 Abs. 6 Satz 2 und 3 StVG sind die im Fahrerlaubnisregister eingetragenen und der Fahrerlaubnisbehörde im Zeitpunkt des Ergreifens der Maßnahme nach § 4 Abs. 8 StVG übermittelten Zuwiderhandlungen (vgl. BVerwG U.v. 26.1.2017 – 3 C 21.15 – BeckRS 2017, 103747 Rn. 22).
Eine solche Auslegung entspricht auch dem Zweck der Rechtsänderungen zum 1. Mai 2014 und 5. Dezember 2014. Der Gesetzgeber wollte sich gemäß der Gesetzesbegründung von den Erwägungen des Bundesverwaltungsgerichts in seinem Urteil vom 25. September 2008 (Az. 3 C 3/07) für das ab 1. Mai 2014 geltende neue System mit den Erwägungen zur Punkteentstehung und zum Tattagprinzip bewusst absetzen (BT-Drs. 18/2775, S. 9). Es soll nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem nicht mehr darauf ankommen, dass eine Maßnahme den Betroffenen vor der Begehung weiterer Verstöße erreicht und ihm die Möglichkeit zur Verhaltensänderung einräumt, bevor es zu weiteren Maßnahmen kommen darf. Vielmehr kommt es unter Verkehrssicherheitsgesichtspunkten und für das Ziel, die Allgemeinheit vor ungeeigneten Fahrern zu schützen, auf die Effektivität des Fahreignungs-Bewertungssystems an (BT-Drs. 18/2775, S. 9 f.). Insbesondere bei Konstellationen, in denen in kurzer Zeit wiederholt und schwer gegen Verkehrsregeln verstoßen wurde, was ein besonderes Risiko für die Verkehrssicherheit bedeutet, soll nach Ansicht des Gesetzgebers in Abwägung mit dem Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit nicht über bestimmte Verkehrsverstöße hinweggesehen werden (vgl. BT-Drs. 18/2775, S. 10).
Die Prüfung der Behörde, ob die Maßnahme der vorangehenden Stufe bereits ergriffen worden ist, ist daher vom Kenntnisstand der Behörde bei der Bearbeitung zu beurteilen und beeinflusst das Entstehen von Punkten nicht (BT-Drs. 18/2775, S. 10). Mit § 4 Abs. 5 Satz 6 Nr. 1 StVG soll nach der Gesetzesbegründung verdeutlicht werden, dass Verkehrsverstöße auch dann mit Punkten zu bewerten sind, wenn sie vor der Einleitung einer Maßnahme des Fahreignungs-Bewertungssystems begangen worden sind, bei dieser Maßnahme aber noch nicht verwertet werden konnten, etwa weil deren Ahndung erst später Rechtskraft erlangt hat oder sie erst später im Fahreignungsregister eingetragen worden oder der Behörde zur Kenntnis gelangt sind (BT-Drs. 18/2775, S. 10) (vgl. BayVGH, U.v. 11.8.2015 – 11 BV 15.909 – BeckRS 2015, 51328 Rn. 25). Eine solche Konstellation, in der eine weitere Zuwiderhandlung erst nach Ergreifen einer Maßnahme rechtskräftig wurde, liegt hier vor.
Die Fahrerlaubnisbehörde ist auch nicht verpflichtet, vor Ergreifen einer Maßnahme nach § 4 Abs. 5 StVG nochmals den Punktestand durch eine Anfrage bei dem Kraftfahrt-Bundesamt zu überprüfen. Es ist schon nicht ersichtlich, aus welcher gesetzlichen Vorschrift sich eine solche Pflicht ergeben sollte. Zudem wäre auch damit aufgrund der Bearbeitungs- und Postlaufzeiten nicht zu gewährleisten, dass zum Zeitpunkt des Ergreifens einer Maßnahme nicht schon weitere Verkehrsverstöße im Fahreignungsregister eingetragen sind, die von dem jeweiligen Auszug noch nicht erfasst und der Fahrerlaubnisbehörde damit nicht bekannt sind (vgl. BayVGH, U.v. 11.8.2015 – 11 BV 15.909 – BeckRS 2015, 51328 Rn. 28). Vorliegend war der Verstoß ohnehin noch nicht eingetragen.
Der Einwand des Antragstellers, dass die Verwarnung in Kenntnis des weiteren Verstoßes nicht hätte ergehen dürfen, verfängt daher nicht. Auch bleibt irrelevant, dass der Antragsteller behauptet, er habe auf die Verwarnung vertraut. In der Verwarnung war sein Punktestand mit sechs Punkten angegeben und es wurde darauf hingewiesen, dass ein Fahreignungsseminar keinen Punktabzug bewirke. Worauf dieses Vertrauen daher gründen soll, ist unerfindlich.
bb. Die herangezogenen Verstöße sind auch noch alle verwertbar.
Der Antragsgegner hat die Tilgungsfristen hinsichtlich der eingetragenen Verstöße korrekt berechnet.
Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung einer Fahrerlaubnisentziehung auf der Grundlage des Fahreignungs-Bewertungssystems ist nicht anders als bei sonstigen Fahrerlaubnisentziehungen die Rechtslage zum Zeitpunkt der letzten behördlichen Entscheidung; danach ist hier auf den Erlass des Bescheides vom 20. August 2020 abzustellen. Die rechtlichen Voraussetzungen nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG für die mit Bescheid vom 20. August 2020 verfügte Fahrerlaubnisentziehung waren zu dem nach § 4 Abs. 5 Satz 5 StVG maßgeblichen Tattag, hier dem 17. Oktober 2019, erfüllt und dem Antragsteller durften gemäß § 29 Abs. 7 Satz 1 StVG die zum Zeitpunkt der Fahrerlaubnisentziehung noch nicht gelöschten Eintragungen vorgehalten und zu seinem Nachteil verwertet werden (vgl. BVerwG, U.v. 18.6.2020 – 3 C 14.19 – BeckRS 2020, 17244 Rn. 10 ff.).
Die Tilgungsreife für die älteste vom Landratsamt verwertete Eintragung vom 14. April 2017 tritt aufgrund der Rechtskraft vom 1. Juli 2017 nach zweieinhalb Jahren am 1. Januar 2020 ein, § 29 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1a), Abs. 4 Nr. 3 StVG (in der Fassung der Bekanntmachung vom 5. März 2003 (BGBl. I S. 310, ber. S. 919)). Dieser Termin liegt vor dem Zeitpunkt des Entziehungsbescheids vom 20. August 2020. Selbiges gilt für den Verstoß vom 6. November 2017, der seit 17. August 2020 tilgungsreif ist. Grundsätzlich wird eine Eintragung nach Eintritt der Tilgungsreife gelöscht, § 29 Abs. 6 Satz 1 StVG.
Vor der Neuregelung nach § 29 Abs. 8 Satz 1 StVG a.F. führte die Tilgung und nicht die Löschung einer Eintragung, die auch nach dem alten Recht erst nach einer Überliegefrist von einem Jahr erfolgte (vgl. § 29 Abs. 7 Satz 1 StVG a.F.), zu einem strikten Verwertungsverbot. § 29 Abs. 8 Satz 1 StVG a.F. sah vor, dass, wenn eine Eintragung im Verkehrszentralregister getilgt ist, die Tat und die Entscheidung dem Betroffenen für die Zwecke des § 28 Abs. 2 – und damit gemäß Nummer 3 für die Ahndung von Verstößen, von Personen, die wiederholt im Zusammenhang mit dem Straßenverkehr stehende Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten begangen haben – nicht mehr vorgehalten und nicht zu seinem Nachteil verwertet werden dürfen (vgl. BVerwG, U.v. 18.6.2020 – 3 C 14.19 – BeckRS 2020, 17244 Rn. 23).
In dem neuen § 29 Abs. 7 Satz 1 StVG sieht der Gesetzgeber ein solches absolutes Verwertungsverbot nun ab der Löschung einer Eintragung vor. Gemäß § 29 Abs. 6 Satz 2 StVG wird eine Eintragung nach § 28 Abs. 3 Nr. 1 oder 3 Buchstabe a oder c nach Eintritt der Tilgungsreife erst nach einer Überliegefrist von einem Jahr gelöscht.
Bis zur Löschung einer Eintragung lässt der Gesetzgeber deren Verwertung noch zu. Gemäß § 29 Abs. 6 Satz 3 StVG darf der Inhalt der Eintragung während der Überliegefrist zu bestimmten Zwecken übermittelt, genutzt oder über ihn eine Auskunft erteilt werden; dazu gehört nach der Nummer 2 dieser Regelung die Übermittlung an die nach Landesrecht zuständige Behörde zur Ergreifung von Maßnahmen nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem nach § 4 Absatz 5 (vgl. BVerwG, U.v. 18.6.2020 – 3 C 14.19 – BeckRS 2020, 17244 Rn. 24; BayVGH, U.v. 18.6.2019 – 11 BV 18.778 – juris Rn. 25).
Die Überliegefrist war im Zeitpunkt des Entziehungsbescheides nicht einmal für diese älteste Eintragung vom 14. April 2017 abgelaufen.
Es handelt sich auch um Eintragungen im Sinne des § 28 Abs. 3 Nr. 3 a bb StVG, sodass die Überliegefrist Anwendung findet. Es wurde jeweils eine Geldbuße von mindestens 60 EUR festgesetzt. § 28a StVG greift vorliegend nicht ein, da der Regelsatz der Geldbuße für die begangenen Verkehrsverstöße jeweils mehr als 60 EUR betrug und davon jeweils nach oben (120, 160 EUR) abgewichen wurde.
Das Verwertungsverbot des § 29 Abs. 7 Satz 1 StVG greift daher nicht ein.
Hinsichtlich des Verstoßes vom 14. November 2017 ist noch nicht einmal Tilgungsreife eingetreten, da Rechtskraft am 27. Februar 2018 und somit Tilgungsreife am 27. August 2020 nach Bescheiderlass eintrat.
cc. Zuletzt verfängt auch der Einwand der Bevollmächtigten des Antragstellers nicht, wonach Punkte unberücksichtigt zu bleiben hätten, weil sie „aufgrund von Verurteilungen auf Basis der StVO in der Fassung seit 2013 in Verbindung mit dem Bußgeldkatalog zustande gekommen“ seien, die „StVO-Novelle aus dem Jahr 2013 aber Formfehler enthalte, da das verfassungsgemäße Zitiergebot nicht beachtet wurde“ (S. 2 der Klageschrift).
(1) Selbst wenn die Bußgeldbescheide mangels wirksamer Rechtsgrundlage rechtswidrig wären, erwachsen auch rechtswidrige Bescheide in Bestands- bzw. Rechtskraft, woran die Fahrerlaubnisbehörde gemäß § 4 Abs. 5 Satz 4 StVG gebunden ist. Für eine Nichtigkeit der Bußgeldbescheide aufgrund einer etwaigen Nichtigkeit der StVO fehlt es an der Offenkundigkeit i.S.d. Art. 44 Abs. 1 BayVwVfG.
Diese setzt voraus, dass die Fehlerhaftigkeit für einen unvoreingenommenen, mit den in Betracht kommenden Umständen vertrauten, verständigen Beobachter ohne weiteres ersichtlich sein muss, sich geradezu aufdrängen muss, wobei die Fehlerhaftigkeit „auf die Stirn geschrieben sein muss“ (Ramsauer in Kopp/Ramsauer, VwVfG, 20. Aufl. 2019, § 44 Rn 12). Dies ist nicht der Fall, insbesondere trägt nicht einmal die Bevollmächtigte des Antragstellers vor, welche Ermächtigungsnorm nicht zitiert worden sein sollte.
(2) Selbst wenn man dies (ggf. unter Berücksichtigung der aktuellen Diskussion um den Zitatverstoß) anders sehen wollte, entfaltet ein Verstoß in der 54. Verordnung zur Änderung straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften vom 20.4.2020, in Kraft getreten am 28. April 2020, im vorliegenden Verfahren keine Relevanz, da auf Grundlage dieser Änderungsverordnung keine Maßnahmen gegen den Antragsteller ergriffen wurden, nachdem die letzte Entscheidung zu einem Verstoß vom 17. Oktober 2019 noch am 17. April 2020 erging und es sich dabei um eine Straftat nach dem StVG und keine Ordnungswidrigkeit handelte.
Hinzukommt, dass die Punktebewertung über § 6 Abs. 1 Nr. 1 Buchstabe s) Doppelbuchstabe bb) Dreifachbuchstabe bbb) StVG i.V.m. § 40 FeV i.V.m. Nr. 3.2.2 Anlage 13 zu § 40 FeV i.V.m. lfd. Nr. 11.3.4, 11.3.5, 11.3.6 der Tabelle 1 zur BKatV für die begangenen Geschwindigkeitsverstöße seit 1. Mai 2014 unverändert ist und einen Punkt vorschreibt. Selbst wenn also eine Bindung an die Bußgeldbescheide unter dem Gesichtspunkt zu verneinen wäre, dass das Gericht eine Überprüfung der Richtigkeit der Punktebewertung vorzunehmen habe (siehe dazu oben aa.), was auch die inhaltliche Prüfung, ob der Verstoß mit der in der Mitteilung des Kraftfahrtbundesamts angegebenen Punktzahl zu ahnden war umfassen könnte, wären die Verstöße mit den geahndeten Punkten zu bewerten.
(3) Hinsichtlich eines Verstoßes gegen das Zitiergebot, der sich nach dem Vortrag der Bevollmächtigten „in der StVO-Novelle aus dem Jahr 2013“ befinden soll, fehlt es an jeglichem substantiierten Vortrag. Ein etwaiger Verstoß wurde von der Bevollmächtigten des Antragstellers lediglich pauschal behauptet, ohne die vermeintlich nicht zitierte Ermächtigungsgrundlage zu bezeichnen, die den Verstoß gegen das Zitiergebot begründen würde. Die Bevollmächtigte meint, es bestehe insoweit ein Wiederaufnahmegrund bzw. die Vollstreckung sei auszusetzen.
Die Bevollmächtigte des Antragstellers hat jedoch nicht vorgetragen, dass die Wiederaufnahme des Bußgeldverfahrens beantragt worden sei. Auch auf eine angebliche Aussetzung der „Vollstreckung“ wurde nicht weiter eingegangen.
Soweit die Bevollmächtigte des Antragstellers meinen könnte, dass die 54. Änderungsverordnung straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften derzeit „nicht vollzogen“ werde, so wird darauf hingewiesen, dass der Bayerische Innenminister am 10. Juli 2020 lediglich mitteilte, dass Fahrverbote nach dem neuen Bußgeldkatalog (auch bei bereits bestands- bzw. rechtskräftigen Bescheiden) nicht mehr vollzogen bzw. rückgängig gemacht werden, soweit das Fahrverbot nicht schon nach altem Recht verhängt worden wäre (https://www.joachimherrmann.de/lokal_1_1_4393_Bayerns-Innenminister-Joachim-Herrmann-Fahrverbote-nach-dem-neuen-Bussgeldkatalog-werden-nicht-mehr-vollzogen-Alter-Bussgeldkatalog-gilt-uebergangswe.html). Vorliegend aber können vor Inkrafttreten der Änderungsverordnung gegen den Antragsteller noch keine Maßnahmen nach dieser ergangen sein (siehe dazu (2)).
dd. In der Folge gilt der Antragsteller als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen und die Fahrerlaubnis ist zu entziehen, § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG.
Dabei handelt es sich um eine unwiderlegliche gesetzliche Ungeeignetheitsvermutung mit der zwingenden Folge der Entziehung (vgl. BVerwG, U.v. 25.9.2008 – 3 C 21/07 – NJW 2009, 610 Rn. 16; VGH BW, B.v. 3.6.2014 – 10 S 744/14 – NJW 2014, 2600). Steht die Nichteignung eines Betroffenen fest, so kann es zum Schutze der übrigen Verkehrsteilnehmer nicht mehr darauf ankommen, ob der Betroffene aus diversen persönlichen Gründen mehr oder weniger auf die Fahrerlaubnis angewiesen ist. Ein ungeeigneter Führer von Kraftfahrzeugen ist angesichts des hohen Stellenwerts der ansonsten gefährdeten Rechtsgüter anderer prinzipiell vom Straßenverkehr auszuschließen (vgl. VG Ansbach, Gb.v. 6.3.2012 – AN 10 K 11.02065 – BeckRS 2012, 49940).
3. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO. Der Antragsgegner unterliegt nur zu einem geringen Teil, da lediglich die Anordnung der sofortigen Vollziehung hinsichtlich Ziffer 2 und damit allein ein Teil eines Vollzugsaktes zur Hauptverfügung rechtswidrig war.
4. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 52 Abs. 1 GKG i.V.m. Ziffern 1.5, 46.1 und 46.3 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013.


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