Aktenzeichen 3 M 50/22
§ 3 Abs 3 GefHuG ST
§ 4 Abs 4 GefHuG ST
Leitsatz
1. Zu den Anforderungen an die Feststellung hinreichend konkreter Tatsachen, die einen Gefahrenverdacht i.S. des § 4 Abs 4 S 2 HundeG LSA (juris: GefHuG ST) begründen.(Rn.4)
2. Zur Frage, ob der “Austausch” des gesetzlichen Regelbeispiels nach § 3 Abs 3 S 1 HundeG LSA (juris: GefHuG ST) für die Annahme der Gefährlichkeit von Hunden im Einzelfall eine (unzulässige) Wesensänderung des Bescheides begründet.(Rn.11)
Verfahrensgang
vorgehend VG Halle (Saale), 20. April 2022, 1 B 64/22 HAL, Beschluss
Tenor
Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Halle – 1. Kammer – vom 20. April 2022 wird verworfen, soweit sie unzulässig ist, und im Übrigen zurückgewiesen.
Die Antragstellerin hat die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu tragen.
Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 5.000,00 € festgesetzt.
Gründe
1. Die unbeschränkt gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Halle – 1. Kammer – vom 20. April 2022 gerichtete Beschwerde ist nur teilweise zulässig. Sie ist unzulässig, soweit sie sich gegen die Entscheidung des Verwaltungsgerichts über den Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin gegen Ziffer 2 der Verfügung vom 22. November 2021 wendet. Insoweit entspricht das Vorbringen der Antragstellerin nicht den Anforderungen an die Begründungspflicht nach § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO. Danach muss die Beschwerde u.a. die Gründe darlegen, aus denen die Entscheidung abzuändern oder aufzuheben ist, und sich mit der angefochtenen Entscheidung auseinandersetzen. Das Verwaltungsgericht hat den Antrag, soweit er sich gegen Ziffer 2 der Verfügung vom 22. November 2021 richtet, mangels Rechtsschutzinteresses abgelehnt, weil sich die der Antragstellerin auferlegte Verpflichtung bereits erledigt habe. Dem ist die Antragstellerin in der Beschwerdebegründung nicht entgegengetreten.
2. Im Übrigen, soweit sich die Beschwerde gegen die Entscheidung des Verwaltungsgerichts über den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihres Widerspruchs gegen Ziffer 1 der Verfügung vom 22. November 2021 richtet, hat die Beschwerde, deren Prüfung gemäß § 146 Abs. 4 Satz 1 und 6 VwGO auf die dargelegten Gründe beschränkt ist, in der Sache keinen Erfolg.
a) Das Verwaltungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass die Voraussetzungen für die Feststellung der Gefährlichkeit der Hunde in der Sache vorliegen.
(1) Rechtlicher Anknüpfungspunkt für die Feststellung der Gefährlichkeit eines Hundes ist § 4 Abs. 4 i. V. m. § 3 Abs. 1 und 3 des Gesetzes zur Vorsorge gegen die von Hunden ausgehenden Gefahren (Hundegesetz – HundeG LSA) vom 23. Januar 2009 (GVBl. LSA S. 22), zuletzt geändert durch Gesetz vom 27. Oktober 2015 (GVBl. LSA S. 560). Nach § 3 Abs. 1 HundeG LSA sind gefährliche Hunde im Sinne dieses Gesetzes Hunde, deren Gefährlichkeit vermutet oder im Einzelfall festgestellt wird. § 3 Abs. 3 HundeG LSA enthält Regelbeispiele für im Einzelfall gefährliche Hunde. Nach § 3 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 HundeG LSA sind im Einzelfall gefährliche Hunde insbesondere solche Hunde, die gemeinsam einen Menschen oder ein Tier angreifen oder jagen und von denen einer einen Menschen oder ein Tier beißt. Erhält die zuständige Behörde einen Hinweis darauf, dass ein Hund eine gesteigerte Aggressivität aufweist, insbesondere Menschen oder Tiere gebissen hat, so hat sie den Hinweis gemäß § 4 Abs. 4 Satz 1 HundeG LSA von Amts wegen zu prüfen. Ergibt die Prüfung Tatsachen, die den Verdacht rechtfertigen, dass von dem Hund eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit ausgeht, so stellt die Behörde gemäß § 4 Abs. 4 Satz 2 HundeG LSA fest, dass der Hund gefährlich ist.
Ein ordnungsbehördliches Einschreiten ist demnach bereits dann gerechtfertigt, wenn aufgrund der festgestellten Tatsachen zwar nicht gewiss ist, es aber zumindest als möglich erscheint, dass der Hund zukünftig ein die Rechtsgüter Dritter schädigendes Verhalten zeigt (vgl. Beschluss des Senats vom 22. Januar 2013 – 3 M 754/12 – juris Rn. 5). Die Fähigkeit eines Hundes zu sozialverträglichem Verhalten ist nach Feststellung der Gefährlichkeitsvermutung allein im Rahmen eines Wesenstests i.S. des § 10 Abs. 1 HundeG LSA nachzuweisen. Das Erlaubnisverfahren findet erst auf Antrag des Hundehalters im Anschluss an eine behördliche Gefährlichkeitsfeststellung statt (vgl. § 5 Abs. 1 HundeG LSA). Auch wenn der Gesetzgeber damit ein möglichst frühzeitiges ordnungsbehördliches Einschreiten ermöglicht, so genügen nach dem Wortlaut des § 4 Abs. 4 Satz 2 HundeG LSA und dem gesetzessystematischen Zusammenhang mit § 3 Abs. 3 HundeG LSA Vermutungen nicht, um den Gefahrenverdacht zu rechtfertigen. Andererseits muss nicht schon feststehen, dass von dem Hund eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht. Feststellungen hierzu sind nach der Intention des Gesetzgebers erst in dem Verfahren zur Erteilung einer Erlaubnis zum Halten eines gefährlichen Hundes zu treffen (vgl. Beschluss des Senats vom 9. Juli 2020 – 3 M 46/20 – juris Rn. 15).
(2) Das Verwaltungsgericht hat zutreffend festgestellt, dass hinreichend konkrete Tatsachen vorliegen, die einen Gefahrenverdacht i.S. des § 4 Abs. 4 Satz 2 HundeG LSA in Bezug auf die Hunde der Antragstellerin begründen. Der Tatbestand des Regelbeispiels gemäß § 3 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 HundeG ist nach summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage erfüllt. Mit dem Verwaltungsgericht geht der Senat davon aus, dass die beiden Hunde der Antragstellerin ein Lamm auf der Weide angegriffen haben und zumindest einer der beiden Hunde das Lamm durch einen Biss getötet hat. Hierzu wird auf die Ausführungen des Verwaltungsgerichts verwiesen, das den Vorfall insbesondere anhand der Schilderungen von Zeugen zutreffend gewürdigt hat.
Die Einwände der Antragstellerin gegen die Würdigung des Verwaltungsgerichts greifen nicht durch. Maßgeblich für die Annahme, dass die Hunde der Antragstellerin das Lamm angegriffen und totgebissen haben, war insbesondere, dass nach den glaubhaften Zeugenaussagen die Hunde in das Lamm „verbissen“ und blutverschmiert waren, das Lamm unmittelbar nach dem Vorfall noch warm und das Blut noch nicht geronnen war und dass andere Tiere nicht in der Nähe erkennbar waren. Angesichts dieser Umstände kommt ein abweichender Geschehensablauf – etwa dass die Hunde der Antragstellerin nur an einem bereits toten Lamm geleckt oder ein anderes angreifendes Tier vertrieben haben – nicht ernsthaft in Betracht. Der Zeuge W. hat – auf nochmalige Nachfrage zum Geschehensablauf – in der E-Mail vom 2. März 2022 erklärt, dass sich die Hunde der Antragstellerin in das Lamm „verbissen“ und nicht nur an dem Tier „geleckt“ haben und zudem dabei waren, das Lamm herumzuziehen. Schon diese Beobachtung steht der Annahme der Antragstellerin entgegen, die Hunde hätten lediglich ein totes Lamm aufgespürt oder einen anderen Jäger vertrieben. Zudem kann das Lamm angesichts der vom Zeugen H. festgestellten warmen Körpertemperatur und der noch nicht eingetretenen Blutgerinnung nicht zuvor über einen längeren Zeitraum tot auf der Weide gelegen haben. Wenn die Hunde der Antragstellerin einen anderen Angreifer verjagt hätten, ist es zumindest sehr unwahrscheinlich, dass die Zeugen – insbesondere Herr W., der nur kurze Zeit nach den Hunden vor Ort war – dieses Tier nicht bemerkt hätten. Angesichts dieser Umstände geht der Senat mit dem Verwaltungsgericht von einem Angriff der Hunde auf das Lamm aus, auch wenn kein Zeuge einen solchen Angriff unmittelbar beobachtet hat. Diese Annahme entspricht dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung nach § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Das Verwaltungsgericht hat weder auf Vermutungen abgestellt noch die bloße Wahrscheinlichkeit des dargestellten Geschehensablaufs für ausreichend erachtet. Ein Widerspruch zu den Grundgedanken des Hundegesetzes oder des allgemeinen Gefahrenabwehrrechts liegt nicht vor.
Es ist auch unerheblich, ob die Hunde der Antragstellerin das Lamm i.S. des § 3 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 HundeG LSA gejagt haben. Zur Tatbestandsverwirklichung des § 3 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 HundeG LSA reicht es aus, dass die Hunde das Lamm angegriffen haben („angreifen oder jagen“).
b) Ohne Erfolg rügt die Antragstellerin, das Verwaltungsgericht habe nicht § 3 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 HundeG als Rechtsgrundlage für die angefochtene Verfügung zugrunde legen dürfen. In diesem Zusammenhang verweist die Antragstellerin darauf, dass die Antragsgegnerin als alleinige Ermächtigungsgrundlage § 3 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 HundeG LSA herangezogen habe. Das Verwaltungsgericht sei im Rahmen der Antragsprüfung nicht berechtigt, weitere mögliche Tatbestände aufzuzeigen und zu prüfen, die nicht dem streitgegenständlichen Bescheid zugrunde lägen.
Das Verwaltungsgericht hat – wie auch die Antragsgegnerin in dem angefochtenen Bescheid – die Feststellung der Gefährlichkeit der Hunde der Antragstellerin auf § 4 Abs. 4 Satz 2 HundeG LSA gestützt. Allerdings hat es für die Annahme der Gefährlichkeit im Einzelfall den Tatbestand des Regelbeispiels nach § 3 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 HundeG als erfüllt angesehen, während in der angefochtenen Verfügung insoweit § 3 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 HundeG herangezogen wurde.
Die Frage, ob ein angefochtener Bescheid materiell rechtmäßig oder rechtswidrig ist, richtet sich nach dem Recht, das geeignet ist, die getroffene Regelung zu rechtfertigen. Erweist sie sich aus anderen als in dem Bescheid angegebenen Gründen als rechtmäßig, ohne dass sie durch den Austausch der Begründung in ihrem Wesen geändert würde, dann ist der Verwaltungsakt im Sinne des § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO nicht rechtswidrig (BVerwG, Urteil vom 31. März 2010 – 8 C 12.09 – juris Rn. 16; VGH BW, Urteil vom 11. Juli 2017 – 5 S 2067/15 – juris Rn. 25; OVG NRW, Beschluss vom5. August 2015 – 5 A 990/14 – juris Rn. 4).
In dem „Austausch“ des gesetzlichen Regelbeispiels für die Annahme der Gefährlichkeit im Einzelfall liegt keine Wesensänderung des Bescheides. Der Regelungsgehalt der angefochtenen Verfügung wird nicht dadurch verändert, dass das Verwaltungsgericht die Gefährlichkeit der Hunde im Einzelfall auf den Tatbestand eines anderen Regelbeispiels i.S. des § 3 Abs. 3 HundeG gestützt hat. Der Tenor der Verfügung, in dem die Gefährlichkeit der Hunde festgestellt wird, bleibt von diesem Austausch unberührt. Die Feststellung der Gefährlichkeit wird auf denselben Sachverhalt – den Vorfall am 7. September 2021 – gestützt. Bei der Feststellung der Gefährlichkeit gemäß § 4 Abs. 4 Satz 2 HundeG i.V.m. § 3 Abs. 1 und 3 HundeG LSA steht der zuständigen Behörde auch kein Ermessen zu, so dass sich nicht die Frage stellt, ob die leitenden Ermessenserwägungen bei Heranziehung einer anderen rechtlichen Grundlage noch tragfähig sind (vgl. dazu BayVGH, Urteil vom 23. Juli 2020 – 14 B 18.1472 – juris Rn. 31).
Vor diesem Hintergrund kommt es nicht darauf an, ob die Hunde der Antragstellerin das Lamm i.S. des § 3 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 HundeG LSA „gehetzt“ oder „gerissen“ haben. Hierauf hat das Verwaltungsgericht auch nicht abgestellt, weil es den Tatbestand des § 3 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 HundeG LSA geprüft und die Tatbestandsverwirklichung bejaht hat. Es hat in der Prüfung auch nicht die Tatbestandsmerkmale dieser Vorschrift mit denjenigen des § 3 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 HundeG LSA vermengt.
3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
4. Hinsichtlich der Streitwertfestsetzung folgt der Senat der erstinstanzlichen Entscheidung.
4. Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 GKG i.V.m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).