Verwaltungsrecht

Folgen bei Nichterfüllung zumutbarer Anforderungen an die Mitwirkung bei der Beseitigung von Ausreisehindernissen

Aktenzeichen  M 24 S 20.4005

Datum:
11.3.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 12500
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 48, § 49, § 50 Abs. 1, § 61 Abs. 1c S. 2, § 82 Abs. 1 S. 1
AsylG § 15
VwGO § 80 Abs. 5 S. 1

 

Leitsatz

1. Nach § 48 Abs. 3 S. 1 Alt. 1 AufenthG hat ein ausreisepflichtiger Ausländer alle zur Erfüllung seiner Ausreisepflicht erforderlichen Maßnahmen, und damit auch die zur Klärung seiner Identität und zur Beschaffung eines gültigen Passes oder Passersatzpapiers, grundsätzlich ohne besondere Aufforderung durch die Ausländerbehörde unverzüglich einzuleiten. (Rn. 20) (redaktioneller Leitsatz)
2. Dabei kann der Ausländer sich nicht allein auf die Erfüllung derjenigen Pflichten, die ihm konkret von der Ausländerbehörde vorgegeben werden, beschränken, sondern ist vielmehr angehalten, eigenständig die Initiative zu ergreifen und die erforderlichen Schritte in die Wege zu leiten, um das bestehende Ausreisehindernis nach seinen Möglichkeiten zu beseitigen. (Rn. 21) (redaktioneller Leitsatz)
3. Liegen die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 61 Abs. 1c S. 2 AufenthG vor, “soll”, also im Regelfall, eine räumliche Beschränkung auf den Bezirk der Ausländerbehörde angeordnet werden. (Rn. 24) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Der Streitwert wird auf 2.500,00 Euro festgesetzt.

Gründe

I.
Streitgegenständlich ist ein Bescheid des Antragsgegners, mit dem auf der Rechtsgrundlage von § 61 Abs. 1c Satz 2 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) der Aufenthalt der Antragstellerin räumlich auf das Gebiet des Landkreises Traunstein beschränkt wurde.
Die Antragstellerin ist ihren Angaben im Asylverfahren zufolge nigerianische Staatsangehörige und reiste im Juni 2018 in das Bundesgebiet ein. Zur Begründung ihres Asylantrags machte die Antragstellerin keine Verfolgung durch staatliche Akteure geltend, sondern trug vor, Nigeria wegen der Gefahr der Beschneidung verlassen zu haben. Mit Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) vom 3. Juli 2019 wurde ihr Asylantrag als unzulässig abgelehnt und festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen. Zugleich wurde die Antragstellerin aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb einer Woche ab Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen, anderenfalls würde sie nach Nigeria oder in einen anderen aufnahmebereiten Staat abgeschoben. Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der hiergegen erhobenen Klage wurde mit Beschluss des Verwaltungsgerichts München vom 6. April 2020 abgelehnt. Die Klage wurde mit Urteil vom 30. Oktober 2020 abgewiesen, der hiergegen gestellte Antrag auf Zulassung der Berufung ist nach Auskunft des Landratsamts noch anhängig. Laut der bei den Akten befindlichen Abschlussmitteilung des Bundesamts ist die Abschiebungsandrohung seit dem 21. April 2020 vollziehbar. Seither wird die Antragstellerin wegen fehlender Heimreisedokumente geduldet.
Die Antragstellerin wurde durch die Regierung von Oberbayern erstmals am 29. Juni 2018 sowie nachfolgend im Rahmen der Anhörungen vor dem Bundesamt über ihre nach § 15 Asylgesetz (AsylG) bestehenden Mitwirkungsverpflichtungen, einschließlich der Pflicht zur Beschaffung eines Identitätspapiers belehrt. Im Rahmen einer Anhörung bei der Regierung von Oberbayern am gleichen Tag erklärte sie, nie einen Pass oder Personalausweis besessen zu haben. Eine Geburtsurkunde besitze sie ebenfalls nicht, da sie zu Hause geboren sei. Ausweislich der Niederschrift über die Befragung wurde die Antragstellerin über die Vorgehensweise der Beschaffung einer Affidavit aufgeklärt und aufgefordert, der Regierung von Oberbayern bis 30. Juli 2018 vorhandene Identitätsdokumente wie beispielsweise eine Geburtsurkunde im Original vorzulegen, andernfalls schriftlich mitzuteilen, warum dies nicht möglich sei. Sie habe hierzu ihr Einverständnis erklärt.
Mit für sofort vollziehbar erklärtem Bescheid vom 8. Juni 2020, zugestellt am 9. Juni 2020, forderte das Landratsamt die Antragstellerin für den Fall, dass sie nicht im Besitz eines Nationalpasses sei, auf, innerhalb eines Monats nach Zustellung die beiliegenden Passersatzantragsformulare vollständig und wahrheitsgemäß auszufüllen, zu unterschreiben und mit vier aktuellen, biometrischen Lichtbildern und ggf. vorhandenen Identitätsnachweisen der Ausländerbehörde vorzulegen. Dieser Aufforderung kam die Antragstellerin nicht nach, woraufhin das Landratsamt ein Passersatzpapierbeschaffungsverfahren von Amts wegen einleitete.
Nach vorheriger Anhörung beschränkte das Landratsamt mit streitgegenständlichem Bescheid vom 19. August 2020 den Aufenthalt der Antragstellerin räumlich auf das Gebiet des Landkreises Traunstein und ordnete die sofortige Vollziehung an.
Hiergegen ließ die Antragstellerin am 28. August 2020 Klage erheben, die unter dem Aktenzeichen M 24 K 20.4004 anhängig ist. Zugleich beantragt sie im gegenständlichen Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes:
Die aufschiebende Wirkung der Klage wird angeordnet.
Zur Begründung wurde ausgeführt, momentan könnten keine Pässe besorgt werden. Bis vor kurzem habe die nigerianische Botschaft aufgrund der Corona-Pandemie überhaupt nicht mehr gearbeitet. Ohne Dokumente sei ein Pass nicht beschaffbar. Die Möglichkeit, sich im Freistaat Bayern aufzuhalten, habe nichts mit dem Besitz eines Passes zu tun. In keiner Weise sei die Aufenthaltsbeschränkung ein geeignetes Mittel, die Antragstellerin zu veranlassen, einen Pass zu besorgen. Dies könne durch andere verhältnismäßige Maßnahmen veranlasst werden, z.B. die Vorführung bei der nigerianischen Botschaft zur Passbeschaffung. Hierzu sei eine Beschränkung des Aufenthalts auf den Landkreis Traunstein nicht verhältnismäßig.
Das Landratsamt beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Die Verwaltungsstreitsache wurde durch Beschluss der Kammer zur Entscheidung auf den Einzelrichter übertragen. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakten dieses Verfahrens sowie des Klageverfahrens sowie auf die beigezogenen Behördenakten des Landratsamts Bezug genommen.
II.
Der zulässige Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO bleibt ohne Erfolg.
Nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO kann das Gericht der Hauptsache im Fall der Anordnung der sofortigen Vollziehung (§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO) auf Antrag die aufschiebende Wirkung der Klage ganz oder teilweise wiederherstellen. Hierbei hat das Gericht selbst abzuwägen, ob diejenigen Interessen, die für den angeordneten Sofortvollzug des angefochtenen Verwaltungsakts streiten, oder diejenigen, die für die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung sprechen, höher zu bewerten sind. Im Rahmen dieser Interessenabwägung sind auch die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs in der Hauptsache als wesentliches, aber nicht als alleiniges Indiz zu berücksichtigen (vgl. BVerwG, B.v. 25.3.1993 – 1 ER 301/92 – NJW 1993, 3213, juris Rn. 3). Wird der in der Hauptsache erhobene Rechtsbehelf bei der im vorläufigen Rechtsschutzverfahren nur möglichen, aber auch ausreichenden summarischen Prüfung voraussichtlich erfolgreich sein, weil er zulässig und begründet ist, so wird im Regelfall nur die Anordnung der aufschiebenden Wirkung in Betracht kommen. Erweist sich dagegen der angefochtene Bescheid bei summarischer Prüfung als offensichtlich rechtmäßig, besteht ein öffentliches Interesse an seiner sofortigen Vollziehung und der Antrag bleibt voraussichtlich erfolglos. Sind die Erfolgsaussichten bei summarischer Prüfung als offen zu beurteilen, findet eine eigene gerichtliche Abwägung der für und gegen den Sofortvollzug sprechenden Interessen statt. Zudem muss die Vollziehungsanordnung dem Begründungserfordernis des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO entsprechen.
In formaler Hinsicht genügt die Begründung für die Vollziehungsanordnung in Nr. 2 des streitgegenständlichen Bescheides noch dem Begründungserfordernis des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO. Das Landratsamt hat das besondere Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts im Sinn von § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO einzelfallbezogen schriftlich begründet (vgl. zu diesem Maßstab etwa BayVGH, B.v. 25.2.2010 – 8 AS 10.40000 – GewArch 2010, 327, juris Rn. 13; siehe allgemein auch VGH BW, B.v. 24.1.2012 – 10 S 3175/11 – NJW 2012, 3321, juris Rn. 7 m.w.N.). Sinn und Zweck dieses Begründungszwangs ist es, die Behörde zu veranlassen, sich des Ausnahmecharakters der Vollzugsanordnung hinsichtlich des verfassungsrechtlich aus Art. 19 Abs. 4 GG ergebenden Grundsatzes der aufschiebenden Wirkung der Klage bewusst zu werden. Pauschale, formelhafte und für eine beliebige Vielzahl von Fallgestaltungen anwendbare Formulierungen genügen den gesetzlichen Anforderungen dabei grundsätzlich nicht. Bei gleichartigen Tatbeständen können allerdings auch gleiche oder typisierte Begründungen ausreichen. Wenn immer wiederkehrenden Sachverhaltsgestaltungen eine typische Interessenlage zugrunde liegt, kann sich die Behörde darauf beschränken, die für diese Fallgruppe typische Interessenlage zur Rechtfertigung der Anordnung der sofortigen Vollziehung aufzuzeigen und deutlich zu machen, dass nach Auffassung der Behörde diese Interessenlage auch im konkreten Fall vorliegt (BayVGH B.v. 13.10.2006 – 11 CS 06.1724 – juris Rn. 13 m.w.N.).
So liegt es hier. Die Begründung für die Anordnung der sofortigen Vollziehung im streitgegenständlichen Bescheid lässt zunächst erkennen, dass das Landratsamt sich des Ausnahmecharakters des Sofortvollzugs bewusst gewesen ist und im Fall der Antragstellerin den sachlichen Grund darin gesehen hat, zu verhindern, dass der eigentliche Zweck der Maßnahme aufgrund der gerichtlichen Verfahrensdauer nicht erreicht wird. Bei der Anordnung von räumlichen Beschränkungen nach § 61 Abs. 1c AufenthG ist die Interessenlage in vielen Fällen ähnlich. Die danach für räumliche Beschränkungen typische Interessenlage hat der Antragsgegner vorliegend auch auf den Einzelfall der Antragstellerin angewandt.
Der Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO bleibt auch im Übrigen erfolglos. Nach summarischer Prüfung ist davon auszugehen, dass sich die Anordnung der räumlichen Beschränkung des Aufenthalts der Antragstellerin auf das Gebiet des Landkreises Traunstein auf der Grundlage des § 61 Abs. 1c Satz 2 AufenthG im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung als rechtmäßig erweist und die Antragstellerin nicht in ihren Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO), so dass das staatliche Vollzugsinteresse das Suspensivinteresse der Antragstellerin überwiegt.
Rechtsgrundlage für die vom Landratsamt angeordnete räumliche Beschränkung ist vorliegend § 61 Abs. 1c Satz 2 Var. 3 AufenthG. Danach soll eine räumliche Beschränkung auf den Bezirk der Ausländerbehörde angeordnet werden, wenn der Ausländer zumutbare Anforderungen an die Mitwirkung bei der Beseitigung von Ausreisehindernissen nicht erfüllt. Damit sollen Ausländer, die über ihre Identität täuschen oder die bei der Beschaffung von Heimreisedokumenten nicht ausreichend mitwirken, enger an den Bezirk der Ausländerbehörde gebunden werden, um ggf. sicherzustellen, dass sie für etwaige erforderliche Mitwirkungshandlungen leichter erreichbar sind und um ein mögliches Untertauchen zu erschweren (BT-Drs. 18/11546 S.22)
Die tatbestandlichen Voraussetzungen für eine räumliche Beschränkung des Aufenthalts der Antragstellerin liegen vor.
Die Antragstellerin ist aufgrund des Bescheids des Bundesamts vom 3. Juli 2019 seit der Ablehnung des Antrags nach § 80 Abs. 5 VwGO durch das Verwaltungsgericht vollziehbar ausreisepflichtig (§ 59 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. § 50 Abs. 1 AufenthG). Die aufgrund des noch nicht verbeschiedenen Antrags auf Zulassung der Berufung noch anhängige Klage gegen die Ablehnung des Asylantrags als unzulässig hat keine aufschiebende Wirkung.
Auch hat die Antragstellerin die an sie gestellten Anforderungen zur Mitwirkung bei der Beseitigung von Ausreisehindernissen, vorliegend des fehlenden Passes oder Passersatzpapiers, nicht erfüllt. Die einzelnen Mitwirkungspflichten sind insbesondere in §§ 48, 49 AufenthG geregelt, wobei insbesondere § 48 Abs. 3 AufenthG vorliegend von Interesse ist. Ein Ausländer, der keinen Pass oder Passersatz besitzt, ist nach § 48 Abs. 3 Satz 1 Alt. 1 AufenthG verpflichtet, an der Beschaffung des Identitätspapiers mitzuwirken. Diese Mitwirkungspflicht besteht ohne spezielle Aufforderung durch die Behörden. Deshalb hat ein ausreisepflichtiger Ausländer alle zur Erfüllung seiner Ausreisepflicht erforderlichen Maßnahmen, und damit auch die zur Klärung seiner Identität und zur Beschaffung eines gültigen Passes oder Passersatzpapiers, grundsätzlich ohne besondere Aufforderung durch die Ausländerbehörde unverzüglich einzuleiten (vgl. BeckOK AuslR/Hörich/Hruschka, 25. Ed. 1.3.2020, AufenthG § 48 Rn. 36 m.w.N.). Der Ausländer soll aber gem. § 82 Abs. 3 AufenthG auf seine Pflichten nach § 48 Abs. 3 Satz 1 hingewiesen werden.
Die dem Ausländer obliegende gesetzliche Pflicht zur Mitwirkung bei der Passbeschaffung nach § 48 Abs. 3 AufenthG wird nicht dadurch erfüllt, dass er Aufklärungsversuche der Ausländerbehörde nicht behindert u. gewissermaßen „über sich ergehen lässt“. Aus der Vorschrift ergibt sich in Verbindung mit § 82 Abs. 1 Satz 1 AufenthG, dass der Ausländer vielmehr für den Vollzug des Ausländerrechts notwendige Unterlagen „beizubringen“ hat. Bei der Mitwirkung an der Beschaffung eines Rückreisedokuments handelt es sich nicht um separierbare Einzelpflichten, sondern um ein durch §§ 82 Abs. 4, 48 Abs. 3 u. 49 Abs. 2 AufenthG vorgegebenes Pflichtenbündel zur Erlangung von Rückreisedokumenten für einen ausreisepflichtigen Ausländer. Dabei kann der Ausländer sich nicht allein auf die Erfüllung derjenigen Pflichten, die ihm konkret von der Ausländerbehörde vorgegeben werden, beschränken, sondern ist vielmehr angehalten, eigenständig die Initiative zu ergreifen und die erforderlichen Schritte in die Wege zu leiten, um das bestehende Ausreisehindernis nach seinen Möglichkeiten zu beseitigen (vgl. Bergmann/Dienelt/Winkelmann/Wunderle, 13. Aufl. 2020, AufenthG § 48 Rn. 6). Bereits im Asylverfahren gelten die Pflichten des § 15 Abs. 2 Nr. 4, Nr. 6 AsylG zur Vorlage von Pass- oder Passersatzpapieren und zur Beschaffung von Identitätspapieren.
Die Antragstellerin befindet sich seit dem Jahr 2018 im Bundesgebiet. Die ihr obliegenden und ihr zumutbaren Pflichten nach dem AsylG und nach dem AufenthG zur Identitätsklärung und zur Beseitigung von Ausreisehindernissen hat sie in dieser gesamten Zeit nicht im erforderlichen Umfang erfüllt. Insbesondere war sie zuletzt mit Bescheid vom 8. Juni 2020 erfolglos aufgefordert worden, binnen eines Monats nach Bescheidzustellung das beiliegende Passersatzantragsformular vollständig und wahrheitsgemäß auszufüllen, zu unterschreiben und mit vier aktuellen, biometrischen Lichtbildern und ggf. vorhandenen Identitätsnachweisen der Ausländerbehörde beim Landratsamt Traunstein zu übergeben. Hierbei wurde sie auf ihre Mitwirkungspflichten gemäß § 48 f AufenthG und § 15 AsylG hingewiesen.
Darüber hinaus gehend ist die Antragstellerin aber wie oben dargestellt auch verpflich tet, von sich aus alles dafür zu unternehmen, dass sie einen Pass vorlegen kann. Dem hat sie nicht genüge getan. Hierfür wäre zumindest erforderlich gewesen, eigeninitiativ mit der Botschaft Kontakt aufzunehmen, dort vorzusprechen und zu klären, welche Unterlagen für die Passbeschaffung vorgelegt werden müssen. Zudem wäre nachzuweisen, dass an der Beschaffung dieser Unterlagen gearbeitet wird. Die Kontaktaufnahme mit der Botschaft wäre schon vor der Aufforderung durch das Landratsamt möglich und zumutbar gewesen. Vorliegend wäre es der Antragstellerin ausnahmsweise sogar während des laufenden Asylverfahrens bzw. vor dem Eintritt der vollziehbaren Ausreisepflicht ohne Gefährdung ihrer asylrechtlichen Stellung möglich gewesen, im Hinblick auf die Beschaffung von Identitätspapieren mit der Botschaft Kontakt aufzunehmen, da sie damit ihr im Asylverfahren geäußertes Schutzgesuch nicht in Frage gestellt hätte (vgl. hierzu insgesamt BeckOK AuslR/Houben, 27. Ed. 1.10.2020, AsylG § 15 Rn. 13c; Bergmann/Dienelt/Bergmann AsylG § 15 Rn. 11; a.A.: NKAuslR/Michael Koch, 2. Aufl. 2016, AsylVfG § 15 Rn. 20ff.). Denn die Antragstellerin hat im Asylverfahren ausdrücklich keine Verfolgung durch nigerianische staatliche Akteure vorgetragen, sondern ihr Schutzbegehren lediglich darauf gestützt, dass ihr von Seiten ihrer Hebamme in Nigeria die Beschneidung drohe. Auf die schon während des Asylverfahrens geltenden Pflichten nach § 15 AsylG ist die Antragstellerin auch hingewiesen worden. Auch wurde die Antragstellerin in drei Anhörungen vor der Regierung von Oberbayern am 29. Juni 2018, 11. Februar 2019 und 30. Juli 2019 jeweils aufgefordert, eine Geburtsurkunde oder andere identitätsklärende Dokumente beizubringen. Konkrete, zielführende Schritte hierzu hat sie nicht unternommen und es schließlich im letzten Gespräch am 30. Juli 2019 abgelehnt, eine Geburtsurkunde zu organisieren. Zudem ist die nigerianische Botschaft in Deutschland nur zwischen März und August 2020 aufgrund der Corona-Pandemie geschlossen gewesen, so dass die Möglichkeit einer Kontaktaufnahme über einen langen Zeitraum vorher und nachher bestanden hätte. Eine solche Kontaktaufnahme hat die Antragstellerin aber weder im Verwaltungsverfahren noch gegenüber dem Gericht nachgewiesen.
Liegen die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 61 Abs. 1c Satz 2 AufenthG somit vor, soll nach dem Wortlaut der Vorschrift eine räumliche Beschränkung auf den Bezirk der Ausländerbehörde angeordnet werden. Durch die Verwendung des Wortes „soll“ kann die Ausländerbehörde bei ihrer Ermessensausübung von der für den Normalfall vorgesehenen Rechtsfolge (nur) aus wichtigem Grund oder in atypischen Fällen abweichen. Ein atypischer Fall liegt vor, wenn die Besonderheiten des Einzelfalls ein Abweichen nahelegen. Ob die Voraussetzungen dafür vorliegen, unterliegt voller gerichtlicher Überprüfung.
Vorliegend hat die Ausländerbehörde zu Recht keinen Ausnahmefall von der gesetzlich grundsätzlich vorgegebenen Rechtsfolge angenommen und die räumliche Beschränkung angeordnet. Dass nämlich solche atypischen Umstände oder ein besonderer Grund vorliegen würden, wurde hier weder vorgetragen noch ist dies sonst ersichtlich. Es ist entgegen dem Vorbringen der Antragstellerin insbesondere nicht ersichtlich, dass die räumliche Beschränkung ihren Zweck, die Antragstellerin näher an die Ausländerbehörde zu binden und ein Untertauchen zu erschweren, um sie unter anderem für eine Vorführung bei der Botschaft jederzeit verfügbar zu haben, verfehlen würde. Es bleibt der Antragstellerin weiter möglich, ihre Anstrengungen zur Erlangung eines nigerianischen Reisepasses zu verstärken. Dann wäre die räumliche Beschränkung gegebenenfalls wieder aufzuheben. Zudem besteht in Einzelfällen die Möglichkeit der Erteilung einer Verlassenserlaubnis, worauf das Landratsamt auch bereits hingewiesen hat.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 2 VwGO i.V.m. Nr. 1.5 des Streitwertkatalogs.


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