Verwaltungsrecht

Geschlechtsspezifische Verfolgung von Frauen in Somalia

Aktenzeichen  M 11 K 14.31139

Datum:
2.9.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG AsylG § 3a Abs. 1, Abs. 2 Nr. 6
AufenthG AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7

 

Leitsatz

In Somalia sind Frauen besonderen Gefahren der Vergewaltigung, Verschleppung und der systematischen Versklavung ausgesetzt. Ein wirksamer Schutz gegen solche Übergriffe ist mangels staatlicher Autorität nicht gewährleistet. Es droht bei Rückkehr – insbesondere einer jungen, unverheirateten Frau mit einem nichtehelichen Kind – mit hinreichender Wahrscheinlichkeit die Gefahr eine geschlechtsspezifische Verfolgung iSd § 3a Abs. 1, Abs. 2 Nr. 6 AsylG durch das soziale Umfeld. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 27. Mai 2016 wird in den Nrn. 1 und 3 aufgehoben.
Die Beklagte wird verpflichtet, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
II.
Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kostenschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kostengläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die Klage hat Erfolg.
Das Gericht kann entscheiden, obwohl kein Vertreter der Beklagten zur mündlichen Verhandlung erschienen ist. Die Beteiligten wurden unter Hinweis auf diese Möglichkeit ordnungsgemäß geladen (vgl. § 102 Abs. 1 VwGO).
Für das Gericht ist hinsichtlich der Sach- und Rechtslage der Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung maßgeblich (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 Asylgesetz – AsylG). Insbesondere kommen das AsylG und das AufenthG in den durch das Gesetz zur Einführung beschleunigter Asylverfahren vom 11. März 2016 (BGBl I, S. 390), das Gesetz zur erleichterten Ausweisung von straffälligen Ausländern sowie zum erweiterten Ausschluss der Flüchtlingsanerkennung bei straffälligen Asylbewerbern vom 11. März 2016 (BGBl I, S. 394) und das Integrationsgesetz vom 31. Juli 2016 (BGBl I, S. 1939) geänderten Fassungen zur Anwendung.
Die im Hauptantrag auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gerichtete Klage ist zulässig und begründet. Die Beklagte ist verpflichtet, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen; der angefochtene Bescheid, der wirksam in die Klage einbezogen wurde, ist in den Nummern 1 und 3, welche dieser Verpflichtung entgegen stehen, aufzuheben (§ 113 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 5 Satz 1 VwGO).
Die Klägerin hat Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, weil ihr in Somalia seitens nichtstaatlicher Akteure im Sinne des § 3c Nr. 3 AsylG geschlechtsspezifische Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 i. V. § 3a Abs. 1, Abs. 2 Nr. 6 AsylG droht und die in § 3c Nummern 1 und 2 AsylG genannten Akteure erwiesenermaßen nicht in der Lage sind, ihr im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor dieser Verfolgung zu bieten.
Die vom Klägerbevollmächtigten in der mündlichen Verhandlung übergebenen Unterlagen belegen, dass die Klägerin am … Oktober 2015 eine Tochter, …, geboren hat. Für die Tochter der Klägerin wurde am 9. November 2015 ein Asylantrag (Az. des Bundesamts …) gestellt, über den noch nicht entschieden ist. Aus der vorgelegten Kopie der Geburtsurkunde des Standesamts … geht hervor, dass der Vater nicht angegeben wurde, bei der Tochter der Klägerin handelt es sich mithin um ein nichteheliches Kind.
Nach Ansicht des Gerichts droht der Klägerin als junge, unverheiratete Frau und insbesondere als Mutter eines nichtehelichen Kindes durch ihr soziales Umfeld im Falle einer Rückkehr mit hinreichender Gefahr geschlechtsspezifische Verfolgung im Sinne des § 3a Abs. 1, Abs. 2 Nr. 6 AsylG, die durch staatliche oder andere Stellen nicht abgewendet werden kann.
Nach dem Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschieberelevante Lage in Somalia vom 1. Dezember 2015 ist die Lage von Frauen und Mädchen in Südsomalia, woher die Klägerin stammt, weiterhin besonders prekär. Sie bleiben den besonderen Gefahren der Vergewaltigung, Verschleppung und der systematischen Versklavung ausgesetzt. Ein wirksamer Schutz gegen solche Übergriffe ist dem Lagebericht zufolge mangels staatlicher Autorität nicht gewährleistet. Erwachsene Frauen und viele minderjährige Mädchen werden zur Heirat gezwungen, häusliche Gewalt gegen Frauen ist weit verbreitet.
Im Falle der Klägerin kommt als deutlich gefahrenerhöhender Umstand hinzu, dass es sich bei ihr um eine Frau handelt, die ein nichteheliches Kind hat. Inwieweit dieser Umstand außerhalb ihrer engsten Familienangehörigen oder überhaupt in Somalia bereits bekannt ist, kann dahingestellt bleiben. Jedenfalls ist es der Klägerin nicht zumutbar, dass sie ihre Mutterschaft gegenüber ihrem Umfeld verschweigt, insbesondere dann nicht, wenn sie wieder eine Beziehung mit einem Mann eingehen will. Nach den sich aus dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes ergebenden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen in Somalia ist davon auszugehen, dass das weitere soziale Umfeld der Klägerin vorwerfen wird, in schwerwiegender Weise gegen die von Frauen einzuhaltenden Normen und Konventionen zu verstoßen bzw. verstoßen zu haben. Nach Ansicht des Gerichts besteht angesichts dieser Umstände für die Klägerin deshalb insgesamt die erhebliche Gefahr, geschlechtsspezifische Verfolgung asylerheblicher Intensität durch nichtstaatliche Akteure erleiden zu müssen.
Nach alledem ist der Klage stattzugeben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 ff. ZPO.


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