Aktenzeichen AN 10 S 17.00239
Leitsatz
Eine Eintragung im Fahreignungsregister kann nur noch bis zu dessen Löschung, dh nur noch während der Überliegefrist zum Zwecke der Entziehung einer Fahrerlaubnis verwendet werden. (Rn. 13) (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
1. Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 9. Januar 2017 wird angeordnet bzw. wiederhergestellt.
2. Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
3. Der Streitwert wird auf 7.500,00 EUR festgesetzt.
Gründe
I.
Die Antragsgegnerin entzog dem Antragsteller mit Bescheid vom 9. Januar 2017 dessen im Jahre 1971 erteilte Fahrerlaubnis und verpflichtete ihn, seinen Führerschein unverzüglich abzugeben. Für Letzteres wurde Sofortvollzug angeordnet. Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, der Antragsteller habe im Fahreignungsbewertungssystem nach einer Mitteilung des Kraftfahrtbundesamtes vom 22. Dezember 2014 insgesamt 9 Punkte erreicht.
Dagegen erhob der Kläger mit Schriftsatz seines Prozessbevollmächtigten vom 7. Februar 2017 Klage. Er führte zur Begründung im Wesentlichen aus, die Antragstellerin habe zum Teil nicht mehr berücksichtigungsfähige Eintragungen im Fahreignungsbewertungsregister berücksichtigt. Die vom Kraftfahrtbundesamt übersandte Mitteilung datiere vom 22. Dezember 2014. Daraus ergebe sich aber, dass die herangezogenen Eintragungen am 21. November 2014 getilgt worden seien, da die letzte Verkehrsordnungswidrigkeit des Antragstellers nach dem alten Recht am 21. November 2012 rechtskräftig geworden sei. Weil es sich bei den Verfehlungen des Antragstellers allesamt um Ordnungswidrigkeiten handle, müsse von einer Tilgungsfrist von zwei Jahren auszugehen sein. Zwar habe der Antragsteller am 13. November 2014 eine erneute Verkehrsordnungswidrigkeit begangen, die mit einem Punkt im Fahreignungsregister einzutragen war, doch ist hierauf bereits die neue Rechtlage, d.h. die Tilgungsfrist von 2,5 Jahren anzuwenden, was zur Folge habe, dass diese Verkehrsordnungswidrigkeit die Tilgungsfristen der nach alten Recht begangenen Verkehrsordnungswidrigkeiten nicht tangiere. Da also am 21. November 2014 Tilgungsreife eingetreten sei, sei die sogenannte Überliegefrist spätestens am 21. November 2015 abgelaufen, sodass diese Eintragungen im Bescheid der Antragsgegnerin vom 9. Januar 2017 keine Verwendung mehr hätten finden dürfen.
Des Weiteren beantragte der Antragsteller sinngemäß die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid der Antragsgegnerin wiederherzustellen bzw. anzuordnen.
Die Antragsgegnerin beantragte,
den Antrag abzulehnen.
Wegen weiterer Einzelheiten wird zur Vermeidung unnötiger Wiederholungen auf die vorgelegten Behördenakten sowie auf die Gerichtsakte Bezug genommen.
II.
Der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO ist zulässig und begründet.
Zwar hat der Antragsteller im Klageschriftsatz vom 7. Februar 2017 nur beantragen lassen, die aufschiebende Wirkung der Klage wiederherzustellen, doch bezieht sich dieser Antrag nach dessen sachgerechter Auslegung sowohl auf die Ziffer 1 als auch auf die Ziffer 2 des streitgegenständlichen Bescheids vom 9. Januar 2017. Darin hatte die Antragsgegnerin Sofortvollzug nur hinsichtlich der Ziffer 2 angeordnet, während Ziffer 1 des Bescheides von Gesetzes wegen gemäß § 4 Abs. 9 StVG sofort vollziehbar ist. Allerdings ergibt sich sowohl aus dem Antrag selbst als auch aus der Begründung, dass sich der Antrag auf beide Verfügungen bezieht.
Dieser Antrag ist auch begründet.
Im vorliegenden Fall überwiegt das Interesse des Antragstellers an der Wiederherstellung bzw. Anordnung der aufschiebenden Wirkung das öffentliche Interesse am Sofortvollzug. Im Rahmen dieser Interessenabwägung haben nämlich die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs in der Hauptsache erhebliche Bedeutung. Ist dieser Rechtsbehelf mit hoher Wahrscheinlichkeit erfolgreich, wird die Abwägung in der Regel zum Vorteil des Betroffenen ausfallen, da dann ein Interesse an der Anordnung bzw. Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung das öffentliche Interesse am Sofortvollzug regelmäßig überwiegt.
Nach der in diesem Verfahren gebotenen, aber auch ausreichenden summarischen Überprüfung der Sach- und Rechtslage liegen die Voraussetzungen des § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG nicht vor, sodass sich der Antragsteller gerade nicht als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erwiesen hat und seine Klage gegen die Entziehung der Fahrerlaubnis voraussichtlich erfolgreich ist.
Dies liegt im Wesentlichen darin begründet, dass die Antragsgegnerin nicht davon ausgehen hätte dürfen, dass zum Zeitpunkt des Bescheidserlasses im Januar 2017 für den Antragsteller noch insgesamt 9 Punkte im einheitlichen Fahreignungsbewertungssystem eingetragen waren. Zwar hat die Antragsgegnerin eine Mitteilung des Kraftfahrtbundesamtes mit diesem Inhalt erhalten, doch datiert diese Mitteilung vom 22. Dezember 2014. Zu diesem Zeitpunkt war sie augenscheinlich auch korrekt.
Allerdings hätten die meisten der vom Antragsteller begangenen Verkehrsordnungswidrigkeiten und deren Eintragungen ins Verkehrszentralregister bzw. ins Fahreignungsregister dem Antragsteller nicht mehr vorgehalten und nicht mehr zu seinem Nachteil verwertet werden dürfen (§ 29 Abs. 7 Satz 1 StVG). Vorliegend geht es nämlich gerade um die Zwecke des § 29 Abs. 7 Satz 1 i.V.m. § 28 Abs. 2 StVG, da es sich im vorliegenden Fall gerade um die Prüfung der Berechtigung zum Führen von Kraftfahrzeugen nach § 28 Abs. 2 Nr. 2 StVG handelt.
Nachdem § 29 Abs. 7 StVG a.F. (Fassung vom 17.6.2013, gültig bis 30.4.2014) bereits eine Überliegefrist von einem Jahr nach Eintritt der Tilgungsreife regelte, hat der Gesetzgeber das System in der aktuellen Fassung des § 29 StVG nunmehr überarbeitet und konkrete Fristen der Tilgung und Löschung von Eintragungen normiert. Dies hat zur Folge, dass eine Eintragung im Fahreignungsregister nur noch bis zu dessen Löschung, d.h. nur noch während der Überliegefrist zum Zwecke der Entziehung einer Fahrerlaubnis verwendet werden darf (vgl. hierzu: OVG Lüneburg, B.v. 22.2.2017, Az. 12 ME 240/16, juris, der sich im Wesentlichen auf die Gesetzesmaterialien, BT-Drucksache 17/12636, Seite 19 f., beruft). Die Kammer folgt der darin enthaltenen Begründung. Zwar normiert § 4 Abs. 5 Satz 5 StVG das sogenannte „Tatzeitprinzip“, d.h. die Verkehrsbehörde hat auf den Punktestand abzustellen, der sich zum Zeitpunkt der Begehung der letzten zur Ergreifung der Maßnahme führenden Straftat oder Ordnungswidrigkeit ergeben hat, doch hat sie trotz dieses Tattagsprinzips zum Zeitpunkt ihrer Entziehungsentscheidung nur (noch) die Eintragungen heranzuziehen, die noch nicht (endgültig) im Fahreignungsbewertungssystem gelöscht worden sind. Es ist also neben dem Tattagsprinzip für die Bewertung und Heranziehung von Eintragungen auch das Löschungsdatum dieser Eintragungen zu berücksichtigen. Die Berücksichtigung dieser beiden Prinzipien stellt nach der Meinung der Kammer auch keinen unauflösbaren Widerspruch dar, sondern führt lediglich dazu, dass die Straßenverkehrsbehörde eine Maßnahme nach § 4 Abs. 5 StVG innerhalb der Überliegefrist zu treffen hat. Dies entspräche auch dem Gedanken, möglicherweise ungeeignete Fahrzeugführer zeitnah vom Straßenverkehr auszuschließen, um ihnen ebenfalls zeitnah nach einer eventuellen Verhaltensänderung und Ablauf der Wie-dererteilungssperre den Erwerb einer neuen Fahrerlaubnis zu ermöglichen. Um den Straßenverkehrsbehörden allerdings die Möglichkeit einzuräumen, beispielsweise eine Maßnahme nach § 4 Abs. 5 StVG ohne Zeitdruck treffen zu können, hat der Gesetzgeber ausweislich der Gesetzesmaterialien (a.a.O.) diese einjährige Überliegefrist für ausreichend erachtet.
Dies hat zur Folge, dass Eintragungen im Fahreignungsbewertungssystem nach Ablauf der Überliegefristen und der darauffolgenden Löschung nicht mehr herangezogen werden dürfen. Konsequenterweise hat der Gesetzgeber in § 4 Abs. 5 Satz 7 StVG ausdrücklich lediglich geregelt, dass Verringerungen von Punkteständen auf Grund von Tilgungen (nicht aber auf Grund von Löschungen) unberücksichtigt bleiben.
In Anwendung dieser Maßgaben ist der streitgegenständliche Entzugsbescheid voraussichtlich rechtswidrig und verletzt den Antragssteller in seinen Rechten.
Die Antragsgegnerin hat die Mitteilung des Kraftfahrtbundesamtes vom 22. Dezember 2014 zugrunde gelegt. Diese war, wie ausgeführt, zu diesem Zeitpunkt auch richtig. Allerdings hat sie den Entzugsbescheid erst am 9. Januar 2017 gefertigt; zu diesem Zeitpunkt war gegen den Antragsteller lediglich ein Punkt im Fahreignungsbewertungssystem eingetragen, nämlich eine Geschwindigkeitsüberschreitung vom 27. Mai 2014, rechtskräftig seit 13. November 2014. Alle anderen eingetragenen Punkte waren zu diesem Zeitpunkt nicht nur bereits getilgt, sondern darüber hinaus schon gelöscht, weil die einjährige Überliegefrist bereits abgelaufen war. Nach insoweit unstreitigem Sachvortrag lief die Tilgungsfrist aller ins Fahreig-nungsbewertungssystem eingetragenen Ordnungswidrigkeiten auf Grund der Regelung des § 29 Abs. 6 Satz 1 StVG a.F. spätestens am 21. November 2014 ab. Bis zu diesem Zeitpunkt waren für den Antragsteller 18 Punkte im Verkehrszentralregister oder entsprechend 8 Punkte im Fahreignungsbewertungssystem eingetragen. Die neuerliche Verkehrsordnungswidrigkeit vom 27. Mai 2014, die nach Inkrafttreten der StVG-Novelle begangen wurde, unterliegt nicht mehr der Ablaufhemmung des § 29 Abs. 6 Satz 1 StVG a.F., sondern ist ausschließlich nach § 29 Abs. 1 StVG zu behandeln, wonach die Tilgungsfrist 2,5 Jahre beträgt. Ist aber die Tilgungsfrist der Voreintragungen am 21. November 2014 abgelaufen, läuft die Überliegefrist des § 29 Abs. 6 Satz 2 StVG am 21. November 2015 ab. Ab dieser Zeit darf sie, wie sich aus dem Umkehrschluss von § 29 Abs. 6 Satz 3 StVG ergibt, nicht mehr an die nach Landesrecht zuständige Behörde zur Ergreifung von Maßnahmen nach dem Fahreig-nungsbewertungssystem nach § 4 Abs. 5 StVG verwendet werden. Vielmehr darf sie, wie dargelegt, gemäß § 29 Abs. 7 Satz 1 StVG nicht mehr zum Nachteil des Antragstellers herangezogen werden.
Dies wiederum hat zur Folge, dass die Voraussetzungen des § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG nach summarischer Überprüfung nicht gegeben sind und die Klage voraussichtlich Erfolg haben wird. Damit überwiegt das Interesse des Antragstellers an der Anordnung bzw. Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung.
Dem Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO ist daher stattzugeben und die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen und wiederherzustellen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
Der Streitwertbeschluss beruht auf § 52 Abs. 2 GKG i.V.m. Ziffern 1.5, 46.1, 46.3 und 46.5 des Streitwertkataloges für die Verwaltungsgerichtsbarkeit.