Verwaltungsrecht

In Deutschland lebendes Kind als inlandsbezogenes Abschiebungshindernis

Aktenzeichen  M 21 S 17.32934

Datum:
12.7.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG AsylG § 30 Abs. 1, § 36 Abs. 4 S. 1, § 77 Abs. 2
AufenthG AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1
EMRK EMRK Art. 8
VwGO VwGO § 80 Abs. 5

 

Leitsatz

1 Die Tatsache, dass die Lebensbedingungen in Sierra Leone allgemein hart sind, stellt für sich gesehen keine lebensbedrohliche Situation und Gefahr im Sinne von § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG dar. (Rn. 16) (redaktioneller Leitsatz)
2 Im Hinblick auf die Lebensbedingungen, die einen Ausländer im Falle der Rückkehr in seinen Herkunftsstaat erwarten, kann dieser Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG nur beanspruchen, wenn er bei einer Rückkehr aufgrund dieser Bedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt wäre. (Rn. 16) (redaktioneller Leitsatz)
3 Zwar darf ein Ausländer nach § 60 Abs. 5 AufenthG nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der EMRK ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Sowohl aus der Systematik als auch der Entstehungsgeschichte folgt jedoch, dass es insoweit nur um zielstaatsbezogenen Abschiebungsschutz geht. (Rn. 18) (redaktioneller Leitsatz)
4 Die Trennung der Familie stellt ein inlandsbezogenes Abschiebungshindernis dar, das nicht durch das Bundesamt im Rahmen des Asylverfahrens, sondern allein durch die Ausländerbehörde vor der Abschiebung zu prüfen ist. (Rn. 18) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Der Antragsteller hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

Gründe

I.
Der nicht ausgewiesene Antragsteller ist nach eigenen Angaben sierra-leonischer Staatsangehöriger. Er ist am 20. April 2013 in die Bundesrepublik Deutschland eingereist und hat am 25. Juni 2013 bei dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) einen Antrag auf Asyl gestellt.
Im Rahmen seiner Anhörung vor dem Bundesamt am 28. Oktober 2016 brachte er zur Begründung seines Asylantrags vor, er gehöre zum Stamm der Temne. Sein Vater sei Diamantenhändler gewesen. Er habe sowohl mit der Regierung als auch mit den Rebellen Geschäfte gemacht. Zudem habe er mit Waffen gehandelt. Im Jahr 2003 seien seine Eltern von Rebellen in ihrem Haus umgebracht worden. Seine Großmutter sei daraufhin mit ihm nach Libyen geflohen, wo er dann aufgewachsen sei. Sie sei bereits 2004 gestorben, habe ihm aber gesagt, dass er niemals nach Sierra Leone zurückkehren dürfe, da er keine Familie mehr dort habe. Sierra Leone sei ein fürchterliches Land. Es gebe dort Ebola und es sei das ärmste Land überhaupt. Niemals würde er dorthin zurückkehren. Hier in Deutschland lebe sein 2016 geborener Sohn.
Mit Bescheid vom 2. Februar 2017, zugestellt am 7. Februar 2017, lehnte das Bundesamt den Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, auf Asylanerkennung sowie auf subsidiären Schutz als offensichtlich unbegründet ab (Nrn. 1 bis 3), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 4), forderte den Antragsteller zum Verlassen der Bundesrepublik Deutschland innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe der Entscheidung auf und drohte ihm die Abschiebung nach Sierra Leone an (Nr. 5). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 6).
Zur Begründung heißt es in dem Bescheid, aus dem Sachvortrag des unverfolgt ausgereisten Antragstellers sei weder eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgungshandlung noch ein flüchtlingsrelevantes Anknüpfungsmerkmal ersichtlich. Der bereits mit acht Jahren ausgereiste Antragsteller habe keine persönliche Verfolgung erlitten. Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG lägen entsprechend der allgemeinen Lage in Sierra Leone und unter Berücksichtigung der individuellen Umstände des Antragstellers nicht vor. Er sei in erwerbsfähigem Alter, habe bis zur 8. Klasse die Schule besucht sowie in der Landwirtschaft und im Haushalt gearbeitet. Es bestünden keine Anhaltspunkte dafür, dass er nicht im Stande sein würde, bei einer Rückkehr sich eine zumindest existenzsichernde Grundlage zu schaffen.
Der Antragsteller hat am 14. Februar 2017 durch seinen Bevollmächtigten Klage erhoben (M 21 K 17.32447) und (sinngemäß) beantragt, den Bescheid vom 2. Februar 2017 mit Ausnahme der Ziffer 2 aufzuheben und die Antragsgegnerin zu verpflichten, ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, hilfsweise den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen sowie weiter hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegen.
Gleichzeitig wurde beantragt,
die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen.
Zur Begründung führte er aus, er habe keinerlei Familie in Sierra Leone. Aufgrund der vorliegenden systematischen Mängel im Sozial- und Gesundheitssystem in Sierra Leone habe er keine Möglichkeit, sich dort nach so langem Aufenthalt außerhalb des Landes ein würdevolles Leben aufzubauen. Überdies sei es ihm aufgrund seines sich hier in Deutschland befindenden Kindes nicht zumutbar, nach Sierra Leone zurückzukehren.
Das Bundesamt hat mit Schreiben vom 6. Februar 2017 die Akten vorgelegt und sich weder zu der Klage noch zu dem Antrag geäußert.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten in diesem und im Klageverfahren sowie auf die vorgelegten Behördenakten verwiesen.
II.
Der Antrag, die kraft Gesetzes (§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO, § 75 AsylG) ausgeschlossene aufschiebende Wirkung der erhobenen Klage nach § 80 Abs. 5 VwGO anzuordnen, ist zulässig, aber nicht begründet.
Nach § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG darf die Aussetzung der Abschiebung in den Fällen der Ablehnung eines Asylantrags als offensichtlich unbegründet nur angeordnet werden, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsaktes bestehen, wobei Tatsachen und Beweismittel, die von den Beteiligten nicht angegeben worden sind, unberücksichtigt bleiben, es sei denn, sie sind gerichtsbekannt oder offenkundig (§ 36 Abs. 4 Satz 2 AsylG). Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist der Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts, § 77 Abs. 1 Satz 1 2. Alt. AsylG. Ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes liegen vor, wenn erhebliche Gründe dafür sprechen, dass die Abschiebungsandrohung einer rechtlichen Prüfung wahrscheinlich nicht standhält (BVerfG, U.v. 14.5.1996 – 2 BvR 1516/93 – BVerfGE 94, 166 ff.). Die gerichtliche Überprüfung der vom Bundesamt getroffenen Offensichtlichkeitsfeststellung hat im Hinblick auf den nach Art .19 Abs. 4 GG gebotenen effektiven Rechtsschutz aufgrund der als asylerheblich vorgetragenen oder zu erkennenden Tatsachen und in Anwendung des materiellen Asylrechts erschöpfend, wenngleich mit Verbindlichkeit allein für das Eilverfahren zu erfolgen (BVerfG, B.v. 19.6.1990 – 2 BvR 369/90 – juris Rn. 20). Die Anforderungen entsprechen insofern denjenigen der Ablehnung einer asylrechtlichen Klage als offensichtlich unbegründet (BVerfG, B.v. 19.6.1990 a.a.O. – juris Rn. 21).
Anknüpfungspunkt zur Frage der Bestätigung oder Verwerfung des Sofortvollzugs durch das Gericht muss daher die Prüfung sein, ob das Bundesamt den Antrag zu Recht als offensichtlich unbegründet abgelehnt hat und ob diese Ablehnung auch weiterhin Bestand haben kann.
Das Gericht hat im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes auch die Einschätzung des Bundesamtes, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (§ 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AsylG), zum Gegenstand der Prüfung zu machen. Dies ist zwar der gesetzlichen Regelung des § 36 AsylG nicht ausdrücklich zu entnehmen, jedoch gebieten die verfassungsrechtlichen Gewährleistungen der Art. 19 Abs. 4 GG und Art. 103 Abs. 1 GG die diesbezügliche Berücksichtigung auch im Verfahren nach § 36 AsylG (vgl. zur vergleichbaren Rechtslage nach § 51 Ausländergesetz 1990 BVerfG, U.v. 14.5.1996 – 2 BvR 1516/93 – BVerfGE 94, 166/221).
Ein Asylantrag ist gemäß § 30 Abs. 1 AsylG offensichtlich unbegründet, wenn die Voraussetzungen für eine Anerkennung als Asylberechtigter und die Voraussetzungen für die Flüchtlingseigenschaft (einschließlich der Voraussetzungen für subsidiären Schutz) offensichtlich nicht vorliegen. Dies ist dann anzunehmen, wenn an der Richtigkeit der tatsächlichen Feststellungen vernünftigerweise keine Zweifel bestehen und sich bei einem solchen Sachverhalt nach allgemein anerkannter Rechtsauffassung die Ablehnung des Antrags geradezu aufdrängt (BVerfG, B.v. 21.7.2000 – 2 BvR 1429/98 – juris Rn. 3).
Entsprechend diesem Maßstab begegnet die Entscheidung des Bundesamts keinen ernstlichen Zweifeln. Das Gericht folgt den Gründen des angefochtenen Bescheids, nimmt auf diesen Bezug (§ 77 Abs. 2 AsylG) und weist ergänzend auf Folgendes hin:
Es besteht vorliegend insbesondere kein greifbarer Anhaltspunkt für die Annahme eines Abschiebungsverbots. Die Tatsache, dass die Lebensbedingungen in Sierra Leone allgemein hart sind, stellt für sich gesehen keine lebensbedrohliche Situation und Gefahr im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG dar. Im Hinblick auf die Lebensbedingungen, die einen Ausländer im Falle der Rückkehr in seinen Herkunftsstaat erwarten, insbesondere die dort herrschenden wirtschaftlichen Existenzbedingungen und die damit zusammenhängende Versorgungslage, kann ein Ausländer Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nur ausnahmsweise beanspruchen, wenn er bei einer Rückkehr aufgrund dieser Bedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt wäre. Nur dann gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, ihm trotz einer fehlenden politischen Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren. Die Abschiebung wäre nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung allenfalls auszusetzen, wenn der Ausländer ansonsten „gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde“ (vgl. BVerwG, U. v. 12.7.2001 – 1 C 5.01 – NVwZ 2002, 101), also im Falle einer schlechten Lebensmittelversorgung, wenn der Ausländer mangels jeglicher Lebensgrundlage dem baldigen sicheren Hungertod ausgeliefert werden würde (BVerwG, a.a.O.).
Das ist bei einem voll erwerbsfähigen jungen Mann wie dem Antragsteller nicht an-zunehmen, zumal er über ein gewisses Maß an Schul- und Ausbildung verfügt und auch in der Vergangenheit in verschiedenen Ländern bewiesen hat, dass er für seinen Lebensunterhalt sorgen kann.
Soweit der Antragsteller darauf verweist, dass es ihm nicht zuzumuten sei, sein in Deutschland geborenes und derzeit (noch) dort lebendes Kind zurückzulassen, führt dies nicht zu einer Änderung der rechtlichen Bewertung. Zwar darf ein Ausländer nach § 60 Abs. 5 AufenthG nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der EMRK ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Über diese Norm werden die Schutzregeln der EMRK in innerstaatliches Recht inkorporiert. Sowohl aus der Systematik als auch der Entstehungsgeschichte folgt jedoch, dass es insoweit nur um zielstaatsbezogenen Abschiebungsschutz geht. Inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse, abgeleitet aus Art. 8 EMRK, ziehen regelmäßig nur eine Duldung gemäß § 60a Abs. 2 AufenthG nach sich. Die Trennung der Familie stellt damit ein inlandsbezogenes Abschiebungshindernis dar, das nicht durch das Bundesamt im Rahmen des Asylverfahrens, sondern allein durch die Ausländerbehörde vor der Abschiebung zu prüfen ist (vgl. HessVGH, B. v. 15.2.2006 – 7 TG 106/06 -, NVwZ -RR 2006, 826).
Die auf der Ablehnung des Asylantrags als offensichtlich unbegründet beruhende Abschiebungsandrohung mit der einwöchigen Ausreisefrist nach §§ 34, 36 Abs. 1 Satz 1 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG ist damit nicht zu beanstanden.
Der Antrag ist daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzulehnen. Ge-richtskosten werden nicht erhoben (§ 83 b AsylG).
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).


Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen

IT- und Medienrecht

Abtretung, Mietobjekt, Vertragsschluss, Kaufpreis, Beendigung, Vermieter, Zeitpunkt, Frist, Glaubhaftmachung, betrug, Auskunftsanspruch, Vertragsurkunde, Auskunft, Anlage, Sinn und Zweck, Vorwegnahme der Hauptsache, kein Anspruch
Mehr lesen


Nach oben