Verwaltungsrecht

Kein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft eines irakischen Staatsangehörigen mit yezidischem Glauben mangels Vorliegen einer Gruppenverfolgung in der Provinz Ninive

Aktenzeichen  Au 5 K 18.30313

Datum:
18.4.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 8300
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 113 Abs. 1 S. 1, Abs. 5 S. 1
AsylG § 3, § 4
RL 2011/95/EU Art. 4 Abs. 4

 

Leitsatz

1 Für Angehörige der yezidischen Religionsgemeinschaft in der irakischen Provinz Ninive liegt mangels der erforderlichen „Verfolgungsdichte“ keine regionale Gruppenverfolgung durch den IS als nichtstaatlichen Akteur vor. (Rn. 48 – 53) (redaktioneller Leitsatz)
2 Die vormalige Verfolgungssituation für yezidische Glaubenszugehörige besteht seit Mitte/Ende des Jahres 2017 nicht mehr unverändert fort. Die Provinz Ninive ist befriedet und unter Kontrolle der irakischen Zentralregierung. (Rn. 58) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Gründe

Der Einzelrichter (§ 76 Abs. 1 AsylG) konnte über die Klage des Klägers ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung entscheiden, da sich die Beteiligten übereinstimmend mit einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren einverstanden erklärt habe (§ 101 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO).
Die ausgehend von der Beschwer des Klägers ausschließlich auf die Verpflichtung zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (§ 3 AsylG) bzw. hilfsweise auf Gewährung des subsidiären Schutzstatus (§ 4 AsylG) gerichtete Klage bleibt in der Sache ohne Erfolg. Sie ist zwar zulässig, aber nicht begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 22. Januar 2018 ist, soweit er sinngemäß mit der Klage vom 8. Februar 2018 angegriffen worden ist, rechtmäßig und nicht geeignet, den Kläger in seinen Rechten zu verletzen (§ 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO). Der Bescheid ist unter Würdigung der Verhältnisse in dem gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung im schriftlichen Verfahren rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Kläger besitzt keinen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft bzw. hilfsweise auf Gewährung des subsidiären Schutzstatus, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO.
1. Der Kläger besitzt keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
Gem. § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, wenn er Flüchtling im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG ist. Hiernach ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtstellung der Flüchtlinge (Genfer Flüchtlingskonvention – GFK –, BGBl. 1953 II Seite 559), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.
Weitere Einzelheiten zum Begriff der Verfolgung, den maßgeblichen Verfolgungsgründen sowie zu den in Betracht kommenden Verfolgungs- und Schutzakteuren regeln die §§ 3a-d AsylG in Umsetzung der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. EU, L 337 vom 20. Dezember 2011, S. 9-26, sog. Qualifikationsrichtlinie, im Folgenden: RL 2011/95/EU).
Nach § 3a Abs. 1 AsylG (vgl. auch Art. 9 der RL 2011/95/EU) gelten als Verfolgung Handlungen, die – Nr. 1 – aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung grundlegender Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II Seite 685,953) keine Abweichung zulässig ist, oder die – Nr. 2 – in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie in der Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist.
Als Verfolgung können nach § 3a Abs. 2 AsylG u.a. folgende Handlungen gelten: die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt – Nr. 1 – sowie Handlungen, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen oder gegen Kinder gerichtet sind – Nr. 6 –.
Ferner muss gemäß § 3a Abs. 3 AsylG zwischen den Verfolgungsgründen im Sinne von § 3 Abs. 1 und § 3b AsylG und den Verfolgungshandlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen eine Verknüpfung bestehen.
Nach § 3c AsylG kann die Verfolgung ausgehen von – Nr. 1 – dem Staat, – Nr. 2 – Parteien oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebietes beherrschen, oder – Nr. 3 – von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die vorgenannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung im Sinne des § 3d AsylG zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht.
In der Definition der Flüchtlingseigenschaft (§ 3 Abs. 1 AsylG) und der RL 2011/95/EU ist angelegt, dass bei ihrer Prüfung als Prognosemaßstab derjenige der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zugrunde zu legen ist. Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit in diesem Sinne liegt vor, wenn sich die Rückkehr in den Heimatstaat aus der Sicht eines besonnen und vernünftig denkenden Menschen als unzumutbar erweist, weil bei Abwägung aller in Betracht kommenden Umstände die für eine bevorstehende Verfolgung streitenden Tatsachen ein größeres Gewicht besitzen als die dagegen sprechenden Gesichtspunkte (Vgl. OVG NRW, Urteil vom 17. August 2010 – 8 A 4063/06.A – juris).
Nach Art. 4 Abs. 4 der RL 2011/95/EU – dieser hat keine nationale Entsprechung – ist hierbei die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits vorverfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung und einem solchen Schaden bedroht wird.
Dies entspricht dem der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts zum Asylgrundrecht zugrunde liegenden Gedanken, die Zumutbarkeit der Rückkehr danach differenzierend zu beurteilen, ob der Antragsteller bereits verfolgt worden ist oder nicht (vgl. grundlegend BVerfG, Beschluss vom 2. Juli 1980 – 1 BvR 147, 181, 182/80 – BVerfGE 54, (360 f.); dem folgend BVerwG, Urteile vom 27. April 2010 – 10 C 5/09 – BVerwGE 136, 377-388 und vom 31. März 1981 – 9 C 237.80 – juris).
Die Nachweiserleichterung, die einen inneren Zusammenhang zwischen erlittener Vorverfolgung und befürchteter erneuter Verfolgung voraussetzt (vgl. BVerwG, Urteile vom 27. April 2010 – 10 C 5/09 – und vom 18. Februar 1997 – 9 C 9.96 –, BVerwGE 104, 97 (101 ff.), juris), beruht zum einen auf der tatsächlichen Erfahrung, dass sich Verfolgung nicht selten und Pogrome sogar typischerweise in gleicher oder ähnlicher Form wiederholen (vgl. BVerwG, Urteile vom 27. April 2010 – 10 C 5/09 – und vom 27. April 1982 – 9 C 308.81 –, BVerwGE 65, 250 (252), juris).
Zum anderen widerspricht es dem humanitären Charakter des Asyls, demjenigen, der das Schicksal der Verfolgung bereits erlitten hat, wegen der meist schweren und bleibenden – auch seelischen – Folgen das Risiko einer Wiederholung aufzubürden (vgl. BVerwG, Urteile vom 27. April 2010 – 10 C 5/09 – und vom 18. Februar 1997 – 9 C 9.96 – BVerwGE 104, 97 (99), juris).
Art. 4 Abs. 4 der RL 2011/95/EU privilegiert den von ihr erfassten Personenkreis bei einer Vorverfolgung durch eine Beweiserleichterung, nicht aber durch einen herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab. Sie misst den in der Vergangenheit liegenden Umständen Beweiskraft für Ihre Wiederholung bei und begründet für die von ihr begünstigten Antragsteller eine widerlegbare Vermutung dafür, dass sie erneut von einem ernsthaften Schaden bei der Rückkehr in ihr Heimatland bedroht werden und entlastet sie von der Notwendigkeit, stichhaltige Gründe dafür vorzulegen, dass sich die vorverfolgungsbegründenden oder einen solchen Schaden begründenden Umstände bei Rückkehr in das Heimatland erneut realisiert werden (vgl. BVerwG, Urteil vom 27. April 2010 – 10 C 5/09 –; Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Urteil vom 28. Februar 2008 – 37201/06 – Saadi, Rn. 128 m.w.N., juris).
Diese Vermutung kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung bzw. des Eintritts eines solchen Schadens entkräften. Die Beurteilung, ob stichhaltige Gründe die Vermutung widerlegen, obliegt dem Tatrichter im Rahmen freier Beweiswürdigung (vgl. BVerwG, Urteil vom 27. April 2010 – 10 C 5/09 –; Verwaltungsgericht Augsburg, Urteil vom 11. Juli 2016 – Au 5 K 16/30604 – juris).
Aus den in § 25 AsylG (und Art. 4 RL 2011/95/EU) geregelten Mitwirkungs- und Darlegungsobliegenheiten des Drittstaatsangehörigen folgt, dass es auch unter Berücksichtigung dieser Vorgaben Sache des Ausländers ist, die Gründe für seine Furcht vor politischer Verfolgung schlüssig vorzutragen. Dazu hat er unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei Wahrunterstellung ergibt, dass bei verständiger Würdigung politische Verfolgung droht (vgl. nur BVerwG, Urteil vom 24. März 1987 – 9 C 321.85 – juris).
Hierzu gehört, dass der Ausländer zu den in seine Sphäre fallenden Ereignissen, insbesondere zu seinen persönlichen Erlebnissen, eine Schilderung gibt, die geeignet ist, den behaupteten Anspruch lückenlos zu tragen. Bei der Bewertung der Stimmigkeit des Sachverhalts müssen u.a. Persönlichkeitsstruktur, Wissensstand und Herkunft des Ausländers berücksichtigt werden.
Gemäß nach diesen Kriterien liegen die Voraussetzungen der Flüchtlingseigenschaft im Sinne des § 3 Abs. 4 i.V.m. Abs. 1 AsylG hinsichtlich des Klägers nicht vor. Da im Verfahren keine zielgerichtete individuelle Bedrohung insbesondere seitens der Terrormiliz ‘Islamischer Staat‘ (IS) geltend gemacht hat, ist die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft an den Kläger ausschließlich über die Grundsätze der Gruppenverfolgung für yezidische Glaubensangehörige möglich.
Das Gericht ist der Auffassung, dass für Glaubenszugehörige der yezidischen Glaubensgemeinschaft, die wie der Kläger aus der Provinz Ninive im Zentralirak stammen, die Voraussetzungen einer Gruppenverfolgung im hier maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung im schriftlichen Verfahren (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG) nicht mehr gegeben sind.
Die rechtlichen Voraussetzungen für die Annahme einer Gruppenverfolgung sind in der höchstrichterlichen Rechtsprechung grundsätzlich geklärt (vgl. BVerwG, Urteile vom 21. April 2009 – 10 C 11/08 – und vom 5. Juli 1994 – 9 C 158.94 – juris).
Danach kann sich die Gefahr eigener Verfolgung für einen Ausländer, der die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG begehrt, nicht nur aus gegen ihn selbst gerichteten Maßnahmen ergeben (anlassgeprägte Einzelverfolgung), sondern auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen, wenn diese Dritten wegen eines asylerheblichen Merkmals verfolgt werden, das er mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet (vgl. BVerfG, Beschluss vom 23. Januar 1991 – 2 BvR 902/85 u.a. – BVerfGE 83, 216; BVerwG, Urteile vom 21. April 2009 – 10 C 11/08 – und vom 5. Juli 1994 – 9 C 158.94 – juris).
Dabei ist je nach den tatsächlichen Gegebenheiten auch zu berücksichtigen, ob die Verfolgung allein an ein bestimmtes unverfügbares Merkmal wie die Religion anknüpft oder ob für die Bildung der verfolgten Gruppe und die Annahme einer individuellen Betroffenheit weitere Umstände oder Indizien hinzutreten müssen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 5. Mai 2003 – 1 B 234.02 – und Urteil vom 30. April 1996 – 9 C 171.95 – BVerwGE 101, 134 (140 f.), juris).
Die Annahme einer alle Gruppenmitglieder erfassenden gruppengerichteten Verfolgung setzt – abgesehen von den Fällen eines (staatlichen) Verfolgungsprogramms –, vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 5. Juli 1994 – 9 C 158.94 – BVerwGE 96, 200 (204), juris), ferner eine bestimmte „Verfolgungsdichte“ voraus, welche die „Regelvermutung“ eigener Verfolgung rechtfertigt (vgl. BVerwG, Urteile vom 18. Juli 2006 – 1 C 15.05 – Rn. 20 und vom 5. Juli 1994 – 9 C 158.94 – BVerwGE 96, 200 (203), juris).
Hierfür ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht. Voraussetzung für die Annahme einer Gruppenverfolgung ist ferner, dass die festgestellten Verfolgungsmaßnahmen die von ihnen Betroffenen gerade in Anknüpfung an asylerhebliche Merkmale treffen. Ob eine in dieser Weise spezifische Zielrichtung vorliegt, die Verfolgung mithin „wegen“ eines der in § 3 AsylG genannten Merkmale erfolgt, ist anhand ihres inhaltlichen Charakters nach der erkennbaren Gerichtetheit der Maßnahme selbst zu beurteilen, nicht nach den subjektiven Gründen oder Motiven, die den Verfolgenden dabei leiten (vgl. BVerwG, Urteil vom 5. Juli 1994 – 9 C 158.94 – BVerwGE 96, 200 (204), juris).
Ob Verfolgungshandlungen gegen eine bestimmte Gruppe von Menschen in deren Herkunftsstaat die Voraussetzungen der Verfolgungsdichte erfüllen, ist aufgrund einer wertenden Betrachtung im Sinne der Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung zu entscheiden. Dabei muss zunächst die Gesamtzahl der Angehörigen der von Verfolgungshandlungen betroffenen Gruppe ermittelt werden. Weiter müssen Anzahl und Intensität aller Verfolgungsmaßnahmen, gegen die Schutz weder von staatlichen Stellen noch von staatsähnlichen Herrschaftsorganisationen im Sinne von § 3 d AsylG einschließlich internationaler Organisationen zu erlangen ist, möglichst detailliert festgestellt und hinsichtlich der Anknüpfung an ein oder mehrere unverfügbare Merkmale im Sinne von § 3 AsylG nach ihrer objektiven Gerichtetheit zugeordnet werden. Alle danach gleichgearteten, auf eine nach denselben Merkmalen zusammengesetzte Gruppe bezogenen Verfolgungsmaßnahmen müssen schließlich zur ermittelten Größe dieser Gruppe in Beziehung gesetzt werden, weil eine bestimmte Anzahl von Eingriffen, die sich für eine kleine Gruppe von Verfolgten bereits als bedrohlich erweist, gegenüber einer großen Gruppe vergleichsweise geringfügig erscheinen kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 18. Juli 2006 – 1 C 15.05 – juris Rn 20).
Der Feststellung dicht und eng gestreuter Verfolgungsschläge bedarf es jedoch nicht, wenn hinreichend sichere Anhaltspunkte für ein (staatliches) Verfolgungsprogramm bestehen, dessen Umsetzung bereits eingeleitet ist oder alsbald bevorsteht (vgl. BVerwG, Urteil vom 5. Juli 1994 – 9 C 158.94 – BVerwGE 96, 200 (204)); zu der ferner zu beachtenden Möglichkeit einer „Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit“ vgl. zuletzt etwa BVerwG, Beschluss vom 5. Mai 2003 – 1 B 234.02 –; BVerfG, Beschluss vom 23. Januar 1991 – 2 BvR 902/85 – BVerfGE 83, 216-238 (234), juris, jeweils m.w.N).
Diese Grundsätze für die unmittelbare und die mittelbare staatliche Gruppenverfolgung sind prinzipiell auch auf die private Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure übertragbar, wie sie durch das Asylgesetz ausdrücklich als schutzbegründend geregelt ist (vgl. BVerwG, Urteile 21. April 2009 – 10 C 11/08 – und vom 18. Juli 2006 – 1 C 15/05 – BVerwGE 126, 243-254; OVG NRW, Beschluss vom 30. März 2011 – 9 A 567/11.A – juris).
Gruppengerichtete Verfolgungen, die von Dritten ausgehen, erfassen nicht immer ein ganzes Land gewissermaßen flächendeckend. Die ihnen zugrundeliegenden ethnischen, religiösen, kulturellen oder sozialen Gegensätze können in einzelnen Landesteilen unterschiedlich ausgeprägt sein; die darin wurzelnden Spannungen können sich in unterschiedlichem Grade auf das Zusammenleben verschiedener Bevölkerungsteile auswirken. Deshalb ist – jedenfalls bei gruppengerichteten Verfolgungen durch nicht-staatliche Kräfte – von der Möglichkeit auszugehen, dass solche Verfolgungen regional oder lokal begrenzt sind mit der Folge, dass sich die verfolgungsfreien Räume als inländische Fluchtalternative darstellen können und dass die dort ansässigen Gruppenangehörigen als unverfolgt zu gelten haben. Allerdings bedarf dabei näherer Ermittlung, ob eine bestehende Schutzunwilligkeit des Staates die Gefahr einer Ausweitung der Verfolgung in bisher verfolgungsfreie Räume begründet (vgl. BVerfG, Beschluss vom 23. Januar 1991 – 2 BvR 902/85 – BVerfGE 83, 216-238, juris).
Nach diesen Maßstäben ist der Kläger als Angehöriger der yezidischen Religionsgemeinschaft bezogen auf seinen letzten Aufenthaltsort … bei Mossul in der Provinz Ninive keiner regionalen Gruppenverfolgung durch den IS als nichtstaatlichem Akteur ausgesetzt.
Im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung fehlt es jedenfalls an der erforderlichen „Verfolgungsdichte“, die für das Vorliegen einer Gruppenverfolgung erforderlich ist.
Nach den dem Gericht zur Verfügung stehenden Erkenntnisquellen belief sich die Zahl der in der Provinz Ninive ansässigen Yeziden vor dem Überfall durch den IS auf ca. 291.000 Menschen in der Region, wobei diese Zahl anhand der ausgegebenen Lebensmittelkarten ermittelt werden konnte, und weiteren ca. 65.000 Menschen in der Region Sheikhan (vgl. Gutachten des Europäischen Zentrums für Kurdische Studien vom 16. September 2013 an das OVG NRW, S. 11 f., juris).
Zwar wurden seit 2014 Schätzungen zufolge 5000 Yeziden aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit getötet, mehr als 6000 Yezidinnen versklavt, 300 000 Yeziden wurden vertrieben. 24 Massengräber wurden in der Region … bereits gefunden. Befürchtet wird, dass fast doppelt so viele an verschiedenen Orten in der Region liegen, viele davon weiter südlich der aktuellen Frontlinie (vgl. Die Zeit online, Die Vergessenen von, 13. Juni 2016, http://www.zeit.de/politik/ausland/2016-06/jesiden-nordirak-islamischer-staat; Die Jesiden von, Le Monde diplomatique, Januar 2017, S. 11).
Diese Verfolgungssituation für yezidische Glaubenszugehörige besteht seit Mitte/Ende des Jahres 2017 jedoch nicht mehr unverändert fort und führt im vorbezeichneten Verfahren dazu, dass die Voraussetzungen für die Gruppenverfolgung von Yeziden in der Provinz Ninive nicht mehr angenommen werden können. Im August 2017 erklärte der irakische Ministerpräsident Haidar al-Abadi, dass mit der Stadt Tal Afar eine der letzten IS-Bastionen im Land befreit worden sei. Die US-geführte Anti-IS-Koalition teilte ebenfalls mit, dass der Irak 90% des ehemals von der Terrormiliz kontrollierten Gebietes zurückerobert habe. Der IS hat nach seinem Vormarsch vor mehr als drei Jahren (2014) auf dem Höhepunkt seiner Macht riesige Gebiete im Norden und Westen des Irak beherrscht, darunter große Städte. Hierzu gehörte auch die Millionenstadt Mossul östlich von Tal Afar. Auch die Provinz Ninive, die an der Grenze zu Syrien liegt, wurde im Sommer 2014 vom IS überrannt. In der Provinzhauptstadt Mossul haben die Dschihadisten damals ihr so genanntes Kalifat ausgerufen. Im Juli 2017 wurde Mosul nach Monate langer Belagerung von den irakischen Truppen mit internationaler Hilfe zurückerobert. Bereits zuvor hatten die Extremisten die größten Teile der ehemals kontrollierten Gebiete im Irak verloren. Die Rückeroberung von Tal Afar habe nur zehn Tage gedauert. Tal Afar war eine der letzten irakischen Städte in der Hand der IS-Miliz. Diese kontrolliert nach aktuellen, dem Gericht vorliegenden Erkenntnissen, nur noch zwei Gebiete im Irak, von denen Großteile unbewohnt sind. Es handelt sich hierbei um Hawidscha im Zentralirak und die Städte Al-Kaim, Rawa und Anna in der Wüste an der Grenze zu Syrien. In den übrigen Gebieten ist die Terrormiliz IS auch in der Provinz Ninive vollständig besiegt.
Mit der geschilderten Zurückdrängung des IS aus der Provinz Ninive, der Tatsache, dass die Terrormiliz lediglich noch zwei Gebiete im Irak beherrscht, ist es nach Auffassung des Gerichtes ausgeschlossen, dass die Terrormiliz noch über Strukturen verfügt, die es ihr ermöglicht, yezidische Glaubenszugehörige in der Provinz Ninive systematisch im Rahmen eines eingeleiteten und durchgeführten Verfolgungsprogramms (vgl. noch Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 7. Februar 2017, Seite 12, 18) zu verfolgen, wie es Voraussetzung für die Annahme einer Gruppenverfolgung wäre. Es ist für das gesamte Gebiet eine gewisse Befriedung eingetreten und festzustellen. Dies schließt die Annahme einer Gruppenverfolgung für den Kläger bei fehlender anlassgeprägter Einzelverfolgung im vorliegenden Fall aus. Dies gilt jedenfalls für den der gerichtlichen Entscheidung zugrunde liegenden Zeitpunkt im schriftlichen Verfahren.
Nichts anderes gilt für den derzeitigen Aufenthaltsort der Eltern des Klägers (… bzw. …). Die Stadt … bzw. … wird derzeit von der irakischen Zentralregierung verwaltet. Lediglich bis zum Jahr 2015 war … umkämpft. Im Herbst 2015 teilten Kreise der kurdischen Autonomieregierung am 13. November 2015 mit, es seien Peschmerga von allen Seiten nach … (…) eingedrungen und es sei gelungen, zentrale Gebäude zu besetzen. Am 13. November 2015 wurde die Stadt bereits aus der Hand des IS befreit. Damit kann auch bezogen auf den Aufenthaltsort der Eltern des Klägers derzeit keine Verfolgungsgefahr für Angehörige der ethno-Religiösen Minderheit der Yeziden angenommen werden.
2. Auch die Voraussetzungen für die Gewährung des subsidiären Schutzstatus (§ 4 AsylG) liegen im Fall des Klägers nicht vor.
Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes gemäß § 4 Abs. 1 AsylG. Subsidiär schutzberechtigt ist nach dieser Vorschrift, wer stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, ihm drohe in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden. Als ernsthafter Schaden gilt dabei die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (Nr. 1), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (Nr. 2) oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson in Folge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (Nr. 3). Die vorgenannten Gefahren müssen dabei gemäß § 4 Abs. 3 i.V.m. § 3c AsylG in der Regel von dem in Rede stehenden Staat oder den ihn beherrschenden Parteien oder Organisationen ausgehen. Die Bedrohung durch nichtstaatliche Akteure kann hingegen nur dann zu subsidiärem Schutz führen, wenn der betreffende Staat selbst nicht willens oder nicht in der Lage ist, Schutz zu gewähren. Auch subsidiärer Schutz wird nicht zuerkannt, wenn der Ausländer internen Schutz in Anspruch nehmen kann (§ 4 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 3e AsylG).
Dem Kläger droht bei einer Rückkehr in den Irak kein ernsthafter Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und 2 AsylG wegen seiner yezidischen Glaubenszugehörigkeit. Dies gilt sowohl bezogen auf den früheren Heimatort des Klägers (… bei Mossul in der Provinz Ninive) als auch auf den derzeitigen Aufenthaltsort seiner Eltern (… bzw. …).
Nach weitreichender Befreiung der Provinz Ninive von der Terrormiliz IS und weitreichender Befriedung des Gebiets besteht die für die Annahme eines subsidiären Schutzstatus erforderliche Gefahr eines ernsthaften Schadens in Folge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines bewaffneten Konfliktes nach § 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AsylG vorliegend nicht mehr fort.
Für die Beurteilung der Frage des Bestehens eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ist, sofern der Konflikt nicht landesweit besteht, auf die Herkunftsregion des Klägers abzustellen, in die er typischerweise zurückkehren wird. Vorliegend ist im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung im schriftlichen Verfahren weder für den vormaligen Heimatort des Klägers (… bei Mossul) noch für den derzeitigen Aufenthaltsort seiner Eltern (… bzw. …) ein bewaffneter fortbestehender innerstaatlicher Konflikt festzustellen. Die Provinz Ninive ist befriedet und unter Kontrolle der irakischen Zentralregierung. Die Truppen der Terrormiliz IS sind aus diesem vormals von ihnen besetzten Gebiet dauerhaft zurückgedrängt worden. Dies schließt die Annahme der Gewährung eines subsidiären Schutzstatus im derzeitigen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung aus.
Individuelle gefahrerhöhende Umstände, die zu einer Verdichtung der allgemeinen Gefahren in der Person des Klägers führen könnten, sind bei einer Rückkehr in die Provinz Ninive nicht ersichtlich bzw. zu befürchten.
3. Nach allem war die Klage daher abzuweisen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Als im Verfahren unterlegen hat der Kläger die Kosten des Verfahrens zu tragen. Die Gerichtskostenfreiheit folgt aus § 83b AsylG.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung erfolgt aus § 167 Abs. 2 VwGO.


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