Verwaltungsrecht

Klagerücknahmefiktion wegen Nichtbetreibens des Verfahrens

Aktenzeichen  22 ZB 20.1957

Datum:
29.4.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 10641
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 67 Abs. 4, § 92 Abs. 2

 

Leitsatz

Verfahrensgang

RN 7 K 17.1487 2020-06-22 Urt VGREGENSBURG VG Regensburg

Tenor

I. Es wird festgestellt, dass die Klage als zurückgenommen gilt.
II. Das Verfahren wird eingestellt.
III. Das Urteil des Verwaltungsgerichts Regensburg vom 22. Juni 2020 ist wirkungslos geworden.
IV. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.
V. Der Streitwert wird für das Zulassungsverfahren auf 5.000,– EUR festgesetzt.

Gründe

Da der Kläger der nach § 92 Abs. 2 Satz 1 VwGO ergangenen gerichtlichen Aufforderung vom 8. Februar 2022 nicht nachgekommen ist und damit das Verfahren länger als zwei Monate nicht betrieben hat, gilt die Klage – wozu die Beklagte ihre Einwilligung erteilt hat – als zurückgenommen. Dies war durch Beschluss festzustellen; ferner war das Verfahren einzustellen und waren die Rechtsfolgen der Zurücknahme auszusprechen.
Im Einzelnen:
1. Eine fiktive Klagerücknahme nach erfolgloser Betreibensaufforderung gem. § 92 Abs. 2 VwGO kommt auch im Verfahren des Antrags auf Zulassung der Berufung in Betracht. Die sich hieraus ergebenden Entscheidungen werden gem. § 87a Abs. 3, Abs. 1 Nr. 2, Nr. 4 und Nr. 5 VwGO durch den Berichterstatter getroffen (vgl. jeweils näher BayVGH, B.v. 19.5.2021 – 22 ZB 19.1035 – juris Rn. 3 f.).
2. Die Voraussetzungen für das Ergehen einer Betreibensaufforderung nach § 92 Abs. 2 Satz 1 VwGO lagen vor.
2.1 Eine fiktive Antragsrücknahme nach § 92 Abs. 2 Satz 1 VwGO setzt aus verfassungsrechtlichen Gründen voraus, dass im Zeitpunkt des Erlasses der Betreibensaufforderung bestimmte, sachlich begründete Anhaltspunkte für einen Wegfall des Rechtsschutzinteresses des Klägers bestanden haben. Hinreichend konkrete Zweifel an einem Fortbestand des Rechtsschutzinteresses können sich etwa aus dem fallbezogenen Verhalten des jeweiligen Klägers, aber auch daraus ergeben, dass er prozessuale Mitwirkungspflichten verletzt hat. Stets muss sich daraus aber der Schluss auf den Wegfall des Rechtsschutzinteresses, also auf ein Desinteresse des Klägers an der weiteren Verfolgung seines Begehrens ableiten lassen. Nicht geboten ist insoweit allerdings ein sicherer, über begründete Zweifel am Fortbestand des Rechtsschutzinteresses hinausgehender Schluss (vgl. BVerwG, B.v. 7.7.2005 – 10 BN 1.05 – juris Rn. 4; BayVGH, B.v. 6.6.2016 – 22 B 16.611 – juris Rn. 24, jeweils m.w.N.; vgl. zu den verfassungsrechtlichen Anforderungen auch BVerfG, B.v. 17.9.2012 – 1 BvR 2254/11 – juris Rn. 28 f.; B.v. 27.10.1998 – 2 BvR 2662/95 – juris Rn. 18 f.).
2.2 Vorliegend bestanden – und bestehen – derartige Anhaltspunkte für einen Wegfall des Rechtsschutzinteresses des Klägers.
2.2.1 Die Klägerbevollmächtigten haben mit Schriftsatz vom 23. Oktober 2020 mitgeteilt, dass sie den Kläger nicht mehr vertreten. Mit Schriftsatz vom 23. Dezember 2020 haben sie die fehlende Mandatierung bestätigt und zudem mitgeteilt, dass das Mandat vom Kläger gekündigt worden sei. Bis jetzt hat der Kläger eine nach § 67 Abs. 4 VwGO vertretungsbefugte Person nicht (erneut) beauftragt. Dies und insbesondere der Umstand, dass der Kläger selbst das Mandat gekündigt hatte, sprach und spricht gegen ein Interesse des Klägers an der Weiterverfolgung seines Begehrens. Zu berücksichtigen ist auch, dass der Kläger mit seinem Antrag die Zulassung der Berufung gegen das verwaltungsgerichtliche Urteil erstrebt; für das Berufungsverfahren benötigte der Kläger gem. § 67 Abs. 4 VwGO jedoch ebenfalls einen Prozessbevollmächtigten. Der Berücksichtigung der vorgenannten Umstände steht nicht entgegen, dass die Kündigung des Vollmachtvertrags gemäß § 173 Satz 1 VwGO i.V.m § 87 Abs. 1 ZPO im – wie hier – Anwaltsprozess dem Prozessgegner und auch dem Gericht gegenüber erst durch die Anzeige der Bestellung einer anderen gemäß § 67 Abs. 4 VwGO zur Prozessvertretung befugten Person rechtliche Wirksamkeit erlangt. Zum einen betrifft diese Regelung lediglich das Außenverhältnis (vgl. BVerwG, B.v. 20.11.2012 – 4 AV 2.12 – juris Rn. 9; Toussaint in Münchener Kommentar zur ZPO, 6. Aufl. 2020, § 87 Rn. 2 ff.; Becker in Anders/Gehle, ZPO, 80. Aufl. 2022, § 87 Rn. 4); zum anderen geht es hier nicht um die Postulationsfähigkeit des Klägers, sondern um Anhaltspunkte für den Wegfall seines Rechtsschutzinteresses in tatsächlicher Hinsicht.
2.2.2 Gegen das Fortbestehen eines Rechtsschutzinteresses sprach auch, dass der Kläger mit Schreiben vom 14. Dezember 2020 gegenüber dem Verwaltungsgericht erklärt hatte, er „ziehe hiermit ‚mit sofortiger Wirkung‘ [seine] Klage zurück“. Zwar war diese vom Kläger persönlich erklärte Klagerücknahme wegen § 67 Abs. 4 VwGO nicht wirksam (eine Ausnahme bestünde nur dann, wenn – anders als hier – bereits das Rechtsmittel unter Nichtbeachtung des Vertretungserfordernisses eingelegt worden wäre, vgl. Schenk in Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, Stand Juli 2021, § 67 VwGO Rn. 71 m.w.N.); sie erfolgte auch nicht gegenüber dem Rechtsmittelgericht als richtigem Adressaten (vgl. Clausing in Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, Stand Juli 2021, § 92 VwGO Rn. 19). Jedoch geht es auch insoweit nicht um Fragen der Wirksamkeit von Prozesshandlungen, sondern um tatsächliche Anhaltspunkte für das Entfallen des Rechtsschutzinteresses. Für die Berücksichtigung der vom Kläger persönlich erklärten Klagerücknahme im Rahmen des § 92 Abs. 2 VwGO trotz ihrer fehlenden prozessualen Wirksamkeit spricht auch, dass im Freibeweisverfahren geklärt werden kann, ob die Sachurteilsvoraussetzungen – zu diesen zählt das hier (vgl. 2.1) in Frage stehende Rechtsschutzinteresse – (weiterhin) vorliegen (vgl. BVerwG, B.v. 7.6.2001 – 4 CN 1.01 – BVerwGE 114, 301 – juris Rn. 13; B.v. 20.7.1993 – 4 B 110.93 – juris Rn. 3).
2.2.3 Schließlich ist auf das gerichtliche Schreiben vom 7. Dezember 2021, mit dem die Beteiligten um Stellungnahme dazu gebeten worden waren, ob und wie das Verfahren angesichts der vorstehend beschriebenen Umstände (Beendigung des Mandats; Erklärung einer Klagerücknahme durch den Kläger persönlich) fortzuführen sei, keine inhaltliche Reaktion des Klägers erfolgt. Laut Mitteilung der Klägerbevollmächtigten vom 1. Februar 2022 hatte der Kläger keinen Auftrag erteilt und sich mit Ablauf der im gerichtlichen Schreiben vom 7. Dezember 2021 gesetzten Frist (31.1.2022) nicht mehr gemeldet.
3. Der Kläger hat das Verfahren trotz der Aufforderung vom 8. Februar 2022 i.S.d. § 92 Abs. 2 Satz 1 VwGO nicht betrieben.
Die Klägerbevollmächtigten haben zwar mit Schriftsatz vom 8. April 2022 ein vom Kläger persönlich verfasstes Schreiben vom 4. April 2022 vorgelegt (welches der Kläger dem Verwaltungsgerichtshof auch nochmals selbst übermittelt hat), in dem der Kläger sich dahin einlässt, dass angesichts der Lärmimmissionen der fraglichen Feuerwehrsirene nun doch eine mündliche Verhandlung stattfinden (d.h. das gerichtliche Verfahren fortgeführt werden) solle. Allerdings ist hierin kein wirksames Betreiben i.S.d. § 92 Abs. 2 Satz 1 VwGO zu sehen, weil das Vertretungserfordernis nach § 67 Abs. 4 VwGO nicht gewahrt wurde.
3.1 Der Wortlaut des § 67 Abs. 4 VwGO enthält keine Anhaltspunkte dafür, dass das Betreiben nach § 92 Abs. 2 Satz 1 VwGO vom Vertretungszwang nicht erfasst ist. Der Vertretungszwang gilt vielmehr – abgesehen von dem ausdrücklich ausgenommenen Prozesskostenhilfeverfahren – grundsätzlich generell für prozessuale Erklärungen und Rechtshandlungen (vgl. BVerwG, B.v. 11.12.2012 – 8 B 58.12 – juris Rn. 11; BT-Drs. 16/3655 S. 97) und damit nicht nur für Sachanträge, sondern auch für Darlegungen der Beteiligten in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht (vgl. HessVGH, U.v. 19.5.2021 – 3 C 1198/17.N – juris Rn. 39). Zudem unterliegen Klage- und Rechtsmittelrücknahmeerklärungen ebenfalls dem Vertretungszwang (für die Rücknahme der Klage vgl. SächsOVG, B.v. 24.6.2019 – 4 A 1435/18.A – juris Rn. 1 m.w.N. [zur Ausnahme vgl. oben 2.2.2]; für die Rücknahme der Berufung gem. § 126 Abs. 1 VwGO vgl. Roth in Posser/Wolff, BeckOK VwGO, Stand 1.1.2022, § 126 Rn. 6); wenn es – wie hier – um eine fiktive Klagerücknahme nach § 92 Abs. 2 VwGO geht, bei der das Nichtbetreiben des Verfahrens einer Klagerücknahmeerklärung praktisch gleichgestellt wird, kann in Bezug auf die Voraussetzungen für das Betreiben nichts Anderes gelten.
3.2 Vorliegend braucht der Frage nicht weiter nachgegangen zu werden, inwieweit auch für ein Betreiben nach § 92 Abs. 2 Satz 1 VwGO im Falle des Vertretungszwangs gem. § 67 Abs. 4 VwGO eine eigene Sichtung, Prüfung und rechtliche Durchdringung des Vortrags erforderlich ist, so dass eine bloße Bezugnahme oder Weiterleitung von Unterlagen eines Beteiligten oder Dritter, auch mit dem Hinweis des Bevollmächtigten, er mache sich diese zu eigen, grundsätzlich nicht genügt (vgl. BVerwG, B.v. 11.7.2019 – 3 B 15.18 – juris Rn. 6; B.v. 11.12.2012 – 8 B 58.12 – juris Rn. 16, jeweils m.w.N.). Denn die Klägerbevollmächtigten haben sich das Schreiben des Klägers vom 4. April 2022 gerade nicht zu eigen gemacht oder hierauf (inhaltlich) Bezug genommen; sie haben in dem Schriftsatz vom 8. April 2022 vielmehr ausdrücklich erneut darauf hingewiesen, dass sie den Kläger nicht vertreten.
4. Der Kläger wurde in der gerichtlichen Aufforderung vom 8. Februar 2022 auch auf die Folgen eines Nichtbetreibens hingewiesen (§ 92 Abs. 2 Satz 3 VwGO).
5. Damit gilt die Klage als zurückgenommen (§ 92 Abs. 2 Satz 1 VwGO). Die gem. § 92 Abs. 2 Satz 2, Abs. 1 Satz 2 VwGO nötige Einwilligung der Beklagten wurde schriftsätzlich erteilt.
Die zu treffenden Entscheidungen ergeben sich aus § 92 Abs. 2 Satz 4 VwGO sowie aus § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO i.V.m. § 173 VwGO, § 269 Abs. 3 Satz 1 ZPO, § 155 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47, § 52 Abs. 1 GKG (Höhe wie Vorinstanz).
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 92 Abs. 3 Satz 2, § 152 Abs. 1 VwGO).


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