Verwaltungsrecht

Rücknahmefiktion wegen Nichtbetreibens des Asylverfahrens

Aktenzeichen  M 28 S 17.35922

Datum:
19.7.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 143164
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 80 Abs. 5
AsylG § 33 Abs. 1
AsylG § 33 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Alt. 2
AsylG § 33 Abs. 2 Satz 2

 

Leitsatz

Ist die Rücknahmefiktion des § 33 Abs. 1 AsylG nicht eingetreten, das Verfahren vielmehr gemäß § 33 Abs. 2 S. 3 AsylG fortzuführen, erweist sich die Einstellung des Asylverfahrens nach §§ 32, 33 Abs. 5 S. 1 AsylG und auch die verfrüht gemäß § 32 S. 1 AsylG ergangene Entscheidung über die Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG als rechtswidrig (vgl. zu Letzterem: BVerwG BeckRS 1995, 31243872; vgl. auch BVerwG BeckRS 2016, 111567). (Rn. 13) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers (M 28 K 17.35921) gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 14. März 2017 wird angeordnet.
II. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.

Gründe

I.
Der Antragsteller ist nigerianischer Staatsangehöriger. Am 22. September 2016 stellte er einen Asylantrag.
Mit Schreiben vom 2. Februar 2017 lud das Bundesamt den Antragsteller zu einer Anhörung am 16. Februar 2017. Das Ladungsschreiben enthielt u.a. folgenden Hinweis in deutscher Sprache: „Ich weise Sie ausdrücklich darauf hin, dass Ihr Asylantrag nach § 33 Abs. 2 Nr. 1 AsylG als zurückgenommen gilt, wenn Sie zu diesem Termin nicht erscheinen. Dies gilt nicht, wenn Sie unverzüglich nachweisen, dass ihr Nichterscheinen auf Hinderungsgründe zurückzuführen war, auf die Sie keinen Einfluss hatten. Im Falle einer Verhinderung durch Krankheit müssen Sie unverzüglich die Reise- und/oder Verhandlungsunfähigkeit durch ein ärztliches Attest nachweisen, eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung genügt nicht.“
Mit Bescheid vom 14. März 2017, als Einschreiben zur Post gegeben am 17. März 2017, nach Angaben des Bevollmächtigten des Antragstellers zugestellt am 21. März 2017, verfügte das Bundesamt, der Asylantrag gelte als zurückgenommen, das Asylverfahren sei eingestellt (Ziffer 1.), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Ziffer 2.), forderte den Antragsteller auf, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb einer Woche zu verlassen, andernfalls werde er abgeschoben (Ziffer 3.) und befristete das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziffer 4.). Zur Begründung wurde u.a. ausgeführt: Der Asylantrag gelte als zurückgenommen, da der Antragsteller das Verfahren nicht betreibe. Der Antragsteller sei der Aufforderung zur Anhörung nicht nachgekommen. Es werde daher vermutet, dass er das Verfahren im Sinne des § 33 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Alt. 2 AsylG nicht betreibe. Einen Nachweis, dass das Versäumnis auf Umstände zurückzuführen gewesen sei, auf die der Antragsteller keinen Einfluss gehabt habe, seien bis zur Entscheidung nicht eingereicht worden. Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG seien weder vorgetragen worden, noch lägen sie nach den Erkenntnissen des Bundesamts vor. Die Abschiebungsandrohung sei gemäß § 34 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG zu erlassen. Die Ausreisefrist von einer Woche ergebe sich aus § 38 Abs. 2 AsylG. Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot werde nach § 11 Abs. 2 AufenthG auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet.
Gegen diesen Bescheid erhob der Antragsteller durch seinen Bevollmächtigten am 27. März 2017 Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht München. Diese Klage, über die noch nicht entschieden ist, wurde zunächst unter dem Aktenzeichen M 21 K 17.35921 und wird nun unter dem Aktenzeichen M 28 K 17.35921 geführt. Ferner ließ der Antragsteller ebenfalls am 27. März 2017 beantragen,
die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen.
Zur Begründung ließ er u.a. ausführen: Es sei richtig, dass der Antragsteller zum Anhörungstermin am 16. Februar 2017 geladen worden sei. Der Kläger habe aber am 14. Februar 2017 einen Operationstermin wegen einer Leistenhernie rechts gehabt und sei nicht reisefähig gewesen. Diese Operation sei vom zuständigen Landratsamt genehmigt worden. Dieser Umstand sei dem Bundesamt mit einem Schreiben einer Mitarbeiterin der Verwaltung DP … vom 15. Februar 2017 per Telefax angezeigt worden. Darüber hinaus habe diese Mitarbeiterin auch mit der Sachbearbeiterin des Bundesamts, die das Ladungsschreiben unterzeichnet habe, per E-Mail korrespondiert und ihr das ärztliche Attest übermittelt. Wenn die Antragsgegnerin behaupte, keine Entschuldigung erhalten zu haben, so sei das schlicht unrichtig. Zur Vorlage kamen u.a. folgende Unterlagen: Ärztliches Attest des Dr. Univ. … R. A. vom 14. Februar 2017; Bescheid des Landratsamts Mühldorf a. Inn an den Antragsteller vom 1. Februar 2017; Schreiben der Mitarbeiterin der Verwaltung DP … vom 15. Februar 2017, Faxprotokoll vom 15. Februar 2017; Ausdruck einer E-Mails vom 15. Februar 2017.
Am 29. März 2017 legte die Antragsgegnerin ihre Behördenakte vor.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte und die beigezogenen Behördenakten verwiesen.
II.
Der Antrag gemäß § 80 Abs. 5 VwGO ist zulässig. Insbesondere ist er gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO, § 75 AsylG, § 38 Abs. 2 AsylG i.V.m. §§ 32 Satz 1, 33 Abs. 1 und 2 AsylG statthaft und fehlt ihm trotz der durch § 33 Abs. 5 Satz 2 AsylG eröffneten Möglichkeit eines Wiederaufnahmeantrags nicht das Rechtsschutzbedürfnis (BVerfG, B. v. 20.7.2016 – 2 BvR 1385/16 – juris Rn. 8).
Der Antrag gemäß § 80 Abs. 5 VwGO ist auch begründet. Hierfür gelten mangels Verweis auf § 36 Abs. 4 AsylG die allgemeinen Grundsätze: Danach kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage im vorliegend einschlägigen Fall des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO ganz oder teilweise anordnen. Dabei trifft das Gericht eine eigene Ermessensentscheidung: Es hat bei der Entscheidung über die Anordnung der aufschiebenden Wirkung abzuwägen zwischen dem Interesse an der sofortigen Vollziehung des Bescheids und dem Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seines Rechtsbehelfs. Bei dieser Abwägung sind auch die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens zu berücksichtigen. Ergibt die im Rahmen des Verfahrens nach § 80 Abs. 5 VwGO allein mögliche summarische Überprüfung, dass der Rechtsbehelf offensichtlich erfolglos sein wird, tritt das Interesse des Antragstellers regelmäßig zurück. Erweist sich dagegen der angefochtene Bescheid schon bei kursorischer Prüfung als offensichtlich rechtswidrig, besteht kein öffentliches Interesse an dessen sofortiger Vollziehung. Ist der Ausgang des Hauptsacheverfahrens dagegen nicht hinreichend absehbar, verbleibt es bei einer Interessenabwägung.
Vorliegend überwiegt das private Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seines Rechtsbehelfs, da bei summarischer Prüfung davon auszugehen ist, dass die Klage des Antragstellers erfolgreich sein wird: Der angefochtene Bescheid des Bundesamts vom 14. März 2017 ist rechtswidrig und verletzt den Antragsteller in seinen Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Gemäß § 33 Abs. 1 AsylG gilt der Asylantrag als zurückgenommen, wenn der Ausländer das Verfahren nicht betreibt. Es wird vermutet, dass der Ausländer das Verfahren nicht betreibt, wenn er einer Aufforderung zur Anhörung gemäß § 25 AsylG nicht nachgekommen ist (§ 33 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 Alt. 2 AsylG). Diese Vermutung gilt nicht, wenn der Ausländer unverzüglich nachweist, dass dieses Versäumnis auf Umstände zurückzuführen ist, auf die er keinen Einfluss hatte (§ 33 Abs. 2 S. 2 AsylG). Vorliegend hat der Antragsteller einen solchen Nachweis durch das Telefax und die E-Mail der Mitarbeiterin der Verwaltung DP … an das Bundesamt jeweils vom 15. Februar 2017 unverzüglich geführt, so dass die Vermutung, er betreibe das Verfahren nicht, widerlegt ist und der Asylantrag nicht als zurückgenommen gilt:
Der Antragsteller war aufgrund seiner Operation wegen einer Leistenhernie rechts am 14. Februar 2017 im Sinne einer Reisebzw. Verhandlungsunfähigkeit verhindert, der Aufforderung zur Anhörung am 16. Februar 2017 Folge zu leisten. Dies ergibt sich aus dem ärztlichen Attest des Dr. Univ. … R. A. vom 14. Februar 2017, aus dem zwar knapp, aber noch hinreichend hervorgeht, dass der Antragsteller aufgrund seiner Erkrankung den Termin am 16. Februar 2017 nicht wahrnehmen können wird. Der Antragsteller hat diesen Umstand auch unverzüglich, nämlich am 15. Februar 2017 – mithin einen Tag nach der Operation und am Vortrag des Anhörungstermins –, mittels Telefax und E-Mail der Mitarbeiterin der Verwaltung DP … an das Bundesamt nachgewiesen: Sowohl mit dem Telefax als auch mit der E-Mail wurde dem Bundesamt das o.g. ärztliche Attest übermittelt und ferner mitgeteilt, dass der Antragsteller am Vortrag operiert worden sei, weshalb er – so ausdrücklich das Telefax – nicht reisefähig sei. Auch wurde dem Bundesamt sowohl im Telefax als auch in der E-Mail angeboten, auf Verlangen weitere Unterlagen bzw. genauere Daten vom Arzt beizubringen. Das Gericht hat keinen Anlass daran zu zweifeln, dass die Mitarbeiterin das Telefax – hierzu liegt ein entsprechendes Übertragungsprotokoll vor – und die E-Mail jeweils nebst Anlagen auch tatsächlich an das Bundesamt abgesandt hatte. Dem steht jedenfalls nicht entgegen, dass diese Dokumente in der dem Gericht übermittelten Behördenakte nicht enthalten sind. Dies kann auch daran liegen, dass das Bundesamt die Dokumente zum Zeitpunkt der Aktenvorlage noch nicht in die elektronische Akte aufgenommen hatte.
Ist mithin die Vermutung gemäß § 33 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 Alt. 2 AsylG, der Antragsteller betreibe das Verfahren nicht, weil er der Aufforderung zur Anhörung nicht nachgekommen ist, gemäß § 33 Abs. 2 Satz 2 AsylG widerlegt und damit die Rücknahmefiktion des § 33 Abs. 1 AsylG nicht eingetreten, das Verfahren vielmehr gemäß § 33 Abs. 2 Satz 3 AsylG fortzuführen, erweist sich die Einstellung des Asylverfahrens nach §§ 32, 33 Abs. 5 Satz 1 AsylG und auch die verfrüht gemäß § 32 Satz 1 AsylG ergangene Entscheidung über die Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG als rechtswidrig (vgl. zu Letzterem: BVerwG, U. v. 7.3.1995 – 9 C 264/94 – juris Rn. 19; vgl. auch BVerwG, U. v. 14.12.2016 – 1 C 4/16 – juris Rn. 21). In der Folge besteht auch keine Rechtsgrundlage für die Abschiebungsandrohung nach §§ 34, 38 Abs. 2 AsylG und die Befristungsentscheidung gemäß § 11 Abs. 2 AufenthG.
Nach alldem ist festzustellen, dass die Klage des Antragstellers voraussichtlich erfolgreich sein wird. Die Interessenabwägung geht deshalb zugunsten des Antragstellers aus.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83 b AsylG nicht erhoben.
Dieser Beschluss ist gemäß § 80 AsylG unanfechtbar.

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