Verwaltungsrecht

Versäumung der Frist zur Begründung des Zulassungsantrags, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (abgelehnt), an das falsche Gericht versandter Schriftsatz, anwaltliche Sorgfaltspflichten bei der Übermittlung von fristgebundenen Schriftsätzen im Wege des elektronischen Rechtsverkehrs

Aktenzeichen  11 ZB 22.39

Datum:
31.3.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 8519
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO §§ 55a Abs. 5 S. 2, 60 Abs. 1 und 2, 124a Abs. 4 S. 4

 

Leitsatz

Verfahrensgang

W 6 K 21.638 2021-12-01 Urt VGWUERZBURG VG Würzburg

Tenor

I. Der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wird abgelehnt.
II. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
III. Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
IV. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 10.000,- EUR festgesetzt.

Gründe

Der Antrag auf Zulassung der Berufung ist unzulässig, da ihn der Kläger trotz ordnungsgemäßer Rechtsbehelfsbelehrungnicht innerhalb der durch die förmliche Zustellung der erstinstanzlichen Entscheidung am 14. Dezember 2021 in Gang gesetzten und am 14. Februar 2022 abgelaufenen (§ 57 Abs. 2 VwGO i.V.m. § 222 Abs. 1 ZPO, § 187 Abs. 1, § 188 Abs. 2 BGB) Zweimonatsfrist des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO begründet hat.
Die mit Schreiben vom 23. Februar 2022 beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 60 Abs. 1 VwGO kann nicht gewährt werden, da nicht glaubhaft gemacht wurde, dass die Versäumung der Frist zur Begründung des Antrags auf Zulassung der Berufung nach § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO nicht auf einem Verschulden des Prozessbevollmächtigten beruht, das nach § 173 Satz 1 VwGO i.V.m. § 85 Abs. 2 ZPO einem Verschulden des Klägers gleichsteht. Wiedereinsetzungsgründe, die erklären, dass es ohne sein Verschulden zur Versendung an das unzutreffende Gericht kam, und die erkennen ließen, ob er die übliche Sorgfalt eines Anwalts angewandt hat und ihm auch kein Organisationsverschulden (vgl. BayVGH, B.v. 14.5.2013 – 11 B 12.1522 – juris Rn. 11) anzulasten ist, hat der Bevollmächtigte nicht hinreichend vorgetragen und glaubhaft gemacht.
Innerhalb der vierwöchigen Frist des § 60 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 2 VwGO, die am 18. Februar 2022 mit Zugang der Mitteilung von der Falschübermittlung der Zulassungsbegründung an das erstinstanzliche Gericht in Gang gesetzt wurde, hat der Bevollmächtigte insoweit dargelegt, er habe den Versand des für den Verwaltungsgerichtshof bestimmten Schriftsatzes vom 11. Februar 2022 nach Korrektur und Fertigstellung am 14. Februar 2022 veranlasst. Der Schriftsatz sei mangels Routine an das Verwaltungsgericht versandt worden. Es sei der falsche Empfänger ausgewählt worden. Dann habe der Bevollmächtigte signiert. Danach habe die Hilfskraft den Schriftsatz versandt. Ihr sei angesichts der Vielzahl an Parametern bei der Bestätigung der Versendung nicht aufgefallen, dass versehentlich an ein unzuständiges Gericht übersandt worden sei. Der Bevollmächtigte sei beim Signieren davon ausgegangen, dass das im Rubrum bezeichnete Gericht der tatsächliche Empfänger sein würde. Die Fristversäumnis sei allein auf den Verstoß einer sonst sehr zuverlässigen Kanzleiangestellten gegen eine allgemein erteilte Büroanweisung zurückzuführen. Die Bürovorsteherin befinde sich seit nunmehr 20 Jahren in der Kanzlei des Bevollmächtigten und sei als zuverlässig und absolut gewissenhaft arbeitende, vollständig ausgebildete Rechtsanwaltsfachangestellte in Vollzeit tätig. Er habe sie im Herbst und Winter 2021 angewiesen, entsprechende Fortbildungen zur Nutzung des besonderen elektronischen Anwaltspostfachs (beA) wahrzunehmen. Seit dem 1. Januar 2022 habe sie sämtliche Verwendungen über beA zuverlässig durchgeführt. Stichprobenhafte Überprüfungen hätten keine Hinweise aufgedeckt, dass die Bürovorsteherin mit der Verwendung des beA überfordert sein könnte oder einer besonderen Beaufsichtigung bedürfe. Es fänden regelmäßig Leistungskontrollen und stichprobenhafte Überprüfungen der Arbeitsqualität der Kanzleimitarbeiter statt. Da es um eine fehlerhafte Übersendung gehe, bedürfe es keiner weiteren Darlegung der Organisation der Fristenüberwachung in der Kanzlei des Unterzeichners.
In der obergerichtlichen Rechtsprechung ist geklärt, dass die anwaltlichen Sorgfaltspflichten im Zusammenhang mit der Übermittlung von fristgebundenen Schriftsätzen im Wege des elektronischen Rechtsverkehrs über das beA denen bei Übersendung von Schriftsätzen per Telefax entsprechen und dies eine Überprüfung der ordnungsgemäßen Übermittlung beinhaltet (vgl. OVG RP, B.v. 14.10.2021 – 8 B 11187/21 – juris Rn. 11; BGH, B.v. 11.5.2021 – VIII ZB 9/20 – NJW 2021, 2201 = juris Rn. 21; OVG Bln-Bbg., B.v. 11.11.2020 – 6 S 49/20 – juris Rn. 8; OVG SH, B.v. 4.8.2020 – 5 MB 20/20 – juris Rn. 5; VerfGH RP, B.v. 24.9.2019 – VGH B 23/19 – NJW 2020, 604 = juris Rn. 8; BAG, B.v. 7.8.2019 – BAGE 167, 221 = juris Rn. 20; BayLSG, B.v. 3.1.2018 – L 17 U 298/17 – NJW-RR 2018, 1453 = juris Rn. 16; OVG RP, U.v. 27.8.2007 – 2 A 10492/07 – NJW 2007, 3224 = juris Rn. 24; Weth in Ory/Weth, jurisPK-ERV Bd. 2, Stand 28.3.2022, Rn. 312.1). Letztere erfordert zunächst die Kontrolle, ob die Bestätigung des Eingangs des elektronischen Dokuments bei Gericht nach § 55a Abs. 5 Satz 2 VwGO erteilt wurde (vgl. BGH, B.v. 11.5.2021 a.a.O. Rn. 22 zum wortgleichen § 130a Abs. 5 Satz 2 ZPO). Sobald eine Nachricht über das beA im elektronischen Gerichts- und Verwaltungspostfach (EGVP) eingeht, wird an den Absender eine Eingangsbestätigung übermittelt, die ihm unmittelbar und ohne weiteres Eingreifen eines Justizbediensteten Gewissheit darüber verschafft, ob die Übermittlung an das Gericht erfolgreich war oder ob weitere Bemühungen zur erfolgreichen Übermittlung des elektronischen Dokuments erforderlich sind (vgl. BT-Drs. 17/12634, S. 26 zu § 130a Abs. 5 Satz 2 ZPO). Werden fristwahrende Schriftsätze über das beA versandt, hat ein Rechtsanwalt das zuständige Personal in seiner Kanzlei dahingehend anzuweisen, dass stets der Erhalt der automatisierten Eingangsbestätigung nach § 55a Abs. 5 Satz 2 VwGO zu kontrollieren ist, und dies zumindest stichprobenweise zu überprüfen (vgl. BGH, B.v. 11.5.2021 a.a.O. Rn. 24; BAG, B.v. 7.8.2019 a.a.O. Rn. 23, 25; BayLSG, B.v. 3.1.2018 a.a.O. Rn. 14; Weth, a.a.O. Rn. 312). Die Kontrolle der Eingangsbestätigung darf sich nicht auf den Ausschluss technischer Fehlermeldungen beschränken, sondern erstreckt sich auch auf den Versand der richtigen Datei an den richtigen Empfänger (vgl. SächsOLG, B.v. 1.6.2020 – 4 U 351/21 – NJW 2021, 2665 = juris Rn. 6 ff.; BGH, B.v. 17.3.2020 – VI ZB 99/19 – NJW 2020, 1809 = juris Rn. 16).
Insbesondere dann, wenn wie vorliegend eine Frist voll ausgeschöpft worden ist, hat die Überprüfung der Eingangsbestätigung zeitnah zu erfolgen, damit sie nicht ihren Zweck verfehlt. Sie hätte vorliegend ergeben, dass der Schriftsatz nicht wie vorgesehen an den Verwaltungsgerichtshof versendet worden ist, was sich auch aus den vom Bevollmächtigten vorgelegten Protokollen aus dem beA ergibt.
Dass in der Kanzlei des Prozessbevollmächtigten eine diesen Maßgaben genügende Ausgangskontrolle eingerichtet ist, hat der Kläger schon nicht dargelegt. Nachdem die vorstehenden Anforderungen an die Ausgangskontrolle, u.a. durch Veröffentlichungen der Bundesrechtsanwaltskammer, bekannt sind und einem Anwalt auch ohne richterliche Hinweise geläufig sein müssen, erlaubt das Fehlen entsprechenden Vortrags den Schluss darauf, dass entsprechende organisatorische Maßnahmen gefehlt haben (vgl. BGH, B.v. 26.11.2013 – II ZB 13/12 – MDR 2014, 422 = juris Rn. 12 m.w.N.). Ferner ist nicht – etwa durch entsprechende eidesstattliche Versicherung der Bürovorsteherin (vgl. dazu BVerfG, B.v. 22.2.2002 – 2 BvR 1707/01 – NJW-RR 2002, 1006 = juris Rn. 15) – glaubhaft gemacht worden, dass sie die Begründungsschrift durch das beA versandt und dabei den falschen Empfänger übersehen hat. Die vorgelegten Unterlagen ergeben hierzu nichts. Ebenso wenig wurde dargelegt, dass am Tag des Versands und Fristablaufs die Eingangsbestätigung, die den falschen Empfänger ausgewiesen hätte, kontrolliert worden ist. Es ist die Rede davon, dass dies der Bürovorsteherin „bei der Bestätigung der Versendung“ nicht aufgefallen sei, ohne dass deutlich wird, ob es sich hierbei um eine elektronische Versandbestätigung oder einen tatsächlichen Vorgang handeln soll. Jedenfalls handelt es sich offensichtlich nicht um die Kontrolle der vom Gericht erhaltenen Eingangsbestätigung.
Offenbar hatte der Bevollmächtigte vor Abgabe des Vorgangs an die Bürovorsteherin den Versendevorgang eigenhändig fast abgeschlossen. Seinen Ausführungen ist nicht klar zu entnehmen, wer im Nachrichtenfenster versehentlich den falschen Empfänger ausgewählt hat, bevor er selber die qualifizierte elektronische Signatur angebracht hat. Sein Vortrag, wonach die Bürovorsteherin „danach“ bzw. „im Anschluss an die Signatur“ den Schriftsatz versandt habe, lässt aber darauf schließen, dass er die vorhergehenden Arbeitsschritte selbst erledigt hat. Es bleibt unklar, ob die Bürovorsteherin überhaupt den Auftrag hatte, den im beA ausgewählten Empfänger mit dem Anschriftenfeld im Schriftsatz abzugleichen und ggf. zu ändern. Zum Inhalt der allgemein erteilten Büroanweisung wurde nichts mitgeteilt.
Schließlich ist auch keine mitursächliche Verletzung der Fürsorgepflicht durch das Verwaltungsgericht festzustellen, die dazu führt, dass sich das Verschulden des Prozessbevollmächtigten nicht mehr auswirken kann. Nach höchstrichterlicher Rechtsprechung ist das Verwaltungsgericht als im vorangegangenen Rechtszug mit der Sache befasstes Gericht verpflichtet, einen fristgebundenen Schriftsatz für das Rechtsmittelverfahren im Zuge des ordentlichen Geschäftsgangs an das Rechtsmittelgericht weiterzuleiten (vgl. BVerfG, B.v. 20.6.1995 – 1 BvR 166/93 – BVerfGE 93, 99 = juris Rn. 46 ff.). Dem ist es gegen Mittag des 16. Februar 2022 nachgekommen, was sich im Rahmen des ordentlichen Geschäftsgangs hält. Der beim Eingang am 14. Februar 2022, dem Tag des Fristablaufs, um 16:39 Uhr nicht als eilig zu erkennende Schriftsatz ist nicht so zeitig beim Verwaltungsgericht eingegangen, dass eine fristgerechte Weiterleitung an den Verwaltungsgerichtshof im ordentlichen Geschäftsgang ohne weiteres hätte erwartet werden können (vgl. BVerfG, B.v. 20.6.1995 a.a.O. Rn. 48). Zu dem von einem Verfahrensbeteiligten zu erwartenden ordentlichen Geschäftsgang gehört es nicht, dass auf dem Server eingehende Nachrichten unverzüglich ausgedruckt, der Geschäftsstelle vorgelegt und von dieser sodann an den Vorsitzenden Richter oder Berichterstatter zur sofortigen Bearbeitung weitergeleitet werden (OLG Frankfurt, B.v. 13.11.2018 – 15 U 96/18 – juris Rn. 13; vgl. auch OLG Braunschweig, B.v. 30.6.2020 – 8 U 116/19 – RDi 2021, 154 = juris Rn. 15; BAG, B.v. 5.6.2020 – 10 AZN 53/20 – BAGE 171, 28 = juris Rn. 39; BGH, B.v. 26.7.2016 – VI ZB 58/14 – NJW 2016, 3667 = juris Rn. 8 zu einer am Tag des Fristablaufs beim falschen Gericht eingegangenen Berufungsbegründung; BayVGH, B.v. 25.4.2016 – 3 ZB 16.412 – juris Rn. 12; BGH, B.v. 15.6.2011 – XII ZB 468/10 – NJW 2011, 2887 = juris Rn. 13). Aus der verfassungsrechtlichen Fürsorgepflicht der staatlichen Gerichte lässt sich keine generelle Verpflichtung zur sofortigen Prüfung der Zuständigkeit bei Eingang der Rechtsmittelschrift ableiten, da dies die Verfahrensbeteiligten und deren Prozessbevollmächtigte ihrer eigenen Verantwortung für die Einhaltung der Formalien entheben und die Anforderungen an die Grundsätze des fairen Verfahrens überspannen würde (vgl. BVerfG, B.v. 17.1.2006 – 1 BvR 2558/05 – BVerfGK 7, 198 = juris Rn. 10).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 3, § 52 Abs. 1, 2 GKG i.V.m. den Empfehlungen in Nr. 46.3 und 46.5 des Streitwertkatalogs der Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013.
Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5, § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).
Mit der Ablehnung des Zulassungsantrags wird das angegriffene Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).


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