Verwaltungsrecht

Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft bei einem syrischen Staatsangehörigen wegen Wehrdienstentziehung durch Auslandsaufenthalt

Aktenzeichen  M 13 K 17.31020

Datum:
11.7.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 163007
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 3, § 3a, § 3c, § 3e

 

Leitsatz

Eine begründete Furcht vor Verfolgung besteht aufgrund des Umstandes, dass sich ein syrischer Staatsangehöriger im wehrdienstfähigen Alter durch seinen Auslandsaufenthalt dem Militärdienst entzogen hat. (Rn. 18) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger zu 1. die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Die Ziffer 2 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 16. Januar 2017 wird, soweit sie dem entgegensteht, aufgehoben. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Die Klägerin zu 2. hat die Kosten ihres Verfahrens zu tragen. Im Übrigen trägt die Beklagte die Kosten des Verfahrens.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Schuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Gläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Das Gericht kann mit Einverständnis der Prozessparteien ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden, § 101 Abs. 2 VwGO.
Die Klage bezüglich des Klägers zu 1. hat in der Sache Erfolg, da dem Kläger zu 1. ein Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zusteht (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Die Klage der Klägerin zu 2. hat keinen Erfolg. Ihr steht ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung nicht zu (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG).
1. Nach § 3 Abs. 1 Asylgesetz (AsylG) i.d.F. d. Bek. vom 2. September 2008 (BGBl I S. 1798), neu gefasst durch das Gesetz zur Umsetzung der RL 2011/95/EU vom 28. August 2008 (BGBl I S. 3474), ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention, wenn er sich außerhalb seines Herkunftslandes aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe befindet. Diesem Flüchtling wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt (§ 3 Abs. 4 AsylG), soweit nicht bestimmte, in § 3 Abs. 2 und Abs. 3 AsylG geregelte Exklusionsklauseln den Flüchtlingsschutz ausschließen.
Als Verfolgungshandlung, die den Flüchtlingsschutz im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG auslösen, gelten nach § 3a Abs. 1 AsylG entweder Handlungen, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention keine Abweichung zulässig ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG), oder solche Handlungen, die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in vorstehend beschriebener Weise betroffen ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG).
Neben der staatlichen Verfolgung (§ 3c Nr. 1 AsylG) kann die Verfolgungshandlung auch von Parteien oder Organisationen ausgehen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (§ 3c Nr. 2 AsylG), oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in den vorgenannten Nummern 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (§ 3c Nr. 3 AsylG).
Bei der Bewertung der Frage, ob die Furcht vor Verfolgung begründet ist, ist es gemäß § 3b Abs. 2 AsylG unerheblich, ob der Flüchtling tatsächlich die Merkmale der Rasse oder die religiösen, nationalen, sozialen oder politischen Merkmale im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden.
2. Die hier einschlägigen Voraussetzungen für die Annahme der Flüchtlingseigenschaft und deren förmliche Zuerkennung liegen beim Kläger zu 1. vor. Nicht entscheidungserheblich ist dabei, ob der Kläger zu 1. vorverfolgt aus Syrien ausgereist ist, denn eine begründete Furcht vor Verfolgung kann auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Schutzsuchende das Herkunftsland verlassen hat (§ 28 Abs. 1a AsylG). Ein solcher beachtlicher Nachfluchttatbestand ist vorliegend gegeben.
a) Syrischen Staatsangehörigen droht bei einer unterstellten Rückkehr nach Syrien über den Flughafen Damaskus zwar nicht schon allein deswegen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung, weil sie Syrien (illegal) verlassen, einen Asylantrag gestellt und sich längerfristig in Deutschland aufgehalten haben (hierzu ausführlich BayVGH, U.v. 12.12.2016 – 21 ZB 16.320338, 21 ZB 16.30364, 21 ZB 16.30371, 21 ZB 16.30372 – juris; OVG NW, B.v. 6.10.2016 – 14 A 1852/16.A – juris; OVG SH, U.v. 23.11.2016 – 3 LB 17/16 – juris; OVG RhPf, U.v. 16.12.2016 – 1 A 10922/16 – juris)
b) Eine begründete Furcht vor Verfolgung besteht zur Überzeugung des Gerichts jedoch aufgrund des Umstands, dass sich der Kläger zu 1., der sich im wehrdienstfähigen Alter befindet, jedenfalls durch seinen Auslandsaufenthalt dem Militärdienst entzogen hat (BayVGH, U.v. 12.12.2016 – 21 B 16.30372 juris; a.A. OVG Saarl, U.v. 2.2.2017 – 2 A 515/16 – juris; OVG RhPf, U.v. 16.12.2016 – 1 A 10920/16.OVG – juris; OVG SH, U.v. 23.11.2016 – 3 LB 17/16 – juris). Nach der Auskunft des Deutschen Orient-Instituts vom 8. November 2016 an das OVG Schleswig-Holstein sehen sich „besonders männliche syrische Staatsangehörige (…) nach einer Wiedereinreise in das durch die syrische Regierung kontrollierte Gebiet wenn älter als 18 Jahre der Einberufung in den Wehrdienst gegenüber. (…) Auch wenn der Wehrdienst bereits verrichtet wurde kommt es seit Anfang 2011 dazu, dass männliche Staatsangehörige bis zu einem Alter von 42 Jahren erneut eingezogen werden“ (Auskunft der Deutschen Orient-Stiftung – Deutsches Orient-Institut vom 8.11.2016 an das OVG SH im Verfahren 3 LB 17/16). Nach der Auskunft der Schweizerischen Flüchtlingshilfe müssen sich syrische Männer im Alter von 18 Jahren für den Militärdienst registrieren und sind bis zum Alter von 42 Jahren wehrpflichtig. Im März 2012 verbot die syrische Regierung deshalb allen Männern zwischen 18 und 42 Jahren, das Land ohne Bewilligung zu verlassen (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Syrien: Rekrutierung durch die Syrische Armee, 30.7.2014).
Aufgrund seiner Flucht und der damit verbundenen Entziehung vom Militärdienst in der syrischen Armee muss der Kläger zu 1., der im Zeitpunkt der vorliegenden Entscheidung 22 Jahre alt ist, nach der Auskunftslage in besonderer Weise damit rechnen, im Zusammenhang mit einer Rückkehr nach Syrien vom syrischen Staat im Anschluss an die Befragungen wegen unterstellten illoyalen Verhaltens und regimefeindlicher Gesinnung der Folter und Inhaftierung bis hin zum „Verschwindenlassen“ ausgesetzt zu sein.
c) Die vorliegenden Erkenntnisse rechtfertigen dabei auch die Bejahung des mit dem Kriterium der begründeten Furcht vor Verfolgung (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG) der Sache nach vorgegebenen bzw. geforderten Gefährdungsgrades hinsichtlich einer entsprechenden Rechtsgutsverletzung nach dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. im Einzelnen BVerwG, U.v. 1.6.2011 – 10 C 25/10 – BVerwGE 140, 22 Rn. 23 zum Wahrscheinlichkeitsmaßstab). Insoweit die subjektive Seite in den Blick nehmend („begründete Verfolgungsfurcht“) ist nach Auffassung des Gerichts offenkundig, dass aufgrund der realen und ernst zu nehmenden Gefahr, selbst ohne Kenntnisse von der hiesigen Exilszene auf die bloße Möglichkeit von Kenntnissen bzw. wegen des Verdachts der Wehrdienstentziehung hin einem Verhör unter Folter unterzogen zu werden, es einem besonnenen und vernünftig denkenden Menschen nicht zuzumuten wäre, jetzt als ehemaliger Asylbewerber nach Syrien zurückzukehren.
Anhaltspunkte dafür, dass diese Einschätzung wegen der Entwicklungen in jüngerer Zeit nicht mehr gerechtfertigt wäre, liegen nicht vor. Soweit das Auswärtige Amt in einer aktuellen Stellungnahme der Botschaft Beirut vom 3. Februar 2016 ausführt, dass keine Erkenntnisse dazu vorliegen, dass ausschließlich aufgrund des vorausgegangenen Auslandsaufenthalts Rückkehrer nach Syrien Übergriffe/Sanktionen zu erleiden hätten, so bedeutet dies nicht, dass eine derartige Behandlung von Rückkehrer aus dem westlichen Ausland unwahrscheinlich ist. Denn es sind nach der Auskunft Fälle bekannt, bei denen Rückkehrer nach Syrien befragt, zeitweilig inhaftiert oder dauerhaft verschwunden seien. Diese stehen überwiegend in Zusammenhang mit oppositionsnahen Aktivitäten (beispielsweise Journalisten oder Menschenrechtsverteidigern), aber auch in Zusammenhang mit einem nicht abgeleisteten bzw. möglichen Militär- /Reservedienst.
d) Die (für den Fall einer Rückkehr mit Kontakt zu den syrischen Behörden anzu-nehmende) Gefährdung des Klägers zu 1. (Foltergefahr bei Rückkehrbefragung) würde des Weiteren zur Überzeugung des Gerichts jedenfalls auch an eine zumindest vermutete politische Gesinnung und damit an eines der in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG aufgeführten Konventionsmerkmale anknüpfen (vgl. § 3b Abs. 2 AsylG zur Zuschreibung relevanter Merkmale durch den Verfolger; siehe hierzu auch VGH BW, B.v. 29.10.2013 – A 11 S 2046/13; Hess VGH, B.v. 27.1.2014 – 3 A 917/13.Z.A; OVG Berlin-Bbg, B.v. 9.1.2014 – 3 N 91.13; a.A. OVG NRW, B.v. 13.2.2014 – 14 A 215/14.A; alle in juris).
e) Eine zumutbare inländische Fluchtalternative nach § 3e AsylG innerhalb des Herkunftslandes besteht derzeit zur Überzeugung des Gerichts nicht.
Da eine geordnete Rückkehr aus Deutschland im Zeitpunkt der vorliegenden Entscheidung (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 AsylG) stets nur über den vom syrischen Regime kontrollierten Flughafen in Damaskus unter vorheriger Ankündigung bei den syrischen Behörden erfolgen würde, besteht die wahrscheinliche Gefahr, im Falle einer Rückkehr bereits an der Grenze zum Zwecke einer Rückkehrerbefragung bzw. zur Verfolgung wegen der Entziehung vom Militär-/Reservedienst verhaftet und von menschenrechtswidriger Behandlung bedroht zu sein.
f) Es ist schließlich auch nichts dafür ersichtlich, dass der Annahme bzw. (förmlichen) Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft einer der Ausnahmetatbestände des § 3 Abs. 2 und 3 bzw. des § 3 Abs. 4 AsylG i.V.m. § 60 Abs. 8 Satz 1 oder 3 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) entgegenstehen könnte.
3. Die einschlägigen Voraussetzungen für die Annahme der Flüchtlingseigenschaft und deren förmliche Zuerkennung liegen bei der Klägerin zu 2. nicht vor. Die Klägerin zu 2. ist weder vorverfolgt aus Syrien ausgereist noch liegt ein beachtlicher Nachfluchttatbestand vor (§ 28 Abs. 1a AsylG).
Syrischen Staatsangehörigen droht bei einer unterstellten Rückkehr nach Syrien über den Flughafen Damaskus nicht schon allein deswegen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung, weil sie Syrien (illegal) verlassen, einen Asylantrag gestellt und sich längerfristig in Deutschland aufgehalten haben (hierzu ausführlich BayVGH, U.v. 12.12.2016 – 21 ZB 16.320338, 21 ZB 16.30364, 21 ZB 16.30371, 21 ZB 16.30372 – juris; OVG NW, B.v. 6.10.2016 – 14 A 1852/16.A – juris; OVG SH, U.v. 23.11.2016 – 3 LB 17/16 – juris; OVG RhPf, U.v. 16.12.2016 – 1 A 10922/16 – juris).
Gefahrerhöhende Umstände in der Person der Klägerin zu 2. sind weder vorgetragen noch ersichtlich.
4. Die Klägerin zu 2. hat auch derzeit keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft als Familienangehörige nach § 26 Abs. 5 i.V. m. Abs. 1 AsylG. Die im vorliegenden Urteil ausgesprochene Verpflichtung der Beklagten, dem Kläger zu 1., dem Ehemann der Klägerin zu 2., die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, ist in dem nach § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts noch nicht unanfechtbar. Sobald die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu Gunsten des Klägers zu 1. unanfechtbar geworden ist, kann die Kläger zu 2. einen auf § 26 Abs. 5 AsylG gestützten Folgeantrag stellen, sofern ihr die Flüchtlingseigenschaft dann nicht ohnehin von Amts wegen zuerkannt wird.
5. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gemäß § 83 b AsylG ist das Verfahren gerichtskostenfrei.
Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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