Aktenzeichen Au 7 S 16.32193
Leitsatz
Die Voraussetzungen einer Abschiebungsanordung in einen anderen europäischen Mitgliedstaat mit einer Ausreisefrist von einer Woche nach §§ 35, 29 Abs. 1 Nr. 2, § 36 Abs. 1 AsylG liegen nicht vor, wenn dieser Mitgliedstaat eine auf nationalem Recht beruhenden Aufenthalt aus humanitären Gründen, nicht jedoch bereits internationalen Schutz im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gewährt hat. (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I.
Die aufschiebende Wirkung der Klage vom 28. Oktober 2016 (Az.: Au 7 K 16. 32192) gegen die Abschiebungsandrohung im Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 16. September 2016 wird angeordnet
II.
Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Gründe
I.
Die Antragstellerin zu 1 und ihre (am …2011 in I. geborene) Tochter, die Antragstellerin zu 2, sowie der s. Staatsangehörige … (Vater der Antragstellerin zu 2) wurden am 6. April 2014 in der Bundesrepublik Deutschland von der Polizei aufgegriffen. Für die Antragstellerin zu 1 ergab sich am 6. April 2014 ein EURODAC-Treffer der Kategorie 1 für I. (…, Aufgriffsort: …, Aufgriffsdatum: …). Die Antragstellerin zu 1 hatte eine i. „Carta d‘Identita“ sowie ein „Permesso Di Soggiorno“ (befristet bis 3.5.2014, Ausstellungsgrund: „Motivi Umanitari“) bei sich. Für die Antragstellerin zu 2 wurde ebenfalls ein bis 3. Mai 2014 befristetes „Permesso Di Soggiorno“ (für Minderjährige) vorgelegt.
Am 15. April 2014 stellten die Antragstellerinnen zu 1 und 2 beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (nachfolgend: Bundesamt) Asylanträge. Ebenfalls am 15. April 2014 fand das persönliche Gespräch zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates zur Durchführung des Asylverfahrens statt. Die Antragstellerin zu 1 gab u. a. an, sie habe N. 2008 verlassen und habe sich dann 4 Jahre in L. sowie 2 Jahre und 11 Monate in I. aufgehalten.
Am 3. Dezember 2015 wurde die Antragstellerin zu 1 vom Bundesamt persönlich angehört (§ 25 Asylgesetz – AsylG).
Das Bundesamt stellte für die Antragstellerinnen zu 1 und 2 am 21. März 2016 ein „Informationsersuchen nach Art. 21“ an I. Die i. Behörden teilten am 16. Mai 2016 mit, dass der Antragstellerin zu 1 die Erlaubnis für einen Aufenthalt aus humanitären Gründen, die am 3. Mai 2014 abgelaufen sei, erteilt worden war.
Am 18. Juli 2016 fand das zweite persönliche Gespräch zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates zur Durchführung des Asylverfahrens statt.
Mit Bescheid vom 16. September 2016 lehnte daher das Bundesamt die Anträge als unzulässig ab (Nr. 1 des Bescheids) und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 2 des Bescheids). Die Antragstellerinnen wurden aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen. Sollten sie die Ausreisefrist nicht einhalten, würden sie nach I. abgeschoben. Sie könnten auch in einen anderen Staat abgeschoben werden, in den sie einreisen dürfen oder der zu ihrer Rückübernahme verpflichtet sei. Die Antragsteller dürften nicht nach N. abgeschoben werden (Nr. 3 des Bescheids). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf 24 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 4 des Bescheids).
Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass die Asylanträge nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG unzulässig seien, da den Antragstellerinnen bereits in I. internationaler Schutz im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gewährt worden sei.
Der Bescheid, dessen Rechtsbehelfsbelehrung das Verwaltungsgericht … als zuständiges Gericht nennt, wurde am 20. September 2016 als Einschreiben zur Post gegeben.
Am 28. September 2016 wurde Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht … erhoben mit dem Antrag, den Bescheid des Bundesamts vom 16. September 2016 aufzuheben. Gleichzeitig wurde beantragt,
die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen.
Mit Beschlüssen des Verwaltungsgericht … vom 13. Oktober 2016 wurden das Klageverfahren und das (streitgegenständliche) Verfahren auf vorläufigen Rechtsschutz an das örtlich zuständige Bayerische Verwaltungsgericht Augsburg überwiesen. Das Klageverfahren wird hier unter dem Aktenzeichen Au 7 K 16.32192 (weiter-) geführt.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Behördenakte Bezug genommen.
II.
1. Der Antrag nach § 80 Absatz 5 VwGO ist gemäß § 36 Abs. 3 S. 1 Asylgesetz (AsylG) zulässig. Insbesondere ist die dort bestimmte Antragsfrist von einer Woche nach Bekanntgabe des streitgegenständlichen Bescheides gewahrt, wie sich dem Vermerk über die am 20. September 2016 erfolgte Aufgabe des Bescheides zur Post als Einschreiben an die Bevollmächtigten der Antragstellerinnen entnehmen lässt (Zugangsfiktion am 23. September 2016). Zudem hätte hier die Jahresfrist gegolten (§ 58 Abs. 2 VwGO), da die Rechtsbehelfsbelehrung das örtlich unzuständige Verwaltungsgericht … benannte.
2. Der Antrag ist auch begründet. Nach § 80 Abs. 5 VwGO kann das Gericht auf Antrag im Rahmen einer eigenen Ermessensentscheidung die aufschiebende Wirkung der Klage anordnen, wenn das Interesse des Antragstellers an der beantragten Aussetzung der Vollziehung das bezüglich der Abschiebungsandrohung bestehende öffentliche Interesse an der sofortigen Durchsetzbarkeit des Verwaltungsaktes überwiegt.
Die danach vorzunehmende Abwägung des öffentlichen Vollzugsinteresses der Antragsgegnerin mit dem privaten Aussetzungsinteresse der Antragstellerinnen hat sich maßgeblich – nicht ausschließlich – an den Erfolgsaussichten in der Hauptsache zu orientieren, wie diese sich bei summarischer Prüfung im vorliegenden Verfahren abschätzen lassen. Diese Interessenabwägung fällt vorliegend zugunsten der Antragstellerinnen aus, denn die Abschiebungsandrohung in Ziffer 3 des angefochtenen Bescheides des Bundesamtes begegnet nach diesen Maßstäben zu dem für die Entscheidung maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 AsylG) durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Dies ergibt sich aus der dort geregelten Ausreisefrist von einer Woche, die rechtswidrig ist.
Die Voraussetzungen einer Abschiebungsandrohung nach I. mit einer Ausreisefrist von einer Woche, welche das Bundesamt im angegriffenen Bescheid auf §§ 35, 29 Abs. 1 Nr. 2, 36 Abs. 1 AsylG gestützt hat, liegen nicht vor. Eine andere Rechtsgrundlage, auf die eine solche Abschiebungsandrohung hier gestützt werden könnte, ist nicht ersichtlich.
Die angeordnete Ausreisefrist von einer Woche hat das Bundesamt auf § 36 Abs. 1 AsylG gestützt. Dies ist in den Fällen der Unzulässigkeit gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG – sowie bei hier ersichtlich nicht vorliegender Ablehnung des Asylantrages gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 4 AsylG oder wegen offensichtlicher Unbegründetheit des Asylantrages – die zwingende Folge einer für diese Fälle vorgesehenen Abschiebungsandrohung gemäß § 35 AsylG.
Die in Ziffer 1 des angegriffenen Bescheides erfolgte Ablehnung der Schutzanträge der Antragstellerinnen als unzulässig, die das Bundesamt auf § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG stützt, stellt sich jedoch als rechtswidrig dar. Ob sich diese Bescheidung des Asylantrages auf eine andere Ermächtigungsgrundlage – insbesondere die für die sog. Dublin-Verfahren geltende Regelung in § 29 Abs. 1 Nr. 1 lit. a AsylG – stützen ließe, bedarf keiner Entscheidung, da dies nicht zu einer Abschiebungsandrohung mit einer Ausreisefrist von einer Woche führt.
Gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Mitgliedsstaat der Europäischen Union dem Antragsteller bereits internationalen Schutz im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG, also Flüchtlingsschutz oder subsidiären Schutz im Sinne der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 (EU-Qualifikationsrichtlinie, ABl. L 337 vom 20.12.2011, S. 9) gewährt hat. Entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin ist den Antragstellerinnen in I. aber weder der Flüchtlingsstatus zuerkannt noch subsidiärer Schutz gewährt worden. Vielmehr ergibt sich aus der Mitteilung der i. Behörden vom 16. Mai 2016 (Bl. 66 der Bundesamtsakte) eindeutig, dass der Antragstellerin zu 1 lediglich ein (am 3.5.2014 abgelaufener) Aufenthalt aus humanitären Gründen zugebilligt worden war (…“a permit of stay for humanitarians expired on 03.05.2014“). Eine solche Aufenthaltsgestattung aus humanitären Gründen beruht auf (nationalem) i. Recht und wird gerade dann erteilt, wenn die i. Behörden davon ausgehen, dass die Voraussetzungen für die Gewährung internationalen Schutzes nicht erfüllt werden (vgl. „International Protection in Italy: asylum, humanitarian assistance; Handbook for International Protection Seekers in Italy“, http://c…com/r…). Wäre den Antragstellerinnen in I. tatsächlich internationaler Schutz nach der EU-Qualifikationsrichtlinie gewährt worden, dann hätten die i. Behörden dies mit Sicherheit mitgeteilt und die entsprechenden Begriffe „refugee status“ oder „subsidiary protection“ gewählt. Zudem weisen die i. Behörden in Fällen, in denen sie internationalen Schutz gewährt haben, die deutschen Behörden daraufhin, dass eine Wiederaufnahme der betreffenden Person damit auf Grundlage des bilateralen Rückübernahmeabkommens zwischen I. und Deutschland („Police Agreement“) zu erfolgen habe. Auch dieser Hinweis fehlt im Antwortschreiben I. vom 16. Mai 2016. Das Gericht geht daher davon aus, dass den Antragstellerinnen in I. kein internationaler Schutz im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr.2 AsylG gewährt wurde.
Da somit ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Bescheids vom 16. September 2016 bestehen, überwiegen die Interessen der Antragstellerinnen an der Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage im Hinblick auf die Abschiebungsandrohung hier das öffentliche Interesse an einer unverzüglichen Durchsetzung des Bescheids.
3. Da der Antrag somit erfolgreich ist, trägt die Antragsgegnerin die Kosten des Verfahrens (§ 154 Abs. 1 VwGO). Die Gerichtskostenfreiheit beruht auf § 83b AsylG.
4. Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).