Verwaltungsrecht

Zur Behandlung von Erstanträgen in assoziierten Staaten (hier der Schweiz)

Aktenzeichen  4 L 110/21.Z

Datum:
29.3.2022
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
Oberverwaltungsgericht des Landes Sachsen-Anhalt 4. Senat
Dokumenttyp:
Beschluss
ECLI:
ECLI:DE:OVGST:2022:0329.4L110.21.Z.00
Normen:
§ 26a Abs 2 AsylVfG 1992
§ 29 Abs 1 Nr 5 AsylVfG 1992
§ 71a AsylVfG 1992
§ 71 AsylVfG 1992
Spruchkörper:
undefined

Leitsatz

Ein Antrag auf internationalen Schutz, der in einem Mitgliedstaat gestellt wurde, nachdem ein früherer Antrag abgelehnt worden war, den derselbe Antragsteller in einem die Dublin-III-Verordnung umsetzenden sicheren Drittstaat – hier der Schweiz – gestellt hatte, stellt keinen Zweitantrag im Sinne des § 71a AsylG (juris: AsylVfG 1992) dar und kann daher nicht gemäß §§ 29 Abs. 1 Nr. 5, 71a AsylG (juris: AsylVfG 1992) als unzulässig abgelehnt werden (Anschluss an EuGH, Urteil vom 20. Mai 2021 – C-8/20 -, juris).(Rn.12)

Verfahrensgang

vorgehend VG Halle (Saale), 6. April 2021, 4 A 238/21 HAL, Urteil

Tenor

Der Antrag der Beklagten, die Berufung gegen das ohne mündliche Verhandlung am 6. April 2021 ergangene Urteil des Verwaltungsgerichts Halle – 4. Kammer – zuzulassen, wird abgelehnt.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten (Gebühren und Auslagen) werden nicht erhoben.

Gründe

Der auf eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG gestützte Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.
Grundsätzliche Bedeutung hat eine Rechtssache nur dann, wenn mit ihr eine grundsätzliche, bisher höchstrichterlich oder obergerichtlich nicht entschiedene Rechtsfrage oder eine im Bereich der Tatsachenfeststellungen bisher obergerichtlich nicht geklärte Frage von allgemeiner Bedeutung aufgeworfen wird, die sich im erstrebten Berufungsverfahren stellen würde und die im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung und der Fortentwicklung des Rechts berufungsgerichtlicher Klärung bedarf (st. Rspr.; vgl. zuletzt OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 30. November 2021 – 4 L 254/21 -, n.v.). Davon ist vorliegend nicht auszugehen.
1. Das Verwaltungsgericht hat mit dem angefochtenen Urteil einen Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) vom 27. April 2020 aufgehoben, mit dem dieses u.a. den Asylantrag der Klägerin als unzulässig abgelehnt hat, weil es sich bei dem Antrag der Klägerin um einen Zweitantrag im Sinne des § 71a AsylG handele, da diese bereits in einem sicheren Drittstaat nach § 26a AsylG (Schweiz) erfolglos ein Asylverfahren betrieben habe. Demnach sei ein weiteres Asylverfahren nur unter den Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VwVfG) durchzuführen. Diese Voraussetzungen seien indes nicht gegeben. Der Vortrag der Klägerin beschränke sich im Wesentlichen darauf, die bereits früher vorgetragenen Gründe zu wiederholen. Es liege auch kein Abschiebungsverbot vor.
Das Verwaltungsgericht hat demgegenüber die Auffassung vertreten, ein Zweitantrag im Sinne von § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG in Verbindung mit § 71a AsylG liege vor, wenn der Ausländer nach erfolglosem Abschluss eines Asylverfahrens in einem sicheren Drittstaat im Sinne von § 26a AsylG – wie hier der Schweiz -, für den Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft über die Zuständigkeit für die Durchführung von Asyl gelten oder mit dem die Bundesrepublik Deutschland darüber einen völkerrechtlichen Vertrag geschlossen hat, im Bundesgebiet einen Asylantrag stelle. Das erfolglos abgeschlossene Asylverfahren müsse sich dabei auch auf die Gewährung des unionsrechtlichen subsidiären Schutzes beziehen. Das ergebe sich sowohl aus der Begriffsbestimmung des Asylantrags nach nationalem Recht (§ 13 Abs. 2, § 2 Abs. 1 Nr. 2 AsylG) als auch aus der europarechtlichen Definition des Antrags auf internationalen Schutz (Art. 2 Buchst. h Richtlinie 2011/95/EU) sowie aus dem hierauf aufbauenden und § 71a AsylG (im Sinne einer mitgliedstaatenübergreifenden Anwendung) zugrunde gelegten Folgeantragskonzept in Art. 40 ff. Richtlinie 2013/32/EU. Auch die für die Bestimmung der Zuständigkeit maßgebliche Dublin-III-VO stelle auf den weiten Antrag auf internationalen Schutz im Sinne von Art. 2 Buchstabe h Richtlinie 2011/95/EU ab (Art. 2 Buchstabe b Dublin-III-VO). Das von der Klägerin in der Schweiz geführte Asylverfahren umfasse indes nicht die Prüfung der Gewährung subsidiären Schutzes. Denn das Schweizer Recht sehe eine vollständige Prüfung des subsidiären Schutzes im Sinne von Art. 2 Buchstabe f Richtlinie 2011/95/EU bzw. Art. 2 Buchstabe h Richtlinie 2013/32/EU nicht vor. Namentlich entsprächen der vorübergehende Schutz nach Art. 4 des Schweizer Asylgesetzes und die vorläufige Aufnahme nach Art. 44 des Schweizer Asylgesetzes i.V.m. Art. 83 und 84 des Schweizer Ausländergesetzes nicht dem subsidiären Schutz im Sinne des Unionsrechts. Sei somit die Prüfung subsidiären Schutzes nicht Gegenstand des von der Klägerin in der Schweiz betriebenen Asylverfahrens gewesen, liege schon kein Zweitantrag im Sinne des § 71a AsylG vor, sodass die Ablehnung des Asylantrags der Klägerin als unzulässig ausscheide.
2. Hiergegen richtet sich der Zulassungsantrag der Beklagten. Sie hält im Berufungsverfahren die Rechtsfragen für grundsätzlich klärungsbedürftig,
„(1.) ob § 71a AsylG voraussetzt, dass in dem sicheren Drittstaat ein mit den Voraussetzungen der Qualifikationsrichtlinie (Abl. EU L 337/9) vergleichbares Verfahren vorliegt oder ob lediglich ein formal abgeschlossenes Verfahren zu fordern ist?
bzw.
(2.) ob im Fall von Zweitanträgen nach § 71a AsylG Regelungen des subsidiären Schutzes auch dann zu prüfen sind, wenn Europäisches Recht dies nicht ausdrücklich vorsieht?“
Ergänzend hierzu wirft die Beklagte die Tatsachenfrage auf,
„(3.) ob die bei einem in der Schweiz durchgeführten Asylverfahren zu berücksichtigenden Prüfinhalte im Wesentlichen inhaltlich vergleichbar mit dem Prüfprogramm des subsidiären Schutzes sind?“
Zutreffend weist die Beklagte darauf hin, dass diese Fragen (sinngemäß) Gegenstand mehrerer Zulassungsentscheidungen des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg waren (vgl. auch OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 18. März 2021 – 19 A 1017/20.A -, juris) und zudem in der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung die Frage, ob in dem sicheren Drittstaat ein dem subsidiären Schutzstatus vergleichbares Rechtsinstitut bestehen müsse, unterschiedlich beantwortet worden ist (bejahend z. B. VG Köln, Urteil vom 21. Februar 2019 – 8 K 9975/17.A -, juris Rn.35; verneinend: VG Karlsruhe, Urteil vom 13. März 2019 – A 1 K 3235/16 -, juris Rn. 23 ff.; zu weiteren Entscheidungen aus der Rechtsprechung vgl. auch OVG Nordrhein-Westfalen, a. a. O.).
3. Die von der Beklagten in ihrem Zulassungsantrag vom 14. April 2021 aufgeworfenen Fragen stellen sich indes mit Blick auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 20. Mai 2021 – C-8/20 – (juris) in dem erstrebten Berufungsverfahren nicht mehr.
In dem o. g. Vorlageverfahren hat sich der EuGH der Frage zugewandt, ob ein Antrag auf internationalen Schutz, der in einem Mitgliedstaat gestellt wurde, nachdem ein früherer Antrag abgelehnt worden war, den derselbe Antragsteller in einem Drittstaat gestellt hatte, der die Verordnung (EU) Nr. 604/2013 (Dublin-III-Verordnung) umsetzt, einen „Folgeantrag“ im Sinne von Art. 2 Buchst. q und Art. 33 Abs. 2 Buchst. d der Richtlinie 2013/32 darstellt und dazu ausgeführt (vgl. juris Rn. 34 ff.):
„Der Begriff „Folgeantrag“ bezeichnet gemäß der Definition in Art. 2 Buchst. q der Richtlinie 2013/32 einen weiteren Antrag auf internationalen Schutz, der nach Erlass einer bestandskräftigen Entscheidung über einen früheren Antrag gestellt wird.
Diese Definition greift also die Begriffe „Antrag auf internationalen Schutz“ und „bestandskräftige Entscheidung“ auf, die ebenfalls in Art. 2 dieser Richtlinie definiert werden, nämlich in den Buchst. b und e.
Was erstens den Begriff „Antrag auf internationalen Schutz“ bzw. „Antrag“ anbelangt, so bezeichnet dieser gemäß der Definition in Art. 2 Buchst. b der Richtlinie 2013/32 das Ersuchen eines Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen um Schutz „durch einen Mitgliedstaat“, bei dem davon ausgegangen werden kann, dass er die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder die Gewährung des subsidiären Schutzstatus im Sinne der Richtlinie 2011/95 anstrebt.
Aus dem klaren Wortlaut dieser Bestimmung ergibt sich somit, dass ein an einen Drittstaat gerichteter Antrag nicht als „Antrag auf internationalen Schutz“ bzw. „Antrag“ im Sinne dieser Bestimmung verstanden werden kann.
Was zweitens den Begriff „bestandskräftige Entscheidung“ betrifft, so bezeichnet dieser gemäß der Definition in Art. 2 Buchst. e der Richtlinie 2013/32 eine Entscheidung darüber, ob einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen gemäß der Richtlinie 2011/95 die Flüchtlingseigenschaft oder der subsidiäre Schutzstatus zuzuerkennen ist, und gegen die kein Rechtsbehelf nach Kapitel V der Richtlinie 2013/32 mehr eingelegt werden kann.
Eine von einem Drittstaat getroffene Entscheidung kann indessen nicht unter diese Definition fallen. Die Richtlinie 2011/95, die an die Mitgliedstaaten gerichtet ist und keine Drittstaaten betrifft, beschränkt sich nämlich nicht darauf, die Flüchtlingseigenschaft vorzusehen, wie sie im Völkerrecht, nämlich in der Genfer Flüchtlingskonvention, verankert ist, sondern sie regelt auch den subsidiären Schutzstatus, der, wie sich aus dem sechsten Erwägungsgrund dieser Richtlinie ergibt, die Vorschriften über die Flüchtlingseigenschaft ergänzt.
In Anbetracht dessen ergibt sich – unbeschadet der davon zu unterscheidenden Frage, ob der Begriff „Folgeantrag“ auf einen weiteren Antrag auf internationalen Schutz anwendbar ist, der in einem Mitgliedstaat gestellt wird, nachdem ein anderer Mitgliedstaat einen früheren Antrag durch eine bestandskräftige Entscheidung abgelehnt hat – aus der Gesamtbetrachtung der Buchst. b, e und q von Art. 2 der Richtlinie 2013/32, dass ein in einem Mitgliedstaat gestellter Antrag auf internationalen Schutz nicht als „Folgeantrag“ eingestuft werden kann, wenn er gestellt wird, nachdem ein Drittstaat dem Antragsteller die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft versagt hat.“
Entschieden hat der EuGH mithin, dass beim Erstantrag in assoziierten Staate (dort: Norwegen) ein mitgliedschaftsübergreifendes Zweitantragsverfahren nicht mit EU-Recht vereinbar sei, weil dort u.a. nicht derselbe Prüfungsumfang sichergestellt sei. Folglich kann ein Antrag auf internationalen Schutz nicht mit der Begründung als unzulässig abgelehnt werden, dass ein früherer Asylantrag desselben Betroffenen von einem sicheren Drittstaat – wie Norwegen – abgelehnt wurde. Auch wenn dieser Drittstatt teilweise am Gemeinsamen Europäischen Asylsystem teilnimmt, kann er nämlich nicht einem Mitgliedstaat gleichgestellt werden.
Diese Ausführungen des EuGHs sind auf den vorliegenden Fall übertragbar, da die Klägerin ihren Erstantrag in der Schweiz gestellt hat, der wie Norwegen zu den assoziierten Staaten gehört (vgl. auch Anlage I zu § 26a abs. 2 AsylG). Des Weiteren betreffen die Ausführungen des EuGHs zum „Folgeantrag“ auch den „Zweitantrag § gemäß § 71a AsylG, da der Begriff „Folgeantrag“ nach Auffassung des EuGHs gemäß der Definition in Art. 2 Buchst. q der Richtlinie 2013/32 einen weiteren Antrag auf internationalen Schutz betrifft, der nach Erlass einer bestandskräftigen Entscheidung über einen früheren Antrag gestellt wurde. Hierunter fällt auch der in § 71a AsylG geregelte „Zweitantrag“.
Weiter hat der EuGH (juris Rn. 47) klargestellt, dass selbst die Annahme, dass das Asylsystem ein Schutzniveau für Asylbewerber vorsehe, das dem im Unionsrecht vorgesehenen Niveau gleichwertig sei, zu keinem anderen Ergebnis führe. Zum einen gehe nämlich aus dem Wortlaut der Bestimmungen der Verfahrensrichtlinie eindeutig hervor, dass es nach gegenwärtigem Stand nicht zulässig sei, einen Drittstaat für die Zwecke der Anwendung des in Rede stehenden Unzulässigkeitsgrundes einem Mitgliedstaat gleichzustellen. Zum anderen könne eine solche Gleichstellung nicht von einer Bewertung des konkreten Schutzniveaus für Asylbewerber im betreffenden Drittstaat abhängen, da anderenfalls die Rechtssicherheit beeinträchtigt wäre.
Damit steht fest, dass ein Folgeantrag gemäß § 71 AsylG bzw. ein Zweitantrag nach § 71a AsylG zwingend voraussetzt, dass das Erstverfahren in einem Mitgliedstaat durchgeführt wird, der an die Asylverfahrens- und Qualifikationsrichtlinie gebunden ist. Das Fehlen einer direkten Bindung an die Qualifikationsrichtlinie und damit an die Definitionen von Flüchtlingseigenschaft und subsidiärem Schutzstatus steht der Annahme eines erfolglos abgeschlossenen Asylverfahrens im Sinne einer bestandskräftigen Entscheidung entgegen.
Ist im vorliegenden Verfahren mithin – ausgehend von der Rechtsprechung des EuGHs – schon nicht vom Vorliegen eines Zweitantrags im Sinne des § 71a AsylG auszugehen, stellen sich die von der Beklagten aufgeworfenen Rechtsfragen zu 1. und 2. nicht. Auch die aufgeworfenen Tatsachenfrage zu 3., ob die bei einem in der Schweiz durchgeführten Asylverfahren zu berücksichtigenden Prüfinhalte im Wesentlichen inhaltlich vergleichbar mit dem Prüfprogramm des subsidiären Schutzes sind, würde sich in einem Berufungsverfahren nicht stellen, weil nach der Rechtsprechung des EuGHs eine (allerdings ohnehin unzulässige) Gleichstellung nicht von einer Bewertung des konkreten Schutzniveaus für Asylbewerber im betreffenden Drittstaat abhängen kann.
Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 154 Abs. 2 VwGO, 83b AsylG.
Der Beschluss ist unanfechtbar (§§ 78 Abs. 5 Satz 2, 80 AsylG, 152 Abs. 1 VwGO).


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