Aktenzeichen 19 C 9120/19
AEUV Art. 19 Abs. 3 lit. b, Art. 267
GRCh Art. 12 Abs. 1, Art. 28
Leitsatz
Es bedarf der Vorabentscheidung durch den Gerichtshof der Europäischen Union, ob der gewerkschaftlich organisierte Streik des eigenen Personals eines ausführenden Luftfahrtunternehmens einen “außergewöhnlichen Umstand” iSv Art. 5 Abs. 3 der Fluggastrechte-VO darstellt und ob es hierbei darauf ankommt, ob der Streik aufgrund von Forderungen des Personals geführt wird, die bisher vertraglich zwischen dem Personal und dem ausführenden Luftfahrtunternehmen nicht vereinbart waren, oder der konkrete Streik durch ein bestimmtes Verhalten während der Verhandlungen mit der Gewerkschaft durch das ausführende Luftfahrtunternehmen veranlasst wurde (s. zum sog. “wilden Streik” EuGH BeckRS 2018, 5392 [Krüsemann/TUIfly GmbH]). (Rn. 38 – 40) (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I. Das Verfahren wird ausgesetzt.
II. Dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften werden gemäß Artikel 19 Absatz 3 Buchstabe b des Vertrages über die Europäische Union und Artikel 267 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union zur Auslegung von Artikel 5 Abs. 3 der Verordnung (EG) Nummer 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11.02.2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nummer 295/91 folgende Fragen vorgelegt:
a) Stellt der gewerkschaftlich organisierte Streik des eigenen Personals eines ausführenden Luftfahrtunternehmens einen „außergewöhnlichen Umstand“ i.S.d. Art. 5 Abs. 3 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 dar?
b) Kommt es dabei darauf an, ob der genannte Streik aufgrund von Forderungen des Personals geführt wird, die bisher vertraglich zwischen dem Personal und dem ausführenden Luftfahrtunternehmen nicht vereinbart waren?
c) Kommt es dabei darauf an, ob der konkrete Streik durch ein bestimmtes Verhalten während der Verhandlungen mit der Gewerkschaft durch das ausführende Luftfahrtunternehmen veranlasst wurde?
Gründe
I.
Die Entscheidung zur Aussetzung des Verfahrens ergeht analog § 148 ZPO.
Die durch ordentliche Rechtsmittel nicht anfechtbare Entscheidung über den Rechtsstreit (§ 511 Abs. 2 ZPO) hängt von der Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union durch Beantwortung der im Tenor formulierten Vorlagefrage ab
II. Darstellung des Streitgegenstandes
Die Kläger begehren von der Beklagten eine Ausgleichszahlung in Höhe von jeweils € 250,00.
Die Kläger verfügten über bestätigte Buchungen für einen Flug von Krakau (KRK) nach Nürnberg (NUE) mit der Nr., der von der Beklagten durchgeführt werden sollte und Nürnberg am 10.08.2018 um Uhr (Ortszeit) erreichen sollte. Der Flug wurde annulliert. Grund für die Annullierung war ein Streik der Piloten der Beklagten am 10.08.2018.
Die Beklagte hatte mit der Gewerkschaft (nachfolgend V Tarifverhandlungen geführt, u.a. über den Abschluss eines Mantel- und Vergütungstarifvertrages. Die Verhandlungen wurden schon seit Dezember 2017 geführt. Die Gewerkschaft wollte eine Gehaltssteigerung von 42% erreichen. Am 08.08.2018 rief V zum Streik der Piloten auf.
Aufgrund des Streiks wurden allein in Deutschland 230 von 313 Flügen der Beklagten, die für den 10.08.2018 geplant waren, annulliert. 83 Flüge wurden durchgeführt. Die verbleibenden Flüge wurden durch eine Umorganisation des Flugplanes und Einbeziehung weiterer Piloten durchgeführt. Bestreikt wurde die Beklagte darüber hinaus in Irland, Belgien, Schweden und den Niederlanden.
Einschlägige Vorschriften des Unionsrechts
Charta der Grundrechte der Europäischen Union (2000/C 364/01)
Art. 12 („Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit“) lautet:
„(1) Jede Person hat das Recht, sich insbesondere im politischen, gewerkschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Bereich auf allen Ebenen frei und friedlich mit anderen zu versammeln und frei mit anderen zusammenzuschließen, was das Recht jeder Person umfasst, zum Schutz ihrer Interessen Gewerkschaften zu gründen und Gewerkschaften beizutreten. (…)“
Art. 28 („Recht auf Kollektivverhandlungen und Kollektivmaßnahmen“) lautet:
„Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber oder ihre jeweiligen Organisationen haben nach dem Gemeinschaftsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten das Recht, Tarifverträge auf den geeigneten Ebenen auszuhandeln und zu schließen sowie bei Interessenkonflikten kollektive Maßnahmen zur Verteidigung ihrer Interessen, einschließlich Streiks, zu ergreifen.“
Europäische Sozialcharta (SEV 35, 18.10.1961)
Teil I Abs. 6 lautet:
„Alle Arbeitnehmer und Arbeitgeber haben das Recht auf Kollektivverhandlungen.“
Teil II Art. 6 („Das Recht auf Kollektivverhandlungen“) lautet:
„Um die wirksame Ausübung des Rechtes auf Kollektivverhandlungen zu gewährleisten, verpflichten sich die Vertragsparteien:
(…) und anerkennen:
(4) das Recht der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber auf kollektive Maßnahmen einschließlich des Streikrechts im Falle von Interessenkonflikten, vorbehaltlich etwaiger Verpflichtungen aus geltenden Gesamtarbeitsverträgen.“
Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004
Erwägungsgrund 14 lautet:
„Wie nach dem Übereinkommen von Montreal sollten die Verpflichtungen für ausführende Luftfahrtunternehmen in den Fällen beschränkt oder ausgeschlossen sein, in denen ein Vorkommnis auf außergewöhnliche Umstände zurückgeht, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären. Solche Umstände können insbesondere bei politischer Instabilität, mit der Durchführung des betreffenden Fluges nicht zu vereinbarenden Wetterbedingungen, Sicherheitsrisiken, unerwarteten Flugsicherheitsmängeln und den Betrieb eines ausführenden Luftfahrtunternehmens beeinträchtigenden Streiks eintreten.“
Art. 5 („Annullierung“) lautet:
„(1) Bei Annullierung eines Fluges werden den betroffenen Fluggästen (…)
c) vom ausführenden Luftfahrtunternehmen ein Anspruch auf Ausgleichsleistungen gemäß Artikel 7 eingeräumt (…)
(3) Ein ausführendes Luftfahrtunternehmen ist nicht verpflichtet, Ausgleichszahlungen gemäß Artikel 7 zu leisten, wenn es nachweisen kann, dass die Annullierung auf außergewöhnliche Umstände zurückgeht, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären.“
Art. 7 („Ausgleichsanspruch“) lautet:
„(1) Wird auf diesen Artikel Bezug genommen, so erhalten die Fluggäste Ausgleichszahlungen in folgender Höhe:
a) 250 EUR bei allen Flügen über eine Entfernung von 1 500 km oder weniger, (…)“
Einschlägige nationale Rechtsprechung zur Vorlagefrage
Der Bundesgerichtshof hatte mit Urteil vom 21.08.2012 (Az.: X ZR 138/11) entschieden (Leitsätze): 31 „1. Ruft eine Gewerkschaft im Rahmen einer Tarifauseinandersetzung die Piloten eines Luftverkehrsunternehmens zur Arbeitsniederlegung auf, kann dies außergewöhnliche Umstände im Sinne des Art. 5 Abs. 3 der Fluggastrechtsverordnung zur Folge haben.
2. Das Luftverkehrsunternehmen ist in diesem Fall davon befreit, Ausgleichszahlungen für die Annullierung derjenigen Flüge zu leisten, die es absagt, um den Flugplan an die zu erwartenden Auswirkungen des Streikaufrufs anzupassen.
Begründet hat der Bundesgerichtshof seine Entscheidung u.a. wie folgt (Rn. 25 f.): 34 „Die Berufung der Beklagten auf außergewöhnliche Umstände scheidet nicht deswegen aus, weil die Situation für die Beklagte beherrschbar war.
In aller Regel kann eine außergewöhnliche Umstände ausschließende Beherrschbarkeit der Situation bei einer Tarifauseinandersetzung nicht angenommen werden. Die Entscheidung, einen Streik durchzuführen, wird von der Arbeitnehmerseite im Rahmen der ihr zukommenden Tarifautonomie getroffen und damit außerhalb des Betriebs des ausführenden Luftverkehrsunternehmens. Daraus folgt, dass das Luftverkehrsunternehmen regelmäßig auch bei eigenen Mitarbeitern keinen rechtlich erheblichen Einfluss darauf hat, ob gestreikt wird oder nicht. Dabei verfängt das Argument nicht, das ausführende Luftverkehrsunternehmen habe es bei betriebsinternen Streiks in der Hand, den Forderungen nachzukommen und dadurch den Streik abzuwenden. Damit würde von dem Luftverkehrsunternehmen verlangt, auf seine unionsrechtlich geschützte Koalitionsfreiheit zu verzichten und sich im Arbeitskampf von vornherein in die Rolle des Unterlegenen zu begeben. Dies wäre weder dem Luftverkehrsunternehmen zumutbar noch läge es im längerfristigen Interesse der Fluggäste.“
Rechtsansichten der Parteien
Die Klägerseite ist der Auffassung, dass ein Streik eigener Flugbegleiter keinen „außergewöhnlichen Umstand“ i.S.d. Art. 5 Abs. 3 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 darstelle. Sie meint, mit Streiks müsse bei jeder Tarifverhandlung gerechnet werden und damit auch mit dem Ausfall und der Annullierung von Flügen: Es handele sich um ein typisches, in Ausübung der betrieblichen Tätigkeit zu erwartendes und nicht um ein außergewöhnliches Ereignis.
Die Beklagte vertritt die Ansicht, dass ein gewerkschaftlicher Streik einen außergewöhnlichen Umstand darstelle, unabhängig davon, ob es sich bei dem streikenden Personal um Mitarbeiter des ausführenden Luftfahrtunternehmens handele oder nicht. Die Verordnung (EG) Nr. 261/2004 unterscheide nicht einmal danach, ob es sich um einen Streik der Mitarbeiter oder Dritter handele.
Nationale Gerichtsentscheidungen
In einer Vielzahl von nationalen Entscheidungen im Nachgang zum Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 17.04.2018 (C-195/17), wonach der Anspruch des Fluggastes auf Ausgleichszahlung gerade nicht davon abhängen soll, ob ein Streik nach den einschlägigen nationalen arbeits- und tarifrechtlichen Vorschriften rechtmäßig ist oder nicht, sondern als „außergewöhnliche Umstände“ im Sinne von Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 vielmehr nur solche Vorkommnisse angesehen werden sollen, die ihrer Natur oder Ursache nach nicht Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit des betreffenden Luftfahrtunternehmens und von ihm nicht tatsächlich beherrschbar sind, wird nunmehr in Abkehr von der o.g. Entscheidung des BGH vertreten, dass keine außergewöhnlichen Umstände vorliegen. Exemplarisch sei hier auf einen zusammenfassenden Hinweis des LG Nürnberg-Fürth vom 02.03.2020 (Az. 16 S 1060/20) verwiesen, der als Anlage beigefügt wird. Das Landgericht schließt sich dabei ebenfalls der wohl überwiegenden Rechtsprechung an.
In der Rechtsprechung ist aber derzeit ungeklärt, ob der Europäische Gerichtshof einen gewerkschaftlichen Streik ebenso wie den „wilden Streik“ oder anders beurteilt, da dieser im Gegensatz zum „wilden Streik“ durch europäisches Recht sowie durch Art. 12 Abs. 1 und Art. 28 der Grundrechtecharta geschützt ist, und dass sich daher eine dahingehende Auslegung der Entscheidung vom 17.04.2018 (C-195/17) verbietet, dass von ihr auch der gewerkschaftlich organisierte Streik erfasst sei. Auch das in Art. 6 Abs. 4 der Europäischen Sozialcharta gewährleistete Streikrecht steht ausweislich seines Einleitungssatzes sowie des Programmsatzes in Teil I Nr. 6 im Dienst des Rechts auf – koordinierte – Kollektivverhandlungen. Es wird nämlich ausdrücklich anerkannt, „um die wirksame Ausübung des Rechtes auf Kollektivverhandlungen zu gewährleisten“. Der Europäische Gerichtshof könnte daher davon ausgehen, dass eine Übertragung seiner Rechtsprechung auf gewerkschaftlich organisierte Streiks einen Verstoß gegen europäisches Recht bedeuten würde, was sich ggf. bereits aus Erwägungsgrund 14 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 ableiten lassen könnte, der Streik im Allgemeinen als „außergewöhnlichen Umstand“ bezeichnet, aber vor allem darin bestünde, dass – jedenfalls im Ergebnis – in die unionsrechtlich geschützte Koalitionsfreiheit des Luftfahrtunternehmens eingegriffen würde.
Es ließe sich aber auch eine differenzeierte Auffassung vertreten, wonach darauf abzustellen ist, aus welchem Grund der Streik durchgeführt wurde. So ließe sich die Auffassung vertreten, dass danach zu differenzieren sei, ob mit dem Streik Maßnahmen des Luftfahrtunternehmens abgewehrt werden sollen, die eine Verschlechterung der bestehenden arbeitsrechtlichen und -vertraglichen Situation darstellen. Dann wäre der Streik durch ein (unternehmerisches) Verhalten des Luftfahrtunternehmens veranlasst geworden und damit „beherrschbar“. Würde dagegen die Gewerkschaft ein „Mehr“ gegenüber den bisherigen Bedingungen fordern und damit ohne eine konkrete Veranlassung durch das Luftfahrtunternehmen zum Streik aufrufen, wäre die Annahme eines außergewöhnlichen Umstandes denkbar.Exemplarisch wird hier auf einen Beschluss des AG Nürnberg vom 29.11.2019, Az.: 240 C 6688/19, in dem außerdem auch die aktuelle Rechtsprechung zusammenfassend dargestellt wird.
Verfahrensstand
Der Ausgang des Rechtsstreits hängt von der Beantwortung der Vorlagefrage ab: Der Rechtstreit ist im Übrigen auf tatsächlicher wie rechtlicher Ebene entscheidungsreif. Insbesondere muss über die konkreten Umstände des Streiks kein Beweis erhoben werden, da die Tatsachen ausdrücklich unstreitig gestellt wurden.
Aufgrund des geringen Streitwerts von € 500,00 sind nach § 511 ZPO ordentliche Rechtsmittel gegen das durch das vorlegende Gericht zu erlassende Urteil nicht gegeben.