Europarecht

Keine Entziehung vor der Überstellung wegen Schwangerschaft

Aktenzeichen  W 2 K 18.50431

Datum:
22.3.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 4441
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
Dublin III-VO Art. 12 Abs. 4, Art. 29 Abs. 2 S. 2 Alt. 2

 

Leitsatz

Eine Person kann im Sinne des Art. 29 Abs. 2 S. 2 Alt. 2 Dublin III-VO nur dann flüchtig sein, wenn eine Überstellung auch tatsächlich möglich ist, da es ansonsten an einem zielgerichteten Entziehen vor der Überstellung fehlt. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Bescheid der Beklagten vom 3. September 2018 wird aufgehoben.
II. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe der festgesetzten Kosten abwenden, wenn nicht der Kläger zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Gemäß § 84 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann das Gericht ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid entscheiden, wenn die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist. Die Klägerin wurden dazu mit Schreiben vom 22. Januar 2019 gehört. Für die Beklagte war – aufgrund der allgemeinen Prozesserklärung vom 27. Juni 2017 – eine Anhörung entbehrlich.
Die gem. § 88 VwGO sachdienlich als Anfechtung auszulegende Klage ist zum gem. § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung zulässig und auch begründet.
Die der Klägerin gegenüber ergangene sog. Dublin-Entscheidung ist zum jetzigen Zeitpunkt rechtwidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
Zwar war Frankreich gemäß Art. 12 Abs. 4 Uabs. 1 Dublin III-VO ursprünglich für die Bearbeitung des Asylantrages zuständig. Jedoch ist die Zuständigkeit infolge des Ablaufens der Überstellungsfrist gem. Art. 29 Abs. 2 Satz Dublin III-VO am 29. Februar 2019 auf die Beklagte übergegangen. Denn die Voraussetzungen für die von der Beklagten vorgenommenen Verlängerung der Überstellungsfrist lagen nicht vor. Die Klägerin war nicht flüchtig i.S.v. Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 Dublin III-VO. Nach der neueren Rechtsprechung des EuGH im Urteil v. 19.3.2019 in der Rechtssache Jawo, C-163/17 ist ein Antragsteller „flüchtig“, wenn er sich den für die Durchführung seiner Überstellung zuständigen nationalen Behörden gezielt entzieht, um die Überstellung zu vereiteln. Dies kann angenommen werden, wenn die Überstellung nicht durchgeführt werden kann, weil der Antragsteller die ihm zugewiesene Wohnung verlassen hat, ohne die zuständigen nationalen Behörden über seine Abwesenheit zu informieren, sofern er über die ihm insoweit obliegenden Pflichten unterrichtet wurde, was das vorlegende Gericht zu prüfen hat. Der Antragsteller behält die Möglichkeit, nachzuweisen, dass er diesen Behörden seine Abwesenheit aus stichhaltigen Gründen nicht mitgeteilt hat, und nicht in der Absicht, sich den Behörden zu entziehen. Für den vorliegenden Fall mangelt es für ein „Flüchtigsein“ der Klägerin bereits daran, dass eine Überstellung zum Zeitpunkt ihres „Untertauchens“ vom 5. November 2018 bis zum 19. Dezember 2019 rechtlich aufgrund des zu ihren Gunsten wirkenden Mutterschutzes (errechneter Entbindungstermin: 23.11.2018) rechtlich in diesem Zeitraum gar nicht möglich gewesen wäre, so dass eine Überstellung objektiv gar nicht vereitelt worden sein kann, ohne dass es auf eine Verletzung ihrer Aufenthalts- bzw. Mitteilungspflicht oder den subjektiven Grund ihres Verlassens der Unterkunft ankäme. Lediglich ergänzend sei angemerkt, dass der Vortrag der Klägerin angesichts der am 5. November 2018 bereits sehr weit fortgeschrittenen Schwangerschaft und des bestehendes Kontaktes zum Kindsvater plausibel ist, sie habe für die Geburt beim Kindsvater sein wollen. Insbesondere im Hinblick auf die rechtliche Beratung der Klägerin erscheint es eher fernliegend, dass sie irrig davon ausgegangen sein sollte, dass zu diesem Zeitpunkt mit einer Überstellung zu rechnen gewesen wäre. Mithin kann ihr auch nicht ohne weiteres ein solches Motiv unterstellt werden.
Da die Zuständigkeit gem. Art. 29 Abs. 1 Satz 1 Dublin III-VO aufgrund des Ablaufes der ursprünglichen Überstellungsfrist auf die Beklagte übergegangen ist, hat sie das Asylverfahren der Klägerin im nationalen Verfahren weiter zu betreiben.
Der Bescheid war mit der Kostenfolge des § 154 VwGO insgesamt aufzuheben. Gerichtskosten werden nicht erhoben, § 83b AsylG.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11 und 711 ZPO.


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