Verwaltungsrecht

Anspruch eines Reservisten auf Flüchtlingsanerkennung (Syrien)

Aktenzeichen  AN 15 K 16.31371

Datum:
2.5.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Ansbach
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG AsylG § 3 Abs. 1, § 28

 

Leitsatz

1 In Syrien besteht allgemeine Wehrpflicht von 18 bis 42 Jahren. Die Pflicht entfällt nur nach der Ein-Sohn-Regelung, wonach der einzige Sohn einer Familie nicht wehrpflichtig ist. (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)
2 Hat sich der Asylbewerber durch Auslandsaufenthalt dem Wehrdienst entzogen, ist es beachtlich wahrscheinlich, dass ihm bei seiner Rückkehr nach Syrien regimefeindliche Haltung unterstellt wird und ihm menschenrechtswidrige Behandlung droht, die an flüchtlingsrelevante Persönlichkeitsmerkmale anknüpft. (Rn. 22 – 23) (redaktioneller Leitsatz)
3 Auch wenn in Syrien bereits Wehrdienst geleistet wurde, werden männliche Staatsangehörige im von der syrischen Regierung kontrollierten Gebiet bis zum Alter von 42 erneut eingezogen. Bis zu diesem Alter ist ihnen die Ausreise untersagt. (Rn. 23) (redaktioneller Leitsatz)
4 Allein die Asylantragstellung rechtfertigt nicht die Furcht, von syrischen staatlichen Stellen als Oppositioneller betrachtet und verfolgt zu werden. (Rn. 21) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

1. Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG zuzuerkennen. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 05. September 2016 wird in der Ziffer 2 aufgehoben, soweit er dem entgegensteht.
2. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
3. Das Urteil ist hinsichtlich der Kostenentscheidung vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die zulässige Klage, über die aufgrund der Verzichtserklärungen der Beteiligten gemäß § 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung entschieden werden konnte, ist begründet. Die Beklagte hat mit den allgemeinen Prozesserklärungen vom 25. Februar 2016 und 24. März 2016 (Az. 414 – 7604/1.16 und 234 – 7604/2.16) und der Kläger mit Schriftsatz seiner Bevollmächtigten vom 23. September 2016 auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.
Streitgegenstand ist vorliegend die Ziffer 2) des streitgegenständlichen Bescheids des Bundesamtes vom 5. September 2016 und somit die Frage, ob der Kläger einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG besitzt.
Der streitgegenständliche Bescheid ist insoweit rechtwidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO), da dem Kläger im nach § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG zusteht.
Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Ein Ausländer ist nach § 3 Abs. 1 AsylG Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl, 1953 II S. 559, 560-Genfer Flüchtlingskonvention), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischer Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb seines Herkunftslandes befindet. Eine Verfolgung kann dabei gemäß § 3c AsylG ausgehen von einem Staat, Parteien oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebietes beherrschen oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die zuvor genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor der Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht. Weiter darf für den Ausländer keine innerstaatliche Fluchtalternative bestehen, § 3e AsylG. Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d.h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen (vgl. BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23/12 – juris).
Dieser Wahrscheinlichkeitsmaßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (BVerwG, U.v. 20.2.2013, a.a.O. und v. 5.11.1991 – 9 C 118.90, BVerwGE 89, 162).
Wer bereits Verfolgung bzw. einen ernsthaften Schaden erlitten hat, für den besteht die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden (Art. 4 Abs. 4 Qualifikationsrichtlinie). Diese Vermutung kann aber wiederlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung bzw. des Eintritts eines solchen Schadens entkräften (BVerwG, U.v. 27.4.2010 – 10 C 5/09 – juris).
Die begründete Furcht vor Verfolgung kann gemäß § 28 Abs. 1a AsylG auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat, insbesondere auch auf ein Verhalten, das Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung ist. Dabei greift für derartige Nachfluchttatbestände in einem Erstverfahren die Einschränkung des § 28 Abs. 2 AsylG nicht, wonach bei einem Folgeantrag Nachfluchtgründe in der Regel die Flüchtlingseigenschaft nicht begründen können.
Das Gericht muss die volle Überzeugung von der Wahrheit des vom Asylsuchenden behaupteten individuellen Schicksals und hinsichtlich der zu treffenden Prognose, dass dieses die Gefahr politischer Verfolgung begründet, erlangen. Angesichts des sachtypischen Beweisnotstandes, in dem sich Asylsuchende insbesondere hinsichtlich asylbegründender Vorgänge im Verfolgerland befinden, kommt dabei dem persönlichen Vorbringen des Asylsuchenden und dessen Würdigung für die Überzeugungsbildung eine gesteigerte Bedeutung zu (BVerwG, U.v. 16.4.1985, Buchholz 402.25 § 1 AsylG Nr. 32). Demgemäß setzt ein Asylanspruch bzw. die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft gem. § 3 AsylG voraus, dass der Asylsuchende den Sachverhalt, der seine Verfolgungsfurcht begründen soll, schlüssig darlegt. Dabei obliegt es ihm, unter genauer Angabe von Einzelheiten und gegebenenfalls unter Ausräumung von Widersprüchen und Unstimmigkeiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, der geeignet ist, das Asylbegehren lückenlos zu tragen (BVerwG, U.v. 8.5.1984, Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 147).
An der Glaubhaftmachung von Verfolgungsgründen fehlt es in der Regel, wenn der Asylsuchende im Laufe des Verfahrens unterschiedliche Angaben macht und sein Vorbringen nicht auflösbare Widersprüche enthält, wenn seine Darstellung nach der Lebenserfahrung oder aufgrund der Kenntnis entsprechender vergleichbarer Geschehensabläufe unglaubhaft erscheint, sowie auch dann, wenn er sein Asylvorbringen im Laufe des Asylverfahrens steigert, insbesondere wenn er Tatsachen, die er für sein Asylbegehren als maßgeblich bezeichnet, ohne vernünftige Erklärung erst sehr spät in das Verfahren einführt (vgl. BVerfG, B.v. 29.11.1990, die InfAuslR 1991, 94, 95; BVerwG, U.v. 30.10.1990, Buchholz 402.25 § 1 AsylG Nr. 134; B.v. 21.7.1989, Buchholz a.a.O., Nr. 113).
In Anwendung dieser Grundsätze droht dem Kläger bei einer Rückkehr nach Syrien nach Überzeugung des Gerichts mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung.
Zwar ist der Kläger nicht vorverfolgt aus Syrien ausgereist. Umstände, aus denen sich eine bereits erlittene oder im Zeitpunkt der Ausreise unmittelbar drohende Verfolgung durch den syrischen Staat oder sonstige Akteure im Sinne des § 3c Nr. 2 und 3 AsylG ergeben könnten, hat der Kläger nicht substantiiert geltend gemacht.
Eine begründete Flucht vor Verfolgung ergibt sich aber aus den Ereignissen, die eingetreten sind, nachdem der Kläger Syrien verlassen hat. Mithin liegen Nachfluchtgründe im Sinne des § 28 Abs. 1a AsylG vor.
Es ergeben sich derartige Nachfluchtgründe nicht aus dem Umstand, dass der aus Syrien ausgereiste Kläger in der Bundesrepublik Deutschland Asyl beantragt und sich seitdem hier aufgehalten hat. Diese Umstände allein rechtfertigen nicht die begründete Furcht, dass syrische staatliche Stellen den Kläger bei einer Rückkehr nach Syrien als Oppositionellen betrachten und ihn deshalb wegen einer ihm unterstellten politischen Überzeugung verfolgen. Das erkennende Gericht schließt sich in diesem Zusammenhang den Entscheidungen des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 12. Dezember 2016 (Az. 21 B 16.30338, 21 B 16. 30364 und 21 B 16.30371 – juris) an, der nach Auswertung der maßgeblichen und auch in das vorliegende Verfahren eingeführten Erkenntnisquellen zu diesem Ergebnis kommt.
Eine begründete Furcht vor Verfolgung besteht aber deshalb, weil sich der Kläger durch seinen Auslandsaufenthalt dem Militärdienst entzogen hat. Als 35-Jähriger ist der Kläger grundsätzlich in Syrien wehrpflichtig, da dort eine allgemeine Wehrpflicht ab 18 Jahren bis 42 Jahren besteht (vgl. Einwanderung-und Flüchtlingsbehörde von Kanada – Antwort auf Informationsanfragen v. 13. August 2014, SYR104921.E, S. 5). Die Wehrpflicht des Klägers entfällt auch nicht vor dem Hintergrund der sogenannten „Ein-Sohn-Regelung“, wonach der einzige Söhne einer Familie nicht wehrpflichtig ist (vgl. BayVGH, U.v. 12.12.2016 – 21 21 B 16.30371 – juris), da der Kläger vor dem Bundesamt im Zuge seiner Anhörung glaubwürdig angegeben hat, noch einen Bruder zu besitzen. Vor diesem Hintergrund ist es nach Auffassung des Gerichts beachtlich wahrscheinlich, dass dem Kläger bei einer Einreise über den Flughafen Damaskus oder eine andere staatliche Kontrollstelle menschenrechtswidrige Maßnahmen drohen, insbesondere Folter als schwerwiegende Verletzung eines notstandsfesten grundlegenden Menschenrechts (§ 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG, Art. 15 Abs. 2 EMRK, Art. 3 EMRK). Aufgrund des Umstands, dass die syrischen Machthaber um des Erhalts ihrer infolge des syrischen Bürgerkriegs bedrohten Herrschaft willen mit äußerster Härte gegen tatsächliche und vermeintliche Oppositionelle vorgehen, ist beachtlich wahrscheinlich, dass die syrischen Sicherheitsbehörden den Kläger, der sich durch seinen Auslandsaufenthalt dem Wehrdienst entzogen hat, bei Rückkehr in Anknüpfung an flüchtlingsrelevante Persönlichkeitsmerkmale, nämlich eine ihm wegen Verweigerung des Militärdienstes unterstellte regimefeindliche Gesinnung als Oppositionellen behandeln (vgl. zu alldem BayVGH, U.v. 12.12.2016 – 21 B 16.30372 – juris – und den darin ausgewerteten und zum Gegenstand des vorliegenden Verfahrens gemachten Erkenntnisquellen).
Der Kläger gehört auch zu der Personengruppe der militärdienstpflichtigen Personen (Wehrpflichtige, Reservisten), die sich im Bürgerkrieg nicht den Regierungstruppen des Präsidenten Assad zur Verfügung gestellt haben. Nach den Erkenntnissen des Orient-Instituts habe die syrische Regierung im März 2012 beschlossen, die Ausreise für alle männlichen Staatsangehörigen im Alter von 18 bis 42 Jahren zu untersagen bzw. nur nach einer zuvor erteilten Genehmigung zu gestatten, auch wenn diese bereits den Wehrdienst abgeleistet hätten. Männliche syrische Staatsangehörige sähen sich nach einer Wiedereinreise nach Syrien in das durch die syrische Regierung kontrollierte Gebiet, wenn sie älter als 18 Jahre seien, der Berufung in den Wehrdienst gegenüber. Für den Fall, dass der Wehrdienst vor der Ausreise nicht abgeleistet worden sei, könne dies von der syrischen Regierung verlangt werden. Auch wenn der Wehrdienst bereits in Syrien verrichtet worden sei, würden männliche Staatsangehörige bis zu einem Alter von 42 Jahren erneut eingezogen werden (Deutsches Orient-Institut an das Schleswig-Holsteinische OVG undatiert).
Nach alledem ist der Klage stattzugeben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.
Die Entscheidung über die Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung ergibt sich aus § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11 ZPO, § 711 ZPO.


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