Aktenzeichen M 23 S 16.33585
AsylG AsylG § 71a
Leitsatz
1 Das Vorliegen eines Zweitantrags nach § 71a AsylG setzt den erfolglosen Abschluss eines Asylverfahrens in einem sicheren Drittstaat voraus (vgl. VGH München BeckRS 2016, 41335), wobei der vorangegangene negative Ausgang dieses Asylverfahrens durch rechtskräftige Sachentscheidung festgestellt werden und feststehen muss. Dies erfordert, dass das Bundesamt Kenntnis von der Entscheidung und den Entscheidungsgründen der Ablehnung des Antrags im anderen Mitgliedsstaat haben muss (vgl. VG Schleswig BeckRS 2016, 52164). (red. LS Clemens Kurzidem)
2 Die fehlende Aufklärung, ob in Ungarn ein Asylverfahren mit inhaltlicher Prüfung und abschließender Sachentscheidung (vgl. VGH München BeckRS 2016, 41335) durchgeführt wurde, geht zulasten des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (vgl. VGH München BeckRS 2016, 55023). (red. LS Clemens Kurzidem)
Tenor
I.
Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers gegen die in Ziffer 3 des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 6. Oktober 2016 enthaltene Abschiebungsandrohung wird angeordnet.
II.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Gründe
I.
Der Antragsteller begehrt einstweiligen Rechtsschutz gegen die vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) angedrohte Abschiebung nach Pakistan.
Der Antragsteller ist eigenen Angaben zufolge pakistanischer Staatsangehöriger, punjabischer Volkszugehörigkeit und sunnitischen Glaubens. Er reiste nach eigenen Angaben am 7. September 2015 auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 28. Juni 2016 bei dem Bundesamt einen Asylantrag.
Bei seiner Anhörung durch das Bundesamt am 28. Juni 2016 zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats gab der Antragsteller an, dass ihm in Ungarn Fingerabdrücke abgenommen worden seien; einen Asylantrag habe er dort nicht gestellt. Am 28. September 2016 erfolgte die Anhörung des Antragstellers gemäß § 25 AsylG. Hinsichtlich der Angaben des Antragstellers wird auf die Niederschrift zur Anhörung verwiesen.
In der vorgelegten Behördenakte befindet sich der Nachweis über einen Eurodac-Treffer für Ungarn der Kategorie 1.
Mit streitgegenständlichem Bescheid vom 6. Oktober 2016, zugestellt laut Akte wohl am 15. Oktober 2016, lehnte das Bundesamt den Asylantrag des Antragstellers als unzulässig ab (Ziff. 1 des Bescheids) und stellte fest, dass Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG nicht vorliegen (Ziff. 2 des Bescheids). Der Antragsteller wurde unter Androhung der Abschiebung nach Pakistan aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen (Ziff. 3 des Bescheids). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf 36 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Ziff. 4 des Bescheids).
Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass es sich bei dem Antrag des Antragstellers um einen Zweitantrag nach § 71a AsylG handle. Der Antragsteller habe in Ungarn einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt. Er habe nicht konkret dargelegt, wie dieses Asylverfahren ausgegangen sei. Sofern das Verfahren im Mitgliedstaat noch offen sei oder keine Erkenntnisse über den Verfahrensstand vorlägen, sei von einer sonstigen Erledigung ohne Schutzgewährung auszugehen. Wiederaufgreifensgründe lägen nicht vor. Es habe sich weder die Sach-, noch die Rechtslage geändert. Auch konkrete individuelle Gefahren im Sinne des § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG seien in Bezug auf das Heimatland nicht vorgetragen oder ersichtlich. Ergänzend wird auf die Begründung im Bescheid verwiesen.
Die Bevollmächtigten des Antragstellers erhoben mit Schriftsatz vom 13. Oktober 2016, eingegangen am 14. Oktober 2016, Klage und beantragten den Bescheid aufzuheben und die Antragsgegnerin zu verpflichten, dem Antragsteller die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, hilfsweise subsidiären Schutz zu gewähren, weiter hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegen (Verfahren M 23 K …).
Zudem beantragte sie,
die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen.
Zur Begründung wurde insbesondere ausgeführt, dass in Ungarn systematische Mängel vorlägen.
Am 19. Oktober 2016 legte das Bundesamt die Behördenakten elektronisch vor; eine Antragstellung unterblieb.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte, die Gerichtsakte im Hauptsacheverfahren (M 23 K …) sowie auf die Behördenakte Bezug genommen.
II.
Der zulässige Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage hat Erfolg.
Der Antrag ist zulässig, soweit damit die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die kraft Gesetzes (§ 80 Abs. 2 Nr. 3 VwGO, § 75 i. V. m. §§ 71a Abs. 4, 36 AsylG) sofort vollziehbare Abschiebungsandrohung in Nr. 3 des streitgegenständlichen Bescheids erreicht werden soll. Die Antragstellung erfolgte auch fristgerechnet innerhalb der Wochenfrist des § 71a Abs. 4 i. V. m. § 36 Abs. 3 Satz 1 AsylG.
Der Antrag ist auch begründet.
Gemäß §§ 71a Abs. 4 i. V. m. 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG darf die Aussetzung der Abschiebung im Falle eines Zweitantrages, in dem ein weiteres Asylverfahren nicht durchgeführt wird, nur angeordnet werden, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts bestehen. Ernstliche Zweifel in diesem Sinne liegen dann vor, wenn erhebliche Gründe dafür sprechen, dass die Maßnahme einer rechtlichen Prüfung wahrscheinlich nicht standhält (vgl. BVerfG, Urt. v. 14.5.1996 – 2 BvR 1615/93 – juris Rn. 99). Dies ist hier im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Hs. 2 AsylG) der Fall.
Es bestehen ernstliche Zweifel, ob die von der Antragsgegnerin gewählte Vorgehensweise, den von dem Antragsteller im Bundesgebiet gestellten Antrag als unzulässigen Zweitantrag zu bewerten, rechtmäßig ist.
Nach § 71a Abs. 1 AsylG ist dann, wenn ein Ausländer nach erfolglosem Abschluss eines Asylverfahrens in einem sicheren Drittstaat (§ 26a AsylG), für den Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft über die Zuständigkeit für die Durchführung von Asylverfahren gelten oder mit dem die Bundesrepublik Deutschland darüber einen völkerrechtlichen Vertrag geschlossen hat, im Bundesgebiet einen Asylantrag (Zweitantrag) stellt, ein weiteres Asylverfahren nur durchzuführen, wenn die Bundesrepublik Deutschland für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist und die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 des Verwaltungsverfahrensgesetzes vorliegen.
§ 71 AsylG setzt damit den erfolglosen Abschluss eines Asylverfahrens in einem sicheren Drittstaat voraus (vgl. BayVGH, U. v. 3.12.2015 – 13a B 15.50069 – juris Rn. 24ff – bestätigt durch BVerwG, U. v. 14.12.2016 – 1 C 4.16 – juris, Pressemitteilung des BVerwG Nr. 104/2016 v. 14.12.2016). Hierbei muss – entgegen der im streitgegenständlichen Bescheid ersichtlichen Auffassung der Antragsgegnerin – der vorangegangene negative Ausgang eines Asylverfahrens in einem Mitgliedstaat durch rechtskräftige Sachentscheidung festgestellt werden und feststehen; bloße Mutmaßungen genügen nicht (Bruns in Hofmann, Ausländerrecht, 2. Auflage 2016, § 71a AsylG, Rn. 3 und 9 m. w. N.). Dies bedeutet, dass das Bundesamt zu der gesicherten Erkenntnis gelangen muss, dass das Asylerstverfahren mit einer für den Asylbewerber negativen Sachentscheidung abgeschlossen wurde, um sich in der Folge auf die Prüfung von Wiederaufnahmegründen beschränken zu dürfen. Eine solche Prüfung beinhaltet unter anderem, dass das Bundesamt Kenntnis von der Entscheidung und den Entscheidungsgründen der Ablehnung des Antrags im anderen Mitgliedsstaat hat (vgl. VG Regensburg, B. v.12.10.2016 – RN 7 S 16.32477 – unveröffentlicht; VG Schleswig-Holstein, B. v. 7.9.2016 – 1 B 54/16 – juris Rn. 7 ff; VG Schwerin, U. v. 8.7.2016 – 15 A 190/15 – juris Rn. 18; VG Wiesbaden, B. v. 20.6.2016 – 5 L 511/16.WI.A – juris Rn. 20, BeckOK AuslR/Schönenbroicher, AsylG, § 71a Rn. 1f).
Der Antragsteller bestreitet eine Asylantragstellung in einem Drittstaat. In den vorgelegten Behördenakten ist zwar ein Eurodac-Treffer der Kategorie 1 dokumentiert, offen bleibt jedoch, ob in Ungarn ein Asylverfahren mit inhaltlicher Prüfung und abschließender Sachentscheidung (vgl. BayVGH, U. v. 3.12.2015 – 13a B 15.50069 – juris) durchgeführt wurde. Die fehlende Aufklärung geht zulasten der Antragsgegnerin (vgl. BayVGH, U. v. 13.10.2016 – 20 B 14.30212 – juris Rn. 41). Die Antragsgegnerin ist ihrer Amtsermittlungspflicht nicht nachgekommen. Der Vorhalt der Antragsgegnerin, dass der Antragsteller seinen Asylantrag in Ungarn nicht erwähnt und dazu nichts vorgetragen habe, verkehrt diese Aufklärungspflichten; darüber hinaus ist der Antragsteller in der Regel nicht in der Lage über den Verfahrensablauf ausreichend Auskunft geben zu können (vgl. vgl. BayVGH, U. v. 3.12.2015 – 13a B 15.50069 – juris Rn. 22).
Ein erfolgloser Abschluss des Asylverfahrens in einem sicheren Drittstaat ist somit nicht nachgewiesen, so dass ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des streitgegenständlichen Bescheids bestehen. Darüber hinaus bestehen erhebliche Bedenken, ob das Asylverfahren in Ungarn nicht systemische Mängel aufweist (vgl. OVG Lüneburg, U. v. 15.11.16 – 8 LB 92/15 – juris), die eine Berufung auf ein dortiges Asylverfahren bereits aus diesem Grund ausschließen.
Dem Antrag war daher unter der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).