Aktenzeichen Au 5 K 18.30993
Leitsatz
Eine alleinstehende, geschiedene Christin kann im Irak voraussichtlich nicht auf die Solidarität der überwiegend islamisch geprägten Gesellschaft hoffen. (Rn. 30) (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I. Soweit die Klägerin die Klage zurückgenommen hat, wird das Verfahren eingestellt.
II. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge wird in den Nrn. 3 bis 5 aufgehoben und die Beklagte verpflichtet, festzustellen, dass bei der Klägerin die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich des Irak vorliegen.
III. Von den Kosten des Verfahrens tragen die Klägerin 2/3 und die Beklagte 1/3. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Gründe
Der Einzelrichter (§ 76 Abs. 1 AsylG) konnte über die Klage der Klägerin ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung entscheiden, da sich die Beteiligten übereinstimmend mit einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren einverstanden erklärt haben (§ 101 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO).
Der Entscheidung ist dabei die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Entscheidung im schriftlichen Verfahren zu Grunde zu legen, § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 AsylG.
1. Soweit die Klage mit Schriftsatz vom 13. Juli 2018 teilweise zurückgenommen wurde, war das Verfahren nach § 92 Abs. 3 VwGO einzustellen. Nach teilweiser Klagerücknahme verbliebener Gegenstand des Verfahrens ist damit nur mehr der Anspruch der Klägerin auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 bis Abs. 7 Satz 1 AufenthG.
2. Soweit die Klägerin ihre Klage im Schriftsatz vom 13. Juli 2018 noch aufrechterhalten hat, ist sie zulässig und begründet.
Der Bescheid des Bundesamtes vom 17. Mai 2018 ist nach der maßgeblichen Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung in Nrn. 3 bis 5 insoweit rechtswidrig und verletzt die Klägerin daher in ihren Rechten, als diese einen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich des Irak hat, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO.
Ob daneben auch die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erfüllt sind, bedarf keiner Prüfung, da es sich beim national begründeten Abschiebungsverbot um einen einheitlichen und nicht weiter teilbaren Verfahrensgegenstand handelt (BVerwG, U.v. 8.9.2011 – 10 C 14/10 – BVerwGE 140, 319 Rn. 16 f.).
a) Gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Nach Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden. Die im Fall der Klägerin zu erwartenden schlechten allgemeinen Lebensbedingungen und die daraus resultierenden Gefährdungen weisen vorliegend eine Intensität auf, dass auch ohne konkret drohende Maßnahmen von einer unmenschlichen Behandlung auszugehen ist.
Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK setzt voraus, dass der Betroffene im Falle einer Rückkehr einer besonderen Ausnahmesituation ausgesetzt wäre. Dies ist insbesondere auch dann der Fall, wenn es dem Betroffenen nicht (mehr) gelingen würde, seine elementaren Bedürfnisse, wie Nahrung, Hygiene und Unterkunft, zu befriedigen (vgl. BayVGH, U.v. 21.11.2014 – 13a B 30285/14 – InfAuslR 2015, 212 = juris Rn. 17 ff.).
b) Gemessen hieran liegen diese besonders strengen Voraussetzungen vor. Die Klägerin würde im Falle einer Rückkehr bzw. Abschiebung in den Irak einer besonderen Ausnahmesituation ausgesetzt sein, die mit hoher Wahrscheinlichkeit dazu führen würde, dass ihre elementarsten Bedürfnisse im Sinne eines absoluten Existenzminimums nicht mehr gesichert wären. Damit ist von einer unmenschlichen Behandlung auszugehen (VG München, U.v. 22.9.2016 – M 24 K 16.31812 – juris).
Ob die Voraussetzungen für die Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG vorliegen, ist eine Frage der konkreten Umstände, in denen sich der Asylbewerber befindet. Dabei ist vorliegend zum einen zu berücksichtigen, dass es sich bei der Klägerin um eine alleinstehende, geschiedene Frau handelt. Nach ihrem glaubwürdigen Vorbringen im Verfahren befinden sich mittlerweile keine Familienangehörigen mehr im Irak. Auch die vormals angemietete Wohnung in … wurde aufgegeben. Ein Teil ihrer Geschwister lebt in den USA und Kanada, die weiteren Geschwister in Deutschland. Die Klägerin hat den Irak im Dezember 2016 gemeinsam mit ihren zuletzt noch dort lebenden beiden Schwestern verlassen. Darüber hinaus verfügt die Klägerin nach ihrem glaubwürdigen Vorbringen über keine berufliche Ausbildung. Zuletzt hat sie in … als ungelernte Zahnarzthelferin gearbeitet. Darüber hinaus hat sie auf die fortwährende Unterstützung seitens der christlichen Kirche und der … in … verwiesen. Dies aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Verhältnisse der Familie im Irak. Die Eltern der Klägerin sind vorverstorben. Im Jahr 2006 fiel mit dem Tod des Bruders der Klägerin auch noch dessen Versorgungsbeitrag für die Familie weg. Die geschiedene Klägerin, die stets auf den Rückhalt ihrer Familie angewiesen war, ist es weder gewohnt, selbstständig zu leben, noch sich in nennenswertem Umfang um ihren Lebensunterhalt zu kümmern. Bei einer Rückkehr in ihre vormals bewohnte Heimatregion (…) wäre die Klägerin vollständig auf sich allein gestellt. Einer erneuten Aufnahme einer beruflichen Tätigkeit als ungelernte Kraft stehen überdies die multiplen gesundheitlichen Einschränkungen der Klägerin entgegen. Derzeit erhält die Klägerin auf Grund ihrer orthopädischen Probleme einen Kniegelenksersatz am linken Knie. Darüber hinaus besteht bei der Klägerin eine Diabetes. Im Hinblick auf das Alter der Klägerin, ihre fehlenden beruflichen Qualifikationen und ihre gesundheitlichen Einschränkungen ist nach Auffassung des Gerichts nicht zu erwarten, dass die Klägerin bei einer Rückkehr in den Irak (…) in der Lage wäre, ihr Existenzminimum auch nur im Ansatz ohne fremde Hilfe sicherzustellen. Die Klägerin wäre, zumal sich ihre übrigen Familienangehörigen dauerhaft im Ausland bzw. in Deutschland aufhalten, zwingend auf die Unterstützung Dritter angewiesen. Nachdem sich keine Familienmitglieder mehr in … befinden, könnte die Klägerin allenfalls Unterstützung durch kirchliche Einrichtungen erhoffen.
Ob die christliche Gemeinde in … oder die … jedoch nach wie vor in der Lage sind, Bedürftige Gemeindemitglieder zu unterstützen und ob der Klägerin ausreichend Hilfe zu teil würde, um wenigstens das Existenzminimum zu sichern, ist nicht ausreichend sichergestellt. Ansprüche kann die Klägerin insoweit nicht geltend machen. Auch verfügt sie im Fall einer Rückkehr nicht mehr über eine Unterkunft. Des Weiteren ist zu berücksichtigen, dass es der Klägerin nach Auffassung des Gerichts auch wegen ihres christlichen Glaubens in … nicht ohne weiteres möglich sein wird, ihren Lebensunterhalt mit Hilfe der Unterstützung staatlicher Stellen zu sichern. Als Angehörige der christlichen Minderheit und zudem als alleinstehende, geschiedene Frau kann sie insoweit voraussichtlich nicht auf die Solidarität der überwiegend islamisch geprägten Gesellschaft hoffen.
Vor diesem Hintergrund ergibt sich wegen der individuellen Situation der Klägerin nach der Überzeugung des Gerichts vorliegend eine existenzielle Gefahr bei einer Abschiebung nach …. Die Klägerin wird voraussichtlich nicht in der Lage sein, sich bei einer Abschiebung in den Irak eine Existenzgrundlage zu schaffen und deshalb in eine existentielle Notlage geraten.
4. Nachdem bei der Klägerin ein nationales Abschiebungsverbot vorliegt, waren auch die Abschiebungsandrohung (Ziffer 4 des Bescheids) und das auf 30 Monate festgesetzte Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 AufenthG (Ziffer 5 des Bescheids) aufzuheben.
5. Die Kostenentscheidung in dem nach § 83b AsylG gerichtskostenfreien Verfahren beruht auf §§ 154 Abs. 1, 155 Abs. 2 VwGO, wobei das Gericht zugrunde gelegt hat, dass die erklärte Klagerücknahme der Klägerin 2/3 des ursprünglichen Streitgegenstandes betrifft, während die Klägerin hinsichtlich der weiter aufrechterhaltenen Klage vollständig obsiegt.