Aktenzeichen M 11 S 18.30426
Leitsatz
1 Ein Untertauchen iSd § 33 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 AsylG setzt in objektiver Hinsicht einen Wohnungswechsel voraus. Hiervon kann bei einer bloßen Abwesenheit von ein paar Tagen, insbesondere über die Weihnachtsfeiertage, nicht ausgegangen werden. (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)
2 Erforderlich ist zudem das wissentliche Element, dass der Asylbewerber sich verbirgt, er also jedenfalls die Gewissheit hat, aufgrund seiner Abwesenheit für die staatlichen Behörden nicht mehr auffindbar zu sein. (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I. Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers gegen die Abschiebungsandrohung unter Nr. 3 des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 04.01.2018 (Az. …) wird angeordnet.
II. Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
Gründe
I.
Der Antragsteller, nach eigenen Angaben ein am … September 1997 geborener somalischer Staatsangehöriger, reiste ebenfalls nach eigenen Angaben am 20. September 2014 nach Deutschland ein und stellte beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) am 6. Mai 2015 einen Asylantrag.
Die persönliche Anhörung beim Bundesamt erfolgte am 26. Januar 2017.
Mit Schreiben vom 22. Dezember 2017 teilte die Unterkunftsleitung u.a. dem Bundesamt mit, dass der Kläger am 21. Dezember 2017 nach unbekannt verzogen sei.
Mit Bescheid vom 4. Januar 2018 stellte das Bundesamt unter der gleichzeitigen Feststellung, dass der Asylantrag als zurückgenommen gilt, das Asylverfahren ein (Nr. 1). Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG wurden verneint (Nr. 2). Der Antragsteller wurde unter Androhung der Abschiebung nach Somalia aufgefordert, Deutschland innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe des Bescheids zu verlassen (Nr. 3). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot des § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 4).
Das Bundesamt führte zur Begründung von Nr. 1 des Bescheids aus, dass der Antragsteller nach den Erkenntnissen des Bundesamts untergetaucht sei. Daher werde gemäß § 33 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylG vermutet, dass er das Verfahren nicht betreibe. Ein Nachweis, dass diese Handlung auf Umstände zurückzuführen gewesen sei, auf die der Antragsteller keinen Einfluss gehabt habe, sei bis zur Entscheidung nicht eingereicht worden. Im Übrigen wird auf den Bescheid und seine Begründung Bezug genommen.
Der Bescheid wurde am 5. Januar 2017 als Einschreiben zur Post gegeben.
Mit Schreiben vom 21. Januar 2018, bei Gericht eingegangen am 22. Januar 2018, erhob der Antragsteller Klage gegen den Bescheid und beantrage zudem sinngemäß,
die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers gegen die Abschiebungsandrohung unter Nr. 3 des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 04.01.2018 (Az. …) anzuordnen.
Zur Begründung wurde im Wesentlichen vorgebracht, der Antragsteller sei nicht untergetaucht. Er habe kurz vor Weihnachten mit einigen Kleidungsstücken die Unterkunft verlassen, um diese bei einer befreundeten Familie zu waschen und einer Einladung über die Weihnachtsfeiertage zu folgen. Er habe in der Unterkunft keine Wäsche mehr waschen gewollt, da ihm bereits mehrfach Kleidungsstücke gestohlen worden seien. Er habe sich beim Verlassen der Unterkunft bei seinen Zimmergenossen für ein paar Tage abgemeldet, um der Einladung über Weihnachten zu folgen. Möglicherweise sei dies missverstanden worden und es sei angenommen worden, dass er wegziehen wolle. Er wohne aber nach wie vor in besagter Unterkunft, seine Anschrift habe sich nicht geändert. Er halte sich hier auch regelmäßig auf. Deshalb habe er auch den streitgegenständlichen Bescheid am 8. Januar 2018 in der Unterkunft erhalten. Aufgrund des zuvor geschilderten Sachverhalts habe ihn ein Brief der Ausländerbehörde nicht erreicht, woraufhin er sofort als unbekannt verzogen gemeldet worden sei.
Das Bundesamt hat die elektronische Behördenakte vorgelegt, sich inhaltlich aber nicht geäußert.
Wegen der Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten des Eilverfahrens und des zugehörigen Klageverfahrens sowie auf die Behördenakte Bezug genommen.
II.
Der Antrag hat Erfolg.
1. Der Antrag ist zulässig.
a) Er ist statthaft, da die Klage nicht schon kraft Gesetzes nach § 75 Abs. 1 AsylG aufschiebende Wirkung hat. Die Entscheidung des Bundesamts unterfällt nicht § 38 Abs. 1 AsylG. Die vom Bundesamt angenommene – fiktive – Rücknahme des Asylantrags ist nach summarischer Prüfung als eine von § 38 Abs. 2 AsylG erfasste Fallgestaltung anzusehen.
b) Der Antrag unterliegt nicht der Wochenfrist des § 36 Abs. 3 Satz 1 AsylG, da es sich nicht um eine von § 36 Abs. 1 AsylG erfasste Fallgestaltung handelt. Im Übrigen enthält die dem Bescheid beigefügte Rechtsbehelfsbelehrung:keine Belehrung über den Lauf dieser Frist (vgl. § 36 Abs. 3 Satz 2 und 3 AsylG).
c) Dem Antrag fehlt auch nicht das Rechtsschutzbedürfnis. Zwar ergibt sich aus § 33 Abs. 5 Satz 2, 4, 5 und 6 AsylG, dass der Antragsteller beim Bundesamt die Wiederaufnahme des Verfahrens beantragen kann und das Bundesamt das Verfahren in dem Verfahrensabschnitt wieder aufnehmen muss, in dem die Prüfung eingestellt wurde. Das ändert aber nichts daran, dass der Antragsteller infolge des Bescheids vollziehbar ausreisepflichtig geworden ist und damit grundsätzlich mit aufenthaltsbeendenden Maßnahmen rechnen muss. Die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage verbessert insoweit die Rechtsposition des Antragstellers, so dass ein Rechtsschutzbedürfnis besteht.
2. Der Antrag ist begründet, weil der Bescheid aller Voraussicht nach rechtswidrig ist.
Nach § 80 Abs. 5 VwGO kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung der Klage im Fall des hier einschlägigen § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO ganz oder teilweise anordnen. Das Gericht trifft hierbei eine eigene Ermessensentscheidung. Es hat abzuwägen zwischen dem sich aus § 75 AsylG ergebenden öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung des Bescheids und dem privaten Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seines Rechtsbehelfs. Bei der Abwägung sind insbesondere die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens zu berücksichtigen. Ergibt die im Eilverfahren nur erforderliche und mögliche summarische Prüfung, dass die Klage voraussichtlich erfolglos sein wird, tritt das Interesse des Antragstellers, vom Vollzug des angefochtenen Verwaltungsakts zunächst verschont zu bleiben, zurück. Erweist sich umgekehrt der Bescheid nach vorläufiger Prüfung als rechtswidrig, wird das Gericht die aufschiebende Wirkung in der Regel anordnen, da kein öffentliches Interesse an der Vollziehung eines voraussichtlich rechtswidrigen Bescheids besteht. Ist der Ausgang des Verfahrens nicht absehbar, bleibt es bei der allgemeinen Interessenabwägung.
Gemessen an diesen Grundsätzen überwiegt vorliegend das private Interesse des Antragstellers an der Aussetzung der Vollziehung, da nach vorläufiger Prüfung davon auszugehen ist, dass die erhobene Anfechtungsklage erfolgreich sein wird. Denn der angefochtene Bescheid erweist sich bei summarischer Prüfung als rechtswidrig und verletzt den Antragsteller in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Die Voraussetzungen für den Erlass einer Abschiebungsandrohung nach § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AsylG (i.V.m. § 38 Abs. 2 AsylG) liegen nicht vor, da sich die Feststellung des Bundesamts, dass der Asylantrag als zurückgenommen gilt und das Asylverfahren eingestellt sei, als rechtswidrig erweist.
§§ 32 Satz 1, 33 Abs. 5 Satz 1 AsylG bestimmen, dass das Bundesamt im Falle der Rücknahme des Antrags feststellt, dass das Asylverfahren eingestellt ist und ob ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG vorliegt. Gemäß § 33 Abs. 1 AsylG gilt der Asylantrag als zurückgenommen, wenn der Ausländer das Verfahren nicht betreibt. Letzteres wird gemäß § 33 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylG vermutet, wenn der Ausländer untergetaucht ist.
Zum einen bestehen aufgrund des Vortrags des Antragstellers bereits erhebliche Zweifel daran, ob das Verhalten des Antragstellers überhaupt begrifflich unter den Tatbestand des Untertauchens subsumiert werden kann.
Untergetaucht im Sinne von § 33 Absatz 2 Satz 1 Nr. 2 AsylG ist der Ausländer, wenn er – so die Begründung zum Gesetzesentwurf – für die staatlichen Behörden nicht auffindbar ist (BT-Drs. 18/7538, 17). Untertauchen setzt begrifflich zwar an sich ein willentliches oder jedenfalls wissentliches Verbergen voraus, diese innere Intention ist aber gerade bei einem nicht auffindbaren Ausländer nicht feststellbar. Da der Ausländer darüber belehrt worden ist, dass er für die zuständigen Behörden erreichbar sein muss, darf das Gesetz davon ausgehen, dass eine Missachtung dieser Pflicht in vollem Bewusstsein geschieht. Dies muss genügen, um daran die Folgen des § 33 Absatz 1 AsylG zu knüpfen. Es obliegt dem Ausländer gem. § 33 Absatz 2 Satz 2 AsylG im Einzelfall nachzuweisen, dass die Unauffindbarkeit auf Umständen beruht, auf die er keinen Einfluss hatte. Da diese Umstände seiner Sphäre zuzuordnen sind, ist diese Verteilung der Darlegungs- und Nachweislasten auch angemessen (BeckOK AuslR/Heusch AsylG § 33 Rn. 21).
Zum einen setzt „Untertauchen“ aufgrund der oben genannten Definition rein objektiv einen Wohnungswechsel voraussetzt wovon bei einer bloßen Abwesenheit von ein paar Tagen, insbesondere über die Weihnachtsfeiertrage nicht ausgegangen werden kann. Zum anderen fehlt es, sofern das Vorbringen des Antragstellers zutrifft, an dem in jedem Fall geforderten wissentlichen Element, dass der Antragsteller sich verbirgt, also jedenfalls der Gewissheit seinerseits, dass er aufgrund der Abwesenheit für die staatlichen Behörden nicht mehr auffindbar ist. Bei Unterstellung seines Vortrags als wahr, ging der Antragsteller gerade nicht davon aus, dass er für die Behörden unauffindbar wird, da er nach den Weihnachtsfeiertagen in die Unterkunft zurückkehren wollte, in der er sich gewöhnlich aufhält.
Ein gewichtiger Umstand, der dafür spricht, dass es sich beim Vorbringen des Antragstellers um keine reine Schutzbehauptung handelt, ist der Umstand, dass ihn der streitgegenständliche Bescheid am 8. Januar 2018 in seiner Unterkunft, aus der er angeblich verzogen ist, erreicht hat, sodass er unter Wahrung der Rechtsmittelfrist von zwei Wochen gegen ihn vorgehen konnte.
Darüber hinaus erscheint es, selbst wenn man den vorliegenden Sachverhalt unter das Tatbestandsmerkmal „Untertauchen“ subsumiert, nicht von vorneherein als undenkbar, dass der Antragsteller die Vermutung gemäß § 33 Abs. 2 Satz 2 AsylG zu widerlegt hat.
Da demnach der Tatbestand des § 32 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylG bereits nicht gegeben ist, kommt es im Übrigen nicht mehr entscheidungserheblich darauf an, dass die Verfahrenseinstellung auf Grund fiktiver Antragsrücknahme auch deswegen rechtswidrig wäre, weil den Anforderungen an die Belehrung über die Rücknahmefiktion wegen Nichtbetreiben des Verfahrens gemäß § 33 Abs. 4 AsylG nicht genügt ist. Das gilt zumindest dann, wenn man der hierzu ergangenen Rechtsprechung folgt, welche die Anforderungen sehr hoch ansetzt, insbesondere den allgemeinen Hinweis auf die Möglichkeit einer Verfahrenseinstellung in der Belehrung für Erstantragsteller über Mitwirkungspflichten und Allgemeine Verfahrenshinweise nicht genügen lässt, ohne dass die Möglichkeit der unverzüglichen nachträglichen Widerlegung der Vermutung gemäß § 33 Abs. 2 Satz 2 AsylG erwähnt wird (vgl. z.B. VG München, B.v. 21.7.2017 – M 21 S 17.35568 – juris Rn. 26; B.v. 8.3.2017 – M 21 S 16.32737 – juris Rn. 24, beide m.w.N., u.a. auf Berlit, NVwZ – Extra 4/2017, S. 9). Hier findet sich in den vorgelegten Akten nur diese allgemeine Belehrung, aber keine spezielle mehr, so dass der Bescheid auch aus diesem Grund rechtswidrig wäre.
Nachdem sich die angefochtene Entscheidung über die Einstellung des Verfahrens nach summarischer Prüfung als offensichtlich rechtswidrig erweist, wird die aufschiebende Wirkung der Klage angeordnet.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).