Verwaltungsrecht

Rechtmäßige Abschiebung nach Marokko – Unterdrückung Pass

Aktenzeichen  3 XIV 67/16 (B)

Datum:
15.6.2016
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2016, 119562
Gerichtsart:
AG
Gerichtsort:
Mühldorf
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 2 Abs. 14, § 57 Abs. 1, § 60, § 62 Abs. 3, § 72 Abs. 4

 

Leitsatz

1 Die Annahme der Entziehungsabsicht iSv § 62 Abs. 3 Nr. 5 iVm. § 2 Abs. 14 AufenthG setzt konkrete Umstände, insbesondere Äußerungen oder Verhaltensweisen des Betroffenen voraus, die mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit darauf hindeuten oder es nahelegen, dass der Betroffene beabsichtigt unterzutauchen oder die Ab-/Zurückschiebung in einer Weise zu behindern, die nicht durch einfachen, keine Freiheitsentziehung bildenden Zwang überwunden werden kann. (redaktioneller Leitsatz)
2 Ein solcher Umstand liegt vor, wenn der Betroffene seinen Reisepass zur Vermeidung einer sofortigen Zurückschiebung bewusst zerrissen und somit seine Identität zu unterdrücken versucht hat. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

1. Gegen d. Betroff. wird die mit Beschluss des AG Laufen vom 19.12.2015 angeordnete Sicherungshaft verlängert, § 62 AufenthG.
2. Die Haft, die mit der Festnahme am 18.12.2015 begonnen hat, endet nunmehr spätestens am 01.07.2016.
3. Die sofortige Wirksamkeit der Entscheidung wird angeordnet.

Gründe

I.
1. D. Betroff. ist marokkanischer Staatsangehöriger.
D. Betroff. reiste am 03.12.2015 von Österreich kommend in die BRD ein, ohne im Besitz eines Reisepasses oder gültigen Aufenthaltstitels zu sein. Bereits am 11.12.2015 war er eingereist und an Österreich zurücküberstellt worden
2. Die beteiligte Ausländerbehörde beantragte am 19.12.2016, gegen d. Betroff. gemäß §§ 57 Abs. 1, 62 III, 60 AufenthG, 420 FamFG Abschiebehaft bis zur vollzogenen Abschiebung, längstens jedoch für 6 Monate anzuordnen. Dem kam das AG Laufen mit Beschluss vom gleichen Tag nach. Am 13.06.2016 beantragte die Ausländerbehörde dann gegen d. Betroff. gemäß §§ 62 III, 60 AufenthG, 420, 425 III FamFG, die Verlängerung der Abschiebehaft bis zur vollzogenen Abschiebung, längstens jedoch für 3 Wochen bis zum 01.07.2016 anzuordnen. Hinsichtlich der Haftdauer wird auf den Verlängerungsantrag verwiesen.
II.
Im Rahmen der heutigen Vorführung wurde d. Betroff. gemäß § 420 I 1 FamFG in der gebotenen Weise vor der Entscheidung rechtliches Gehör gewährt.
Der Haftantrag der beteiligten Ausländerbehörde ist d. Betroff. vor der Anhörung übersetzt und damit der gesamte Antragsinhalt bekannt gegeben worden. Ein Abdruck des Antrags ist d. Betroff. überlassen worden. D. Betroffene war in der Lage, sich zu sämtlichen Angaben der beteiligten Behörde zu äußern. Es handelt sich vorliegend um einen überschaubaren Sachverhalt, den d. Betroff. vor der Anhörung ausreichend erfassen konnte. Zudem hatte er bereits aufgrund des Erstbeschlusses des AG Laufen sowie der Beschwerdeentscheidung des LG Traunstein vom 22.01.2016 Kenntnis von den tatsächlichen Umständen, die die Ausländerbehörde dem Antrag zugrunde gelegt hat.
Bei der mündlichen Anhörung am 15.06.2016 erklärte d. Betroff., dass er zum Antrag nichts mehr zu sagen hat.
Im übrigen wird auf die Niederschrift vom heutigen Tag Bezug genommen.
III.
1. Die zuständige Ausländerbehörde hat den Haftantrag zulässig und ausreichend begründet.
Das AG Mühldorf ist aufgrund des bindenden Abgabebeschlusses durch das AG Laufen auch zuständig.
Der vorliegende Haftantrag genügt den Darlegungsanforderungen der obergerichtlichen Rechtsprechung (vgl. BGH vom 15.09.2011, Az V ZB 123/11; vom 10.05.2012, Az V ZB 246/11). Insbesondere werden verlangt – wie hier erfolgt – Darlegungen zu der zweifelsfreien Ausreisepflicht, zu den Abschiebungsvoraussetzungen, zu der Erforderlichkeit der Haft, zu der Durchführbarkeit der Abschiebung und zu der notwendigen Haftdauer, §§ 425 III, 417 II 2 Nr. 3-5 FamFG. Das Darlegungserfordernis soll gewährleisten, dass das Gericht die Grundlagen erkennt, auf welche die Behörde ihren Antrag stützt, und dass das rechtliche Gehör d. Betroff. durch die Übermittlung des Haftantrags nach § 23 II FamFG gewahrt wird, wobei die Darlegungen knapp gehalten sein dürfen, solange sie die für die richterliche Prüfung wesentlichen Punkte des Falles ansprechen (BGH FGPrax 2011, 317).
Das Gericht erachtet diese Voraussetzungen unter Bezugnahme auf I. für erfüllt.
Insbesondere hat die Ausländerbehörde auch schlüssig und nachvollziehbar dargelegt, warum die Verlängerung der Sicherungshaft erforderlich und unverzichtbar ist (vgl. auch BGH vom 12.09.2013, Az V ZB 171/12).
Sie trägt hierzu plausibel vor: Das Passbeschaffungsverfahren bei den marokkanischen Behörden verzögert sich, nachdem der Betroffene keinerlei aktive Mitwirkung an diesem Verfahren tätigte. Die marokkanischen Behörden prüfen derzeit die Fingerabdrücke. Hierfür werden noch 2 Wochen sowie für die Organisation des Rückführungsflug 1 Woche veranschlagt.
Die Dauer der angeordneten Haft wird somit von der Behörde glaubhaft mit den für die Organisation und Durchführung der Abschiebung nach Marokko notwendigen Erfordernissen, mithin mit der voraussichtlichen Dauer des Rücknahmeverfahrens begründet. Die im Antrag angegebenen einzelnen Zeitspannen sind für die organisatorische Realisierung der Abschiebung einerseits erforderlich, andererseits aber auch ausreichend.
Sollte das Rücknahmeverfahren vor Ablauf der Frist abgeschlossen sein, so ist die Behörde aufgrund des Beschleunigungsgebots gehalten, d. Betroff. unverzüglich abzuschieben, vgl. auch § 62 I 2 AufenthG.
Das Einvernehmen der Staatsanwaltschaft liegt vor, § 72 IV AufenthG.
2. Mit dem unter I. geschilderten Sachverhalt ist der Betroffene vollziehbar ausreisepflichtig (§ 50 Abs. 1, 58 Abs. 2 AufenthG).
Aufgrund der unter Ziffer 2 festgestellten vollziehbaren Ausreisepflicht besteht der Haftgrund des § 62 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 AufenthG.
Auch ist der Haftgrund des § 62 Abs. 3 Ziff. 5 i.V.m. § 2 Abs. 14 AufenthG gegeben.
Es besteht der begründete Verdacht, dass sich die Betroffene der Abschiebung durch Flucht oder Untertauchen entziehen will.
Die Annahme der Entziehungsabsicht setzt konkrete Umstände, insbesondere Äußerungen oder Verhaltensweisen d. Betroff. voraus, die mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit darauf hindeuten oder es nahelegen, dass d. Betroff. beabsichtigt unterzutauchen oder die Ab-/Zurückschiebung in einer Weise zu behindern, die nicht durch einfachen, keine Freiheitsentziehung bildenden Zwang überwunden werden kann (BGH vom 03.05.2012, Az V ZB 244/11; Renner, Ausländerrecht, § 62 AufenthG Rz. 76).
Konkrete Anhaltspunkte i.S.d. § 2 Abs. 14 AufenthG liegen in Folgendem begründet:
Der Betroffene hat seinen Reisepass zur Vermeidung einer sofortigen Zurückschiebung bewusst zerrissen und somit seine Identität zu unterdrücken versucht, § 2 Abs. 14 Nr. 2 AufenthG.
D.
Betroffene hat die „Dienste“ eines Schleusers in Anspruch genommen und hierfür eine nicht unbeträchtliche Geldsumme gezahlt, allein für die Strecke Türkei – Griechenland hat er 700,- € zahlen müssen. Die Aufwendung dieser erheblichen finanziellen Mittel wäre im Fall einer Abschiebung vergeblich. Das Gericht schließt hieraus auf den Anreiz d. Betroff., sich nicht freiwillig für das Rücknahmeverfahren bereit zu halten, sondern im Gegenteil unterzutauchen (vgl. hierzu auch BGH vom 03.05.2012, Az VZB 244/11), § 2 Abs. 14 Nr. 4 AufenthG.
Letztlich will der Betroffene nicht nach Marokko zurück. Für den Fall einer drohenden Abschiebung will er untertauchen, was zeigt, dass er für Rückführungsmaßnahmen nicht freiwillig zur Verfügung stehen wird, § 2 Abs. 14 Nr. 5 AufenthG.
D.
Betroffene verfügt im übrigen über keinen festen Wohnsitz. Er verfügt darüberhinaus nicht über ausreichende finanzielle Mittel, die es ihm ermöglichen würden, das Bundesgebiet auf legale Weise zu verlassen.
Im Übrigen wird ergänzend auf die Gründe des Antrages, der Erstentscheidung des AG Laufen sowie der Beschwerdeentscheidung des LG Traunstein Bezug genommen.
3. Gründe, die ein Absehen von der Sicherungshaft gem. § 57 Abs. 1, Abs. 3, 62 Abs. 3 S. 3 AufenthG rechtfertigen können, sind nicht ersichtlich bzw. nicht glaubhaft gemacht.
Im übrigen liegen Abschiebungshindernisse nicht vor. Ob die Abschiebung nach Marokko zu Recht erfolgt, ist nicht vom Haftrichter, sondern von den jeweils zuständigen Verwaltungsgerichten zu entscheiden (BGH vom 25.02.2010, Az V ZB 172/09); der Haftrichter ist letztlich nicht befugt, über das Vorliegen von Abschiebungshindernissen – mit wenigen Ausnahmen, die eine Sachverhaltsermittlung des Haftrichters erfordern (vgl. hierzu BGH a.a.O.) – zu entscheiden.
Zwar ist die Abschiebung nicht innerhalb von 3 Monaten bzw. innerhalb von 6 Monaten nach seiner Einreise (§ 57 Abs. 3, 62 Abs. 3 S. 4, IV 1 AufenthG) realisierbar, die Verzögerung hat der Betroffene durch die bewusste Unterdrückung seines Passes sowie fehlende Mitwirkung bei der Passersatzbeschaffung, durch die die Abschiebung bislang verhindert wird, selbst zu vertreten, § 62 IV 2 AufenthG
4. Ein milderes Mittel als die Inhaftierung des Betroffenen im Sinne von § 62 Abs. 1 AufenthG ist nicht ersichtlich. Insbesondere ist – angesichts der unter Ziffer 3 dargelegten Gegebenheiten – die Hinterlegung von Ausweispapieren bzw. eine Meldeauflage bzw. die Auflage, sich an einem bestimmten Ort aufzuhalten, vorliegend nicht ausreichend.
Das Verfahren beruht auf den §§ 416, 418, 419, 420, 421, 425 III FamFG.
Die Anordnung der sofortigen Wirksamkeit der Entscheidung beruht auf § 422 Abs. 2 FamFG.


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