Strafrecht

Anspruch eines verfahrensfremden Dritten auf Überlassung eines nicht rechtskräftigen Strafurteils

Aktenzeichen  2 Ws 79/16

Datum:
27.1.2016
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
StV – 2017, 169
Gerichtsart:
OLG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:
StPO StPO § 474, § 475 Abs. 1, § 478 Abs. 3
StGB StGB § 166, § 185

 

Leitsatz

1. Zum Anspruch eines verfahrensfremden Dritten auf Überlassung eines nicht rechtskräftigen Strafurteils (amtlicher Leitsatz)
2. Ein verfahrensfremder Dritter, der kein berechtigtes Interesse an der Akteneinsicht in Strafakten gem. § 475 Abs. 1 StPO hat, kann einen Anspruch auf Überlassung des nicht rechtskräftigen Strafurteils nicht aus der presserechtlichen Veröffentlichungspflicht der Gerichte ableiten, wenn er die Überlassung lediglich zur Verfolgung von Partikularinteressen fordert. (amtlicher Leitsatz)

Verfahrensgang

25 Ns 111 Js 126317/13 2015-10-02 Bes LGMUENCHENI LG München I

Gründe

Oberlandesgericht München
Az.: 2 Ws 79/16
Beschluss
27.01.2016
2. Strafsenat
12 Ws GStA 78/16 Generalstaatsanwaltschaft München, 25 Ns 111 Js 126317/13 Landgericht München I, 111 Js 126317/13 Staatsanwaltschaft München I
Leitsatz
In dem Strafverfahren

Gegen
M. J. St., geboren am … in … Staatsangehörigkeit: … wohnhaft: …
wegen Beschimpfung von Bekenntnissen, Religionsgesellschaften und Weltanschauungsvereinigungen
hier: Beschwerde von Rechtsanwalt M. P. ,
gegen die Zurückweisung des Antrags auf Übersendung einer anonymisierten Urteilsabschrift
erlässt das Oberlandesgericht München – 2. Strafsenat – durch die unterzeichnenden Richter am 27.01.2016 folgenden
Beschluss
Die Beschwerde von Rechtsanwalt M. P. gegen den Beschluss des Landgerichts München I vom 02.10.2015, Az. 25 Ns 111 Js 126317/13, wird kostenfällig als unbegründet verworfen.
Gründe:
I. Der Angeklagte M. St. wurde mit Urteil des Amtsgerichts München vom 03.10.2014, Az. 844 Cs 111 Js 126317/13, wegen Beschimpfung von Bekenntnissen, Religionsgesellschaften und Weltanschauungsvereinigungen verurteilt. Dem lag eine Veröffentlichung im Jahr 2013 zugrunde, in der der Angeklagte den Islam mit einem Krebsgeschwür verglichen haben soll. Gegen dieses Urteil haben sowohl der Angeklagte als auch die Staatsanwaltschaft München I Berufung eingelegt. Das Verfahren ist derzeit bei der 25. Strafkammer des Landgerichts München I anhängig. Die Berufungsverhandlung wurde noch nicht durchgeführt, das Urteil des Amtsgerichts München ist nicht rechtskräftig.
Mit Schriftsätzen vom 12.06.2015 und vom 03.07.2015 beantragte Rechtsanwalt M. P. die Übersendung des anonymisierten Urteils mit der Begründung, er vertrete einen Mandanten, der in anderem Zusammenhang ebenfalls als „Krebsgeschwür“ bezeichnet und so verunglimpft worden sei. Insoweit bestehe berechtigtes Interesse an der Kenntnisnahme der rechtlichen Würdigung durch das Landgericht. Dieser Antrag wurde zunächst der Staatsanwaltschaft München I vorgelegt und von dort mit Verfügungen vom 01.07.2015 und 15.07.2015 unter Hinweis auf die mangelnde Rechtskraft des Urteils und die daraus folgende Unzuständigkeit der Staatsanwaltschaft abgelehnt und der zuständigen Berufungskammer des Landgerichts München I zur Entscheidung vorgelegt. Mit Schriftsatz vom 13.08.2015 beantragte Rechtsanwalt P. daraufhin gerichtliche Entscheidung gem. § 478 Abs. 3 StPO analog gegen die Entscheidungen der Staatsanwaltschaft München I und führte zur Begründung aus, es bestehe immer dann eine Verpflichtung zur Veröffentlichung einer Gerichtsentscheidung, wenn ein öffentliches Interesse an dieser Entscheidung nicht völlig ausgeschlossen sei. Dies gelte auch schon vor Rechtskraft des Urteils. Angesichts des Tatvorwurfs bestehe hier ein offensichtlicher öffentlicher Anspruch auf Publikation, hinter dem die Persönlichkeitsrechte des Angeklagten ersichtlich zurücktreten müssten.
Mit Beschluss des Landgerichts München I vom 02.10.2015 wurde der Antrag zurückgewiesen. Das Gericht begründete seine Entscheidung damit, ein berechtigtes Interesse an der Übersendung einer Abschrift des nicht rechtskräftigen Urteils sei nicht ausreichend dargetan. Die Wahrnehmung eines Mandats mit dem vorgebrachten Inhalt sei nicht ausreichend, insbesondere sei nicht dargetan, dass es ebenfalls um den Tatvorwurf des § 166 StGB gehe.
Gegen diese Entscheidung legte Rechtsanwalt P. mit Schriftsatz vom 20.10.2015 Beschwerde ein.
Entgegen der Auffassung des Gerichts liege ein Fall des § 475 Abs. 1 StPO nicht vor, weswegen die Prüfung des berechtigten Interesses für die begehrte Urteilsüberlassung rechtsfehlerhaft sei. Zwar stellten auch Urteile Aktenbestandteile dar, aufgrund ihrer herausragenden Bedeutung seien sie aber Akten sui generis, deren Veröffentlichung gerade nicht am Maßstab des berechtigten Interesses i. S. des § 475 Abs. 1 StPO zu messen sei. I.Ü. bestehe aber auch ein berechtigtes Interesse, da der Beschwerdeführer einen Unterlassungsrechtsstreit gegen den ehemaligen Vorsitzenden des…, Herrn Dr. Z., führe, in dem es auch um die Bezeichnung als „Krebsgeschwür“ gehe. Hinsichtlich der Einzelheiten wird auf den Schriftsatz vom 20.10.2015 Bezug genommen.
Das Landgericht München I hat der Beschwerde mit Verfügung vom 08.01.2016 nicht abgeholfen und die Akten dem Oberlandesgericht München zur Entscheidung vorgelegt.
Der Beschwerdeführer hat mit Schriftsatz vom 12.01.2016 zur Nichtabhilfeentscheidung Stellung genommen und sein Beschwerdevorbringen ergänzt. Auf den Inhalt des Schriftsatzes wird zur Vermeidung von Wiederholungen verwiesen.
Die Generalstaatsanwaltschaft München hat mit Aktenvorlage beantragt, die Beschwerde als unbegründet zu verwerfen.
II. Die Beschwerde gegen den Beschluss des Landgerichts München I vom 02.10.2015 ist zulässig, bleibt in der Sache jedoch ohne Erfolg.
1. Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers handelt es sich vorliegend nicht um einen Fall der Veröffentlichungspflicht einer Entscheidung nach Maßgabe der einschlägigen Rechtsprechung des BVerwG und des BVerfG. In den insoweit maßgeblichen Entscheidungen (BVerwG vom 26.02.1997, Az. 6 C 3/96, BVerwGE 104 ff.; BVerwG vom 01.10.2014, Az. 6 C 35/13, juris; BVerfG vom 14.09.2015, Az. 1 BvR 857/15, juris), in denen jeweils eine Veröffentlichungspflicht (freilich jeweils erst nach pflichtgemäßer Ermessenabwägung der in Anspruch genommenen Gerichte) bejaht wurde, handelte es sich jeweils um presserechtliche Auskunftsansprüche. Insoweit wurde in den genannten Entscheidungen auch das Grundrecht der Pressefreiheit gegen die Interessen des Betroffenen (hier also des Angeklagten) abgewogen und im Grundsatz zugunsten der Pressefreiheit entschieden. Bei der Abwägung haben BVerwG und BVerfG darauf verwiesen, dass unmittelbar aus dem Rechtsstaatsgebot grundsätzlich eine Rechtspflicht der Justiz zur Publikation veröffentlichungswürdiger Gerichtsentscheidungen, u. U. auch schon vor Rechtskraft des betroffenen Urteils, folge (vgl. BVerfG vom 14.09.2015, a. a. O.). Veröffentlichungswürdig seien nach der vorzitierten Rechtsprechung des BVerwG alle Entscheidungen, an denen die Öffentlichkeit ein Interesse hat oder haben kann, um eine öffentliche Meinungsbildung über bestimmte Gesetze und deren Anwendung durch die Gerichte zu ermöglichen und auf diese Weise eine effektive Kontrolle der Dritten Gewalt im Rahmen der Gewaltenteilung und ggf. die Fortentwicklung oder Änderung des Rechts durch öffentliche Diskussion zu erreichen.
So liegt der Fall hier aber nicht. Weder ist der Beschwerdeführer Medienvertreter, noch begehrt er die Veröffentlichung einer Entscheidung. Vielmehr fordert er die Überlassung eines nicht rechtskräftigen strafrichterlichen Urteils, um daraus für ein von ihm betriebenes Zivilverfahren, das zu dem Strafurteil in keinerlei Zusammenhang steht, Erkenntnisse zu ziehen. Schon durch diese Begründung macht der Beschwerdeführer mithin deutlich, dass es ihm gerade nicht um Information der Öffentlichkeit im Sinne der vorgenannten Entscheidungen geht, sondern dass ausschließlich seine Partikularinteressen betroffen sind.
Zur Überzeugung des Senats sind jedoch auf einen solchen Fall die von BVerwG und BVerfG in den genannten Entscheidungen aufgestellten Grundsätze des weitgehend voraussetzungslosen Anspruchs auf Veröffentlichung eines Urteils gerade nicht anwendbar. Denn nicht die möglichst breite öffentliche Information ist Ziel des Beschwerdebegehrens, sondern die individuelle Information ausschließlich des Beschwerdeführers, die jedoch von einem etwaigen Veröffentlichungsanspruch ausdrücklich nicht geschützt wird.
Diese Überzeugung wird gerade im hier vorliegenden Fall, in dem es um die Überlassung eines nicht rechtskräftigen Strafurteils geht, aus Sicht des Senats noch von einer weiteren Überlegung gestützt: Das BVerfG hat in seiner Entscheidung vom 14.09.2015 (a.a.O.) darauf verwiesen, dass die Frage des Umgangs mit dem überlassenen nicht rechtskräftigen Urteil durch die Medien grundsätzlich in deren eigener Verantwortung liege, und dass insoweit gesteigerte Sorgfaltspflichten bestehen könnten, die sich aus medienrechtlichen Grundsätzen ergeben, wie den Grundsätzen der Verdachtsberichterstattung oder der Pflicht zur Zurückhaltung bei Berichten, die die Resozialisierung von Straftätern beeinträchtigen.
Insoweit hat das BVerfG also klargestellt, dass die Überlassung von nicht rechtskräftigen Strafurteilen an Medienvertreter auch deshalb möglich ist, und eine Ermessensausübung daher regelmäßig zugunsten des Informationsanspruchs ausfallen kann, weil die Medien besondere Sorgfalt im Umgang mit den so erhaltenen Informationen walten lassen müssen. Diese Pflichten treffen freilich Privatleute nicht in gleicher Weise. Abgesehen von den für alle geltenden hohen Hürden des Strafrechts unterliegt der private Anspruchsteller keinen besonderen Beschränkungen bei der Verarbeitung und Weitergabe der erhaltenen Informationen. Namentlich in Fällen, in denen – wie hier – der Angeklagte dem Anspruchsteller namentlich bekannt ist, und in denen mithin auch eine Anonymisierung keine hinlängliche Datenschutzfunktion entfalten kann, ergeben sich daher gegenüber den höchstrichterlich entschiedenen Fallkonstellationen wesentliche Unterschiede, die aus Sicht des Senats die vorgenannten Entscheidungen des BVErfG und des BVerwG auf den vorliegenden Fall nicht übertragbar machen.
2. Mithin ist die vom Beschwerdeführer begehrte Urteilsüberlassung auch aus Sicht des Senats am Maßstab des § 475 Abs. 1 StPO zu messen. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass auch Urteile Aktenbestandteile sind und somit den Akteneinsichtsregelungen der §§ 474 ff. StPO unterliegen, soweit es nicht um den bereits unter Ziffer 1 verneinten Veröffentlichungsanspruch geht. Somit kommt eine Urteilsüberlassung vorliegend nur in Betracht, wenn der Beschwerdeführer ein berechtigtes Interesse daran geltend machen kann. Ein solches besteht vorliegend jedoch nicht.
Der Beschwerdeführer bringt insoweit vor, er benötige die amtsgerichtliche Entscheidung, da er in einem anderen Verfahren die Q. F. A. vertrete, die einen Unterlassungsanspruch gegen den ehemaligen Vorsitzenden , Dr. Z., geltend mache, weil dieser im Zusammenhang mit der Fußballweltmeisterschaft 2022 geäußert habe, Katar sei ein „Krebsgeschwür des Weltfußballs“. Schon aus diesem Vorbringen wird deutlich, dass ein berechtigtes Interesse an der nicht rechtskräftigen Entscheidung des Amtsgerichts München in einem strafrechtlichen Verfahren nicht bestehen kann. Denn weder geht es um einen Rechtsstreit zwischen ganz oder teilweise identischen Parteien, noch handelt es sich bei dem vom Beschwerdeführer angeführten Verfahren um einen (zivilrechtlichen) Ausfluss aus dem strafrechtlichen Verfahren, wie es etwa bejaht werden könnte, wenn die vom Beschwerdeführer vertretene Mandantin gegen den Angeklagten zivilrechtliche Schadenersatz- oder Unterlassungsansprüche im Zusammenhang mit der erstinstanzlich abgeurteilten Straftat geltend machen würde.
Liegt somit schon ersichtlich kein persönlicher oder sachlicher Zusammenhang vor, ist im vorliegenden Fall aber sogar jede Vergleichbarkeit der Sachverhalte zu verneinen. Denn in dem vom Beschwerdeführer angeführten und von ihm vertretenen Fall geht es um einen zivilrechtlichen Unterlassungsanspruch wegen der Bezeichnung eines Sportverbandes als „Krebsgeschwür“, mithin also um eine Beleidigung. Dem amtsgerichtlichen Urteil lag hingegen die Bezeichnung einer Religion als „Krebsgeschwür“ zugrunde, was nach Auffassung des Amtsgerichts den Tatbestand des § 166 StGB erfüllt. Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 166 StGB sind jedoch von denen des § 185 StGB verschieden, insbesondere setzt § 166 StGB als Tathandlung ein „Beschimpfen“ voraus, während § 185 StGB bei Kundgabe der Missachtung oder Nichtachtung eines Anderen erfüllt ist. Mithin können aus der Beurteilung einer Äußerung als Beschimpfen im Sinne des § 166 StGB zur Überzeugung des Senats keine tragfähigen juristischen Argumente für einen zivilrechtlichen Unterlassungsanspruch wegen einer (behaupteten) Beleidigung abgeleitet werden, namentlich dann, wenn sowohl die Äußerungsformen als auch die von der Äußerung Betroffenen und die Situationen, in denen die Äußerung jeweils fiel, in den betreffenden Fallkonstellationen vollkommen verschieden sind und das einzige einende Element zwischen beiden Fällen die Bezeichnung „Krebsgeschwür“ ist.
Dies gilt umso mehr, als es sich bei der Entscheidung, deren Überlassung beantragt wurde, um ein nicht rechtskräftiges Urteil des Amtsgerichts handelt, dessen Bewertung (selbst wenn sie, wie hier nicht, auf den Sachverhalt auch nur theoretisch anwendbar wäre) für das im Fall des Beschwerdeführers angerufene Gericht keinerlei Bindungswirkung hätte.
Nach alledem liegt ein berechtigtes Interesse des Beschwerdeführers an der Überlassung der verfahrensgegenständlichen Entscheidung nicht vor.
Die Beschwerde erwies sich daher als unbegründet.
III. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 464, 473 Abs. 1 StPO.

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