Aktenzeichen W 8 K 21.30104
Leitsatz
Tenor
I. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 20. Januar 2021 wird aufgehoben.
II. Die Kosten des Verfahrens hat die Beklagte zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin vorher in gleicher Höhe Sicherheit leistet.
Gründe
Die Klage ist zulässig und begründet.
Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 20. Januar 2021 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Die Voraussetzungen für einen Widerruf nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylG liegen nicht vor. Aus diesem Grund war der streitgegenständliche Bescheid im vollen Umfang aufzuheben. Über die hilfsweise gestellten Anträge zum subsidiären Schutz (§ 4 AsylG) bzw. zu den nationalen Abschiebungsverboten (§ 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG) war nicht zu entscheiden.
Nach § 73 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 AsylG ist die Anerkennung als Asylberechtigter und die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft unverzüglich zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen. Dies ist insbesondere der Fall, wenn der Ausländer nach Wegfall der Umstände, die zur Anerkennung als Asylberechtigter oder zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft geführt haben, es nicht mehr ablehnen kann, den Schutz des Staates in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt.
Der Beklagten ist zuzugestehen, dass die versuchte Einreise der Klägerin in ihren Heimatstaat Iran Anlass gegeben haben mag, ein Widerrufsverfahren einzuleiten. Bei der Beurteilung kommt es jedoch auf die näheren Umstände und Beweggründe für die (geplante) Reise im Einzelfall an (OVG LSA, U.v. 26.1.2000 – A 1 S 174/99 – EzAR 214 Nr. 12 – juris).
Hat das Bundesamt die Anerkennung bzw. die Zuerkennung von sich aus ausgesprochen, so ist von den Verhältnissen im Zeitpunkt des Ergehens des bestandskräftigen An- bzw. Zuerkennungsbescheids auszugehen. Das Merkmal des Wegfalls der Umstände ist unionrechtskonform auszulegen. Voraussetzung ist, dass die Ursachen, die zur Anerkennung als Flüchtling geführt haben, durch eine erhebliche und nicht nur vorübergehende Änderung der Umstände beseitigt worden sind mit der Folge, dass die Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung als unbegründet angesehen werden kann. Die Faktoren, die die Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung begründeten, müssen als dauerhaft beseitigt angesehen werden können. Der Ausländer darf nicht mehr besorgen müssen, Verfolgungshandlungen ausgesetzt zu sein, die schwerwiegende Verletzungen der grundlegenden Menschenrechte darstellen. Es ist zu prüfen, ob nach Würdigung der Gesamtumstände des Einzelfalles noch eine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung besteht, so dass es ihm nicht zuzumuten ist, in den Heimatstaat zurückzukehren (Fleuß in BeckOK, AuslR, Kluth/Heusch, 29. Ed., Stand 1.4.2021, § 73 AsylG Rn. 10 ff.).
Symmetrisch bzw. spiegelbildlich zur Wahrscheinlichkeitsprognose bei der Anerkennung ist eine qualifizierende Betrachtungsweise erforderlich. Sie verlangt eine Gewichtung und Abwägung aller Umstände und ihre Bedeutung aus der Sicht eines vernünftig denkenden, besonderen Menschen in der Lage des Betroffenen unter Einbeziehung der Schwere des befürchteten Eingriffs und unter Berücksichtigung des Gedankens der Zumutbarkeit (vgl. BVerwG, U.v. 1.6.2011 – 10 C 25.10 – BVerwGE 140, 22 – juris Rn. 24).
Der nachträgliche Wegfall der Verfolgungsgefahr kann auch seine Ursache in der Person des Betroffenen haben. Auch individuelle Umstände können eine derartige Änderung herbeiführen. So kann auch das Verhalten des Flüchtlings den Wegfall der Verfolgungsfurcht und den gleichzeitigen Wegfall der Verfolgungsgefahr dokumentieren, etwa bei einer (dauerhaften) Rückkehr in den Heimatstaat. Anders ist es jedoch, wenn der Betroffene sich aus schwerwiegenden familiären Gründen (Besuch des todkranken Vaters) ungeachtet einer weiter bestehenden Verfolgungsgefahr in den Herkunftsstaat begibt. Eine nur vorübergehende Rückkehr, etwa zum Zweck kurzer Familienbesuche, stellt noch kein zwingendes Indiz dar, gerade wenn es um die Erfüllung einer sittlichen Pflicht geht. Zu betrachten sind die konkreten Umstände des Einzelfalles, etwa auch, ob Verfolgungsmaßnahmen nach der Einreise ausbleiben. So können etwa mehrwöchige Aufenthalte im Heimatstaat, ohne dass es dort zu Einschränkungen und Schikane oder Repressalien gekommen ist, die Annahme veranlassen, dass die Behörden kein Verfolgungsinteresse mehr besitzen (Hailbronner, AuslR, 2. Update Mai 2021, Dokumentenstand 1.8.2020, § 73 AsylG Rn. 33 ff.; Bergmann in Bergmann/Dienelt, AuslR, 13. Aufl. 2020, § 73 AsylG Rn. 6).
Bei der vergleichenden Betrachtung der Umstände im Zeitpunkt der Flüchtlingsanerkennung einerseits und der für den Widerruf gemäß § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Sachlage andererseits muss sich durch neue Tatsachen eine signifikant und entscheidungserheblich veränderte Grundlage für die Verfolgungsprognose ergeben. Bei einer Rückkehr in den Herkunftsstaat muss eine Wiederholung der für die Flucht maßgeblichen Verfolgungsmaßnahme auf absehbare Zeit mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden können. Dabei ist von einem einheitlichen Prognosemaßstab auszugehen. Mögliche Widerrufsgründe können dabei aus der Person des Flüchtlings begründet sein, etwa wenn er seine politische Überzeugung wechselt; auch ein Glaubenswechsel kann in Betracht kommen (Funke-Kaiser in Funke-Kaiser/Fritz/Vormeier, GK-AsylG, 124. Lieferung 1.12.2019, § 73 AsylG Rn. 28 f., 45).
Da viele Flüchtlinge ungeachtet bestehender Sicherheitsrisiken in ihr Herkunftsland zurückkehren, ohne dass offiziell ein Wegfall der den Schutz rechtfertigenden Umstände erklärt worden ist, bestehen Bedenken gegen ein vorschnelles Einleiten staatlicher Widerrufsverfahren. Ein Flüchtlingsstatus darf nur dann beendet werden, wenn die Umstände, aufgrund deren der Flüchtling anerkannt worden ist, sich grundlegend und dauerhaft geändert haben. Die Änderung der Umstände muss erheblich und nicht nur vorübergehend sein und setzt das Fehlen einer begründeten Befürchtung voraus, Verfolgungen ausgesetzt zu sein, die schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen darstellen. Die Beweislast, dass tatsächlich eine grundlegende dauerhafte Änderung der Umstände, aufgrund derer der Flüchtling anerkannt wurde, eingetreten ist, liegt bei der Behörde. Bleiben Zweifel und können Fragen nicht eindeutig beantwortet werden, darf der Status der Asylberechtigung bzw. als Flüchtling nicht entzogen werden. Die Behörde hat nachzuweisen, dass der Flüchtling auf Dauer sicher zurückkehren kann (Marx, Kommentar zum AsylG, 10. Aufl. 2019, § 73 AsylG, Rn. 17 ff., 27, 45 ff.).
Die freiwillige, problemlose Rückkehr eines Ausländers in seinen Herkunftsstaat als angeblichen Verfolgerstaat für einen nicht völlig unbedeutenden Zeitraum wird oftmals die Annahme zulassen, dass ihm dort eine politische Verfolgung nicht mehr droht. Eine nur kurzfristige und/oder gegenüber den offiziellen Behörden geheim gehaltene Rückkehr wird dagegen einen solchen Schluss nicht rechtfertigen können. Einer nur vorübergehenden kurzzeitigen Rückkehr, insbesondere aus schwerwiegenden familiären Gründen – z.B. Besuch eines schwerkranken Familienangehörigen – oder Erfüllung einer sittlichen Pflicht – wie etwa um Verwandten oder Freunden bei der Flucht zu helfen – kann die Bedeutung einer freiwilligen Rückkehr nicht ohne Weiteres zugemessen werden (Hocks/Leuschner in Hofmann, AuslR, 2. Aufl. 2016, § 73 AsylG Rn. 20).
Ausgehend von dieser Rechtslage ist das Gericht nach den Umständen des vorliegenden Einzelfalls und auf der Basis des persönlichen Eindrucks der Klägerin in der mündlichen Verhandlung nicht davon überzeugt, dass sich die Umstände grundlegend und dauerhaft geändert haben und die Umstände, die zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft geführt haben – konkret die Konversion vom Islam zum Christentum -, weggefallen sind, sondern dass der Klägerin weiterhin mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung bei einer (dauerhaften) Rückkehr in den Iran droht.
Die Klägerin verdeutlichte – in ihren Worten und im Rahmen ihrer Persönlichkeit und intellektuellen Disposition (vgl. BVerwG, B.v. 25.8.2015 – 1 B 40.15 – Buchholz 402.25 § 3 AsylVfG Nr. 19; Berlit, jurisPR-BVerwG 22/2015, Anm. 6) – plausibel und glaubhaft die näheren Umstände ihres Verhaltens, ihre Beweggründe für die geplante, aber fehlgeschlagene Reise in den Iran und die Hintergründe zu ihren christlichen Aktivitäten seit dem Jahr 2016 bis heute.
Die Klägerin hat so glaubhaft dargelegt, dass ihr die geplante einmalige Reise in ihr Heimatland – aus ihrer subjektiven Sicht – aus familiären Gründen aufgrund einer sittlichen Verpflichtung wegen der mitgeteilten bzw. angenommenen schweren Erkrankung ihres Vaters notwendig erschienen sei. Außerdem hat sie unter Vorlage verschiedener ärztlicher Unterlagen auf ihre psychische Ausnahmesituation hingewiesen.
Die Klägerin hat sowohl schriftlich, zuletzt mit Schriftsatz vom 26. Mai 2021, als auch und insbesondere in der mündlichen Verhandlung glaubhaft dargelegt, dass ihr Vater unter Bluthochdruck leide und sein Cholesterinspiegel hoch sei und er darüber hinaus Herzprobleme habe, die besonders hervortreten würden, wenn er Stress bekomme und dann stationär behandelt werden müssten. Der Vater sei auch der Hauptgrund, weswegen die Mutter zurückgegangen sei. Gravierend hinzugekommen sei ihre damalige Ausnahmesituation. Nachdem sie im Oktober 2015 ihren damaligen Verlobten quasi symbolisch geheiratet gehabt habe, wie auch die Bescheinigung über die christliche Segnung vom 14. Oktober 2015 der Christengemeinde belegt, habe es anschließend ernsthafte Auseinandersetzungen gegeben und sie hätten sich Im Jahr 2016 getrennt. Sie habe in der Folgezeit erhebliche psychische Probleme bekommen, die sie durch verschiedene ärztliche Unterlagen belegt hat. Sie nehme seit dem Jahr 2016 entsprechende Medikamente. Hinzu komme ein Tumor an der Hirnanhangdrüse, sowie weitere psychische und physische Erkrankungen, die ihren Gesamtgesundheitszustand verschlechtert und die auch Einfluss auf die psychische Situation gehabt hätten. Die Klägerin gab weiter an, dass die verordneten Antidepressiva auch diverse Nebenwirkungen gehabt hätten und dazu beigetragen haben könnten, eine voreilige Entscheidung betreffend die Reise in den Iran zu treffen, nachdem die plötzliche Nachricht von der Krankheit ihres Vaters gekommen sei. Für eine derartige „Kurzschlusshandlung“ spricht zum einen auch der Umstand, dass die Klägerin den untauglichen Versuch unternommen hat mit dem blauen Flüchtlingsausweis in den Iran zu reisen und sprechen zum anderen ihre unlogisch erscheinenden Angaben gegenüber der Bundespolizei bei der Rückkehr nach Deutschland.
In der mündlichen Verhandlung legte die Klägerin weiter anschaulich ihre damalige Situation und ihre Gedankengänge dar: Nachdem die Verlobung in die Brüche gegangen sei, habe sie nicht mehr in Gesellschaft anderer sein wollen. Es sei für sie eine Niederlage gewesen. Sie habe Depressionen bekommen. Sie sei es satt gewesen, sich rechtfertigen zu müssen. Die Beendigung der Verlobung habe sie Nerven gekostet. Sie habe sich schlecht gefühlt. Sie habe Probleme in der Unterkunft gehabt. Sie habe weitere gesundheitliche Probleme gehabt. Sie habe sich in einem desolaten psychischen Zustand befunden. Sie habe starke Medikamente genommen. Sie habe öfters daran gedacht, sich das Leben zu nehmen. Ihr Vater sei krank gewesen. Sie sei völlig durcheinander gewesen. Die Klägerin räumte dabei ehrlich ein, sie wisse nicht, was sie gemacht hätten, wenn ihr Vater nicht gesagt hätte, er würde dann (stattdessen) trotz seine Krankheit in die Türkei kommen, nachdem es bei der Klägerin offenbar mit der Weiterreise in den Iran nicht geklappt gehabt hatte.
Abgesehen davon war die Reise in den Iran offenkundig von vornherein nur als vorübergehender Aufenthalt geplant, wie auch der vorab gebuchte Rückflug vom 11. Januar 2017 belegt. Die Klägerin erklärte dazu glaubhaft, sie habe vorgehabt, in den Iran zu reisen und auch wieder zurück. An die Einzelheiten habe sie nicht gedacht. Sie habe noch Berufsschule gehabt und Praktikum; sie hätte sowieso zurückkommen müssen. Sie habe schon daran gedacht, dass es im Iran Probleme geben könnte. Sie habe Angst gehabt, dass es Probleme geben könnte. Die Klägerin räumte ehrlich ein, dass es im Nachhinein, wenn sie daran denke, was sie alles habe machen wollen, für sie unbegreiflich sei, dass sie überhaupt mit dem Gedanken gespielt habe, in den Iran zu reisen. Aber sie sei unter den geschilderten Umständen nicht fähig gewesen, klar zu denken.
Die Klägerin gab weiter an, dass sie ihre christliche Religion im Iran in dieser Zeit so nicht hätte ausüben können. Ihre Mutter sei heimlich getauft worden und habe dies nicht bekannt gemacht. Die Mutter betätige sich im Iran offensichtlich nicht christlich. Die Mutter verhalte sich ja nicht wie eine Jugendliche und entfalte christliche Aktivitäten. Die Mutter entfalte christliche Aktivitäten vielleicht zu Hause und bete. Bei ihr, der Klägerin, sei es anders. Sie hätten früher schon Probleme bekommen. Sie selbst habe im Iran Hauskreise besucht gehabt. Nachbarn und Freunde des Vaters hätten Probleme gemacht. Sie sei vor ihrer Ausreise sechs bis sieben Monate im Iran aktiv gewesen und habe Hauskreise besucht. Man könne im Iran keine christlichen Aktivitäten ausüben.
Die Klägerin hat darüber hinaus ihre christliche Glaubenseinstellung im Vergleich zum Zeitpunkt des Erlasses des ursprünglichen Anerkennungsbescheides vom 27. Juli 2016, um dessen Widerruf es geht, nicht grundlegend geändert, sondern nach Überzeugung des Gerichts beibehalten.
Nach den vorliegenden Erkenntnissen sind für die Annahme einer Verfolgungsgefahr im Iran jedenfalls christliche Aktivitäten nach außen hin relevant, wie z.B. eine Missionierung oder eine Unterrichtung anderer Personen im Glauben. Ohne Außenaktivitäten wissen die Behörden nicht über die Konversion Bescheid und es besteht ihrerseits auch kein Verfolgungsinteresse. Eine Konversion und ein anonymes Leben als konvertierter Christ allein führen nicht zur Verfolgung (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der islamischen Republik Iran, Stand Dezember 2020 vom 5.2.2021, S. 14 f.; BFA, Bundesamt für Asyl und Fremdenwesen der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Iran vom 29.1.2021, S. 44 ff., 48 ff. und vom 20.11.2020, S. 48 ff., 52 ff.; Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Länderreport 10 – Iran, Situation von Christen vom 1.4.2020, S. 9 ff.; ACCORD, Anfragebeantwortung zum Iran, Lage von im Ausland zum Christentum konvertierter Personen bei Rückkehr vom 16.1.2020).
Nach der Rechtsprechung ist aufgrund der vorliegenden Erkenntnisse davon auszugehen, dass allein wegen einer bisherigen religiösen Betätigung oder gar schon wegen eines bloßen formalen Glaubenswechsels zum christlichen Glauben mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit bei einer Rückkehr in den Iran eine asylrechtlich relevante Verfolgung drohen könnte. Erforderlich wäre vielmehr, dass eine konvertierte Person im Iran nach außen erkennbar eine missionarische Tätigkeit entfalten, eine herausgehobene Rolle einnehmen, in Ausübung ihres Glaubens an öffentlichen Riten, wie etwa Gottesdiensten teilnehmen, oder zumindest ihren neu angenommenen Glauben – und die damit verbundene Abkehr vom Islam – entsprechend ihrer christlichen Prägung sonst aktiv nach außen zeigen will bzw. nur gezwungenermaßen, unter den Druck drohender Verfolgung auf eine Glaubensbetätigung verzichten würde. Die iranischen Behörden schätzen die Nachfluchtaktivitäten realistisch ein. Iranische Institutionen unterscheiden bei der Ahndung, ob diesen eine ernsthafte Überzeugung des Nutzers oder andere Motive zugrunde liegen. Den iranischen Behörden ist bekannt, dass iranische Staatsangehörige in Asylverfahren häufig zum christlichen Glauben konvertieren, um so bessere Chancen im Asylverfahren zu erhalten. Der Glaubenswechsel muss weiter auf einer festen Überzeugung und einen ernstgemeinten religiösen Einstellungswandel beruhen und nunmehr die religiöse Identität prägen. Der Betreffende muss eine eigene ernsthafte Gewissensentscheidung getroffen haben und er muss auf der Basis auch gewillt sein, seine christliche Religion auch in seinem Heimatstaat auszuüben. Das Gericht muss überzeugt sein, dass der Betreffende die unterdrückte religiöse Betätigung seines Glaubens für sich selbst als verpflichtend zur Wahrung seiner religiösen Identität empfindet (siehe zuletzt etwa ausführlich VG Würzburg, U.v. 25.1.2021 – W 8 K 20.30746 – juris und BayVGH, B.v. 11.2.2021 – 14 ZB 20.31143 – juris; U.v. 29.10.2020 – 14 B 19.32048 – BeckRS 2020, 34047; B.v. 26.2.2020 – 14 ZB 19.31771 – juris; B.v. 16.1.2020 – 14 ZB 19.30341 – juris; B.v. 10.1.2020 – 14 ZB 19.30242 – juris; B.v. 9.5.2019 – 14 ZB 18.32707 – juris; B.v. 6.5.2019 – 14 ZB 18.32231 – juris sowie OVG NRW, B.v. 19.5.2021 – 6 A 3129/19.A – juris; B.v. 6.1.2021 – 6 A 3413/20.A – juris B.v. 19.2.2020 – 6 A 1502/19.A – juris; B.v. 2.1.2020 – 6 A 3975/19.A – juris; OVG SH, B.v. 11.11.2020 – 2 LA 35/20 – juris; U.v. 24.3.2020 – 2 LB 20/19 – juris; ThürOVG, U.v. 28.5.2020 – 3 KO 590/13 – juris; siehe auch Froese, NVwZ 2021, 43; jeweils m.w.N.).
Ausgehend von dieser Sach- und Rechtslage hat die Klägerin zur Überzeugung des Gerichts den Eindruck erweckt, dass sie aus religiösen Gründen weiterhin das Bedürfnis hat, öffentlichkeitswirksam ihren christlichen Glauben nach außen auszuleben. Bei der Klägerin liegen ein ernsthafter und nachhaltiger Glaubenswandel und eine identitätsprägende Glaubensbetätigung aufgrund einer andauernden religiösen Prägung vor, die sich so verfestigt hat, dass es ihr ein Bedürfnis wäre, bei einer nicht nur kurzzeitigen vorübergehenden Rückkehr in den Iran den christlichen Glauben öffentlich auszuleben, wie etwa, mit Anderen – auch missionierend – über das Christentum und ihren christlichen Glauben zu sprechen, Gottesdienste zu besuchen und in die Kirche zu gehen. Das Gericht hat den Eindruck, dass die Klägerin nicht ohne große Gewissensnot dauerhaft auf öffentliche christliche Aktivitäten verzichten könnte.
Die Klägerin verdeutlichte, dass sie bei einer dauerhaften Rückkehr in den Iran ihren christlichen Glauben nicht so leben könnte, wie sie es in Deutschland tue und wie es ihrer christlichen Anschauung entspreche. Insofern unterscheide sie sich, wie ausgeführt, von ihrer Mutter.
Die Klägerin schilderte glaubhaft ihre aktuellen christlichen Aktivitäten in Deutschland. In dem Zusammenhang ist ausdrücklich anzumerken, dass der Klägerin nicht angelastet werden kann, wenn sie aufgrund der Corona-Beschränkungen in Deutschland ihre christlichen Aktivitäten – ebenso wie andere Christen in Deutschland – nicht wie sonst im gewohnten Umfang nachgehen kann.
Die Klägerin schilderte glaubhaft und ehrlich, wie sie sich nach der Trennung von ihrem Verlobten im Jahr 2016 auch von der christlichen Gemeinde distanziert habe, weil sie jegliche Gesellschaft gemieden habe. Aufgrund ihrer Depressionen habe sie so auch ihre Kirchengemeinde verloren, weil sie sich allgemein isoliert habe.
Die Klägerin hat weiter, wie bereits ausgeführt, ihre physischen und psychischen Erkrankungen einschließlich der Medikationen ausführlich dargelegt und anhand diverser ärztlicher Unterlagen belegt. Sie hat dazu die Auswirkungen dieser Umstände auf ihrer Religionsausübung plausibel geschildert. Die Klägerin beschrieb so, dass die Verlobung in die Brüche gegangen sei. Dies sei für sie eine Niederlage gewesen. Sie habe nicht mehr in Gesellschaft sein wollen. Sie habe Depressionen bekommen. Sie sei es satt gewesen, sich rechtfertigen zu müssen. Gleichwohl habe sie immer fest an Jesus Christus geglaubt, sonst wäre sie wahrscheinlich gestorben. Sie habe immer Ausschau nach christlichen Gemeinden gehalten, egal ob protestantisch oder nicht. Sie habe für sich gebetet und sich christlich verhalten. Trotz der geschilderten Probleme habe sie trotzdem christliche Gemeinden bzw. Kirchen besucht. Sie habe gebetet. Aber sie habe nicht bloß gelesen, sondern sie habe den Glauben ans Christentum. Sie habe ihre christlichen Aktivitäten fortgesetzt. Sie habe regelmäßig die Wallfahrtskirche Maria Heimsuchung (Sandkirche) in der Nähe der Wohnung besucht, um dort zu beten, da dies ein Teil ihrer Religion sei. Dort hätten keine Gottesdienste stattgefunden. Die Kirche sei wegen Corona auch einige Monate geschlossen gewesen. Sie habe seinerzeit auch schon eine Bibel auf Farsi bekommen. Sie sei bei den Baptisten gewesen. Ein Mitglied dieser christlichen Gemeinde habe ihr früher viel geholfen. Jetzt sei sie nicht mehr bei den Baptisten.
Die Klägerin schilderte weiter unter Hinweis auf verschiedene kirchliche Schreiben, dass sie sei seit November 2020 offizielles Mitglied der Evangelisch-Lutherischen Kirche sei, bei der sie im Jahr 2015 bis zur Trennung von ihrem Verlobten auch gewesen sei. Sie gehe einmal in der Woche in die Kirche. Außerdem sei sie übers Internet aktiv, wenn sie nicht arbeite. Es sei ein Online-Bibelkurs über Zoom beim Pfarrer. Vor Corona sei sie zweimal wöchentlich in die Kirche gegangen und zwar in die schon erwähnte Sandkirche. Sie sei allein dorthin gegangen. Dort sei kein Gottesdienst gewesen, weil sie die Gesellschaft gemieden habe. In der Evangelischen Kirche sei es seit zwei/drei Monaten möglich mit Abstandsregeln am Gottesdienst teilzunehmen. Durch die Maske erkenne man sie nicht. Sie gehe hin. Außerdem sei sie in freundschaftlicher Verbindung mit einer Frau, einer Zeugin Jehovas. Diese Frau missioniere. Diese Frau habe auch ihre Schwester missioniert. Und sie selbst, die Klägerin, habe auch ihre Schwester missioniert. Wegen Corona habe sie, die Klägerin, christlich nichts gemeinsam mit ihrer Schwester unternehmen können. Zurzeit normalisiere sich das Ganze. Ihre Schwester besuche eine Klasse. Sie bekomme quasi Privatunterricht. Diese Bibelkurse besuche die Schwester allein. Nur wenn es dringend notwendig sei, etwas zu übersetzen, dann gehe sie mit. Ihre Schwester und sie würden zum Gottesdienst gehen. In ihrer Stadt gebe es auch andere Iraner, die konvertiert sein. Mit denen spreche sie logischerweise auch übers Christentum, ebenso mit einer Frau in Frankfurt. In der Online-Veranstaltung der christlichen Gemeinde spreche man übers Christentum. Sie bekomme auch Bildaufnahmen, teilweise in persischer Übersetzung.
Die Klägerin betonte wiederholt: Der Glaube sei eine Sache des Herzens. Selbst wenn man nichts unternehme, heiße es nicht, dass man den Glauben verloren habe. Sie habe sich selbst stärken wollen. Sie sei für sich in die Kirche gegangen. Sie habe für sich als Christin gelebt. Sie sei von Herzen Christin, auch wenn sie zwischenzeitlich selten in Kirche (Gottesdienste) gegangen sei.
Die Klägerin legte weiter glaubhaft dar, dass sie bei einer (dauerhaften) Rückkehr in den Iran ihre Konversion nicht verheimlichen könnte. Sie stellte klar, dass sie nicht wie ihre Mutter leben wolle und könne. Ein wahrer Christ müsse missionieren können, er müsse in die Kirche gehen können und auch in die christliche Gemeinde gehen können. Sie habe in der ganzen Zeit viel Christliches gemacht, obwohl sie gravierende gesundheitliche Probleme gehabt habe.
Die Klägerin legte so mit ihren Aussagen plausibel dar, dass es für sie ein christliches Bedürfnis sei, christlich leben und christliche Aktivitäten mit Außenwirkung ausüben zu können, wie etwa in die Kirche zu gehen – mit und ohne Gottesdienst und auch bei anderen christlichen Gemeinden. Diese für die Klägerin wesentlichen christlichen Glaubensinhalte und -betätigungen wären bei einer dauerhaften Rückkehr in den Iran nicht möglich.
In dem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass es einer Gläubigen von den deutschen Behörden bzw. Gerichten nicht zugemutet werden kann, bei einer Rückkehr in den Iran von ihrer religiösen Betätigungen Abstand zu nehmen, um nicht verfolgt zu werden (EuGH, U.v. 5.9.2012 – C-71/11 und C-99/11 – ABl. EU 2012, Nr. C 331 S. 5 – NVwZ 2012, 1612).
Ergänzend ist anzumerken, dass einer Gläubigen umgekehrt nicht als Nachteil entgegengehalten werden kann, wenn sie aus Furcht vor einer Verfolgung auf eine Glaubensbetätigung verzichtet, sofern die verfolgungsrelevante Glaubensbetätigung wie hier die religiöse Identität der Schutzsuchenden kennzeichnet. Ein so unter dem Druck der Verfolgungsgefahr erzwungener Verzicht auf die Glaubensbetätigung kann die Qualität einer Verfolgung erreichen und hindert nicht die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (vgl. BVerwG, B.v. 25.8.2015 – 1 B 40.15 – Buchholz 402.25, § 3 AsylVfG Nr. 19, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23/12 – BVerwGE 146, 47, Berlit, juris PR BVerwG 22/2015, Anm. 6 und 11/2013, Anm. 1; Marx, Anm., InfAuslR 2013, 308).
Das Gericht kann nach alledem nicht feststellen, dass die Umstände, die seinerzeit zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft für die Klägerin geführt haben, weggefallen sind oder sich grundlegend geändert haben, geschweige denn, dass beachtlich wahrscheinlich ist, dass die Klägerin bei einem dauerhaften Aufenthalt im Iran und beim zu erwartenden Ausleben ihres christlichen Glaubens mit entsprechender Außenwirkung nicht verfolgt würde.
Das Gericht hat insofern keine Zweifel, so dass es auf die Frage einer möglichen Beweislast hinsichtlich des Vorliegens einer grundlegenden Änderung der Umstände nicht ankommt, wobei die Beklagte nachzuweisen hätte, dass ein Flüchtling auf Dauer sicher zurückkehren kann (Marx, Kommentar zum AsylG, 10. Aufl. 2019 § 13 AsylG Rn. 27 und 45 ff.).
Nach alledem war die Nr. 1 des streitgegenständlichen Bescheides mangels Vorliegens der Widerrufsvoraussetzungen nach § 73 Abs. 1 Satz 1 und 2 AsylG aufzuheben. Infolgedessen besteht auch kein Anlass für eine weitere Entscheidung über die Zuerkennung des subsidiären Schutzes gemäß § 4 AsylG oder über sonstige Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG, so dass die Nrn. 2 und 3 des streitgegenständlichen Bescheides ebenfalls aufzuheben waren (vgl. § 73 Abs. 3 AsylG). Über die hilfsweise gestellten Anträge zum subsidiären Schutz (§ 4 AsylG) bzw. zu den nationalen Abschiebungsverboten (§ 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG) war nicht zu entscheiden.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO, §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.